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Kriminologische Kontrolltheorien auch Bindungs oder Halttheorien genannt unterscheiden sich von anderen Kriminalitatstheorien dadurch dass sie deren Ausgangsfrage umkehren Es geht hierbei nicht um die Frage nach den Ursachen abweichenden und strafbaren Verhaltens Kontrolltheoretiker gehen von der Annahme aus dass kriminelles Verhalten der ursprunglichen Natur des Menschen entspricht und untersuchen weshalb sich die meisten Menschen gleichwohl sozial konform verhalten Ihre Erklarung liegt in der Auspragung innerer und ausserer Kontrolle eines Menschen beziehungsweise seiner Bindungen an die Gesellschaft oder im Vermogen eines Individuums zur Selbstkontrolle Im Umkehrschluss lasst sich durch Selbst Kontroll oder Bindungsdefizite das Auftreten von Kriminalitat erklaren eine weitere Annahme fur konformes Verhalten wird im weitgehend ausgeglichenen Verhaltnis von Kontrollmacht und Kontrollunterworfenheit einer Person gesehen Alle kriminologischen Kontrolltheorien wurden von Forschern aus den Vereinigten Staaten entworfen Fruhe Halttheorien von Albert J Reiss 1951 Francis Ivan Nye 1958 und Walter C Reckless 1961 haben in der Lehrbuch Kriminologie nur noch historische Bedeutung Reiss und Nye stellten kriminalitatshemmenden inneren Halt in den Mittelpunkt ihrer Ansatze Reckless fugte dem inneren Halt das Element des ausseren Halts hinzu Die Bindungstheorie von Travis Hirschi 1969 ist nach wie vor die einflussreichste Kontrolltheorie Darin werden vier Arten von Bindung an die Gesellschaft genannt die normenkonformes Verhalten garantieren 1990 publizierte Hirschi gemeinsam mit Michael R Gottfredson eine Selbstkontrolltheorie die nach Meinung ihrer Verfasser jedwede Kriminalitat und ihre Vermeidung erklarte Diese Theorie fand grosse Beachtung konnte aber den Anspruch eine Allgemeine Kriminalitatstheorie zu sein nicht erfullen Eine neue und untypische Perspektive bot 1995 Charles R Tittle mit seiner Theorie der Kontrollbalance Darin geht es um die Auswirkungen unterschiedlich verteilter Moglichkeiten der Kontrolle uber andere sowie dem Mass des Ausgesetztseins der Kontrolle anderer Nur eine Balance dieser Elemente verspricht aus Sicht der Theorie konformes Verhalten Dieser Ansatz erfullt eher die Anspruche an eine allgemeine Theorie der Kriminalitat als der von Gottfredson und Hirschi Inhaltsverzeichnis 1 Grundannahmen der Kontrolltheorien 2 Halttheorien Containment Theories 2 1 Albert J Reiss 1951 2 2 Francis Ivan Nye 1958 2 3 Walter C Reckless 1961 3 Hirschis Bindungstheorie Causes of Delinquency 3 1 Aussagen der Bindungstheorie 3 2 Kriminologische Rezeption 4 Selbstkontrolltheorie A General Theory of Crime 4 1 Aussagen der Selbstkontrolltheorie 4 2 Kriminologische Rezeption 5 Theorie der Kontrollbalance Control Balance Toward a General Theory of Deviance 5 1 Aussagen der Kontrollbalancetheorie 5 2 Kriminologische Rezeption 6 Literatur 6 1 Primarliteratur 6 2 Sekundarliteratur 7 Weblinks 8 EinzelnachweiseGrundannahmen der Kontrolltheorien Bearbeiten The question Why do they do it is simply not the question the theory is designed to answer The question is Why don t we do it deutsch Die Frage Warum tun sie das ist einfach nicht die Frage auf die die Theorie eine Antwort geben soll Die Frage ist Warum tun wir es nicht Travis Hirschi Causes of Delinquency 1969 1 dd Kriminologische Kontrolltheorien setzen einen Werte und Normenkonsens voraus an den die Mitglieder des jeweiligen Gemeinwesens mehr oder weniger stark gebunden sind Sie setzen aber auch voraus dass es eine generelle menschliche Neigung zu Handlungen gibt die gegen diesen Konsens verstossen Der Grund dafur ist dass solche Handlungen besonders attraktiv sein konnen und sich viele Gelegenheiten fur sie bieten 2 Damit orientieren sie sich unter Zuruckweisung der positivistischen Kriminalitatstheorien des 20 Jahrhunderts an den klassischen Ansatzen von Thomas Hobbes Jeremy Bentham und Cesare Beccaria Entsprechend ist der Mensch nicht von Natur aus gut sondern vorrangig auf die Befriedigung seiner Bedurfnisse und die Vermeidung von Schmerz und Leid aus 3 Kontrolltheoretiker interessieren sich laut Karl Ludwig Kunz und Tobias Singelnstein in erster Linie dafur wie der Appetit nach unkonventioneller krimineller Bedurfnisbefriedigung innerhalb der breiten Mehrheit der Gesetzestreuen gezugelt werde Erklarungsbedurftig sei somit nur die Zuruckhaltung der Normkonformen beim Ausleben krimineller Impulse Das sei fur eine Kriminalitatstheorie durchaus revolutionar da Kriminalitat in dieser Wahrnehmungsperspektive keiner Erklarung mehr bedurfe 4 Halttheorien Containment Theories BearbeitenDie in kriminologischen Lehrbuchern aufgefuhrten fruhen Vertreter der Kontrolltheorie formulierten Erklarungsansatze die mit der von Reckless verwendeten Bezeichnung Containment Theory Eindammungstheorie oder Halttheorie charakterisiert sind Sie beschreiben wodurch Impulse zum abweichenden Verhalten in Schach gehalten werden Diese alteren Theorien werden in den Lehrbuchern allenfalls kursorisch abgehandelt oft wird auch nur Reckless genannt 5 oder ganz auf ihre Darstellung verzichtet 6 Albert J Reiss 1951 Bearbeiten Albert J Reiss publizierte 1951 in der Zeitschrift American Sociological Review eine erste kriminologische Halttheorie 7 Danach hangt sozial konformes Verhalten massgeblich vom Einfluss intakter Beziehungen zwischen Kindern und Eltern sowie der elterlichen Erziehung ab Abweichendes Verhalten ist demnach Resultat eines Versagens der Familie als wichtigster Primargruppe des Erziehungsprozesses Wenn es nicht gelingt dem Kind seine soziale Rolle verbindlich zu vermitteln und ihm beizubringen diese mit seinen Bedurfnissen in Einklang zu bringen steigt die Wahrscheinlichkeit von Abweichung Der Theorieansatz greift auf psychoanalytische Kategorien zuruck Soziale Abweichung hangt demnach mit schwach entwickelten Ich und Uberich Instanzen zusammen Es fehlt der innere Halt und damit die Immunisierung gegen kriminelle Versuchungen 8 Francis Ivan Nye 1958 Bearbeiten Ahnlich argumentiert der Familiensoziologe Francis Ivan Nye 1958 in seiner Monographie Family Relations and Delinquent Behavior 9 Der potenziell in allen Menschen lauernde Hang zum Verbrechen sei mit vier Formen der Kontrolle einzuhegen direkter Kontrolle wie Zwang und Strafe internalisierter Kontrolle die das Gewissen ausubt indirekter Kontrolle durch affektive Identifikation mit Eltern und anderen nichtkriminellen Personen sowie der Verfugbarkeit von alternativen Mitteln zur Erreichung von Zielen 10 Walter C Reckless 1961 Bearbeiten Mit der dritten Auflage seines Buches The crime problem 11 publizierte Walter C Reckless 1961 die Containment Theory Er stellt dem Selbstkonzept innerer Halt den ausseren Halt zur Seite den das Individuum durch Familie Freunde und Bekannte erfahrt Dabei greift er auf Erkenntnisse der Chicagoer Schule der Soziologie zuruck der er selbst angehorte Aus deren Konzept der sozialen Desorganisation und Personlichkeitseigenschaften entwickelte er seine Eindammungstheorie Als kriminogene also kriminalitatsfordernde Faktoren identifiziert er soziale Zwange pushes und soziale Anreize pulls Soziale Zwange sind soziale Ungleichheit und die daraus erwachsenen verringerten sozialen Chancen Zu den sozialen Anreizen zahlen Faktoren die einen Menschen von seinen taglichen Routinen abbringen und dazu bewegen andere Lebensstile zu wahlen Dazu gehoren einflussreiche Abweichler aus dem Bekanntenkreis sowie delinquente Subkulturen Vor dem Einfluss solcher Faktoren schutzen Barrieren die als Eindammungsmechanismen bezeichnet werden Das sind Familien und soziale Gruppen die positive gesellschaftliche Werte vermitteln Die nachste Barriere ist der innere Eindammungsfaktor das Bewusstsein Delinquenzverhindernd sind ein starkes Selbstwertgefuhl und entwickeltes Selbstbewusstsein hohe Frustrationstoleranz sowie ein ausgepragtes Verantwortungsgefuhl 12 Hirschis Bindungstheorie Causes of Delinquency BearbeitenAussagen der Bindungstheorie Bearbeiten Mit seiner Monographie Causes of Delinquency 13 legte Travis Hirschi 1969 die bislang einflussreichste Kontrolltheorie vor Darin wird die Annahme ausgearbeitet dass soziale Bindungen social bonds Menschen von kriminellen Handlungen abhalten 14 Als Elemente solcher sozialen Bindungen nennt Hirschi attachment commitment involvement und belief 15 Das bedeutet 16 Attachment to meaningful persons emotionale Bindung des Individuums an relevante Bezugspersonen Diese Bindung fuhrt dazu dass sich der Mensch bewusst und unbewusst am Verhalten der Bezugspersonen orientiert und in seinem Handeln deren Interessen Bedurfnisse und Erwartungen berucksichtigt Commitment to conventional goals die Orientierung der Lebensplanung des Individuums an konventionellen Zielen wie etwa beruflichem Erfolg und Sicherheit Das schliesst auch die Abwagung ein was personlich durch abweichendes Verhalten zu gewinnen oder zu verlieren ware Involvement in conventional activities zeitliche und raumliche Eingebundenheit des Individuums in konventionelle Aktivitaten wie Schule Arbeit strukturierte Freizeitgestaltung Mangels Zeit und Gelegenheit bleibt abweichendes Verhalten aus Belief in social rules Ubereinstimmung des Individuums mit den gesellschaftlichen Normen und Werten Je starker diese Elemente der Bindung an die Gesellschaft ausgepragt sind desto wahrscheinlicher ist konformes Verhalten Die Elemente sind eng miteinander verbunden die Schwachung eines davon fuhrt auch zur Schwachung der anderen Bezogen auf die Vermeidung von Jugendkriminalitat folgert Hirschi 17 Jugendliche verhalten sich weniger abweichend je mehr sie in ihre Familie eingebunden sind je besser ihre schulischen Leistungen sind und je mehr sie in konforme Strukturen eingebettet sind unabhangig vom abweichenden Verhalten gleichaltriger Bekannter peers Es gibt keine signifikante kausale Verbindung zwischen sozialer Klasse und Kriminalitat Kriminologische Rezeption Bearbeiten Frank Neubacher zahlt Hirschis Bindungskonzept zum Kernbestand kriminologischer Theorien 18 Auch fur Michael Bock ist sie von bleibender Bedeutung weil sie wesentliche Befunde der alteren kriminologischen Forschung integriert hat 19 Ahnlich werten Karl Ludwig Kunz und Tobias Singelnstein Das Bindungskonzept sei ein oberflachlich wirkendes Allerweltsmodell und allgemein genug um eine Vielzahl personlichkeits und sozialisationstheoretischer Annahmen zu integrieren Die Integrationskraft und leichte Uberprufbarkeit der Theorie habe ihr zu grosser Beachtung und Akzeptanz verholfen 20 Nach der Veroffentlichung von Causes of delinquency haben zahlreiche Forschungsarbeiten Hirschis Konzept empirisch uberpruft In diesen Studien wurde der Zusammenhang der vier Bindungs Elemente mit verschiedenen Formen kriminellen Handelns bestatigt Allerdings waren die ermittelten Zusammenhange fur leichte Kriminalitat nur massig und fur schwerere Kriminalitat gering Somit scheint Hirschis Bindungstheorie eher in der Lage zu sein leichtere Formen kriminellen Handelns zu erklaren als schwerere Einige Untersuchungen fuhrten ausserdem zum Ergebnis dass Jugendliche vor allem dann kriminelle Handlungen ausfuhren wenn sie an Gleichaltrigengruppen gebunden sind die dies ebenfalls tun dass sie jedoch konform handeln wenn sie an Gleichaltrigengruppen gebunden sind in denen konforme Handlungen ublich sind Das widerspricht den Annahmen Hirschis und ist im Sinne seiner Theorie eine Anomalie 21 Wolfgang Stelly und Jurgen Thomas weisen darauf hin dass Causes of delinquency zwar als allgemeine Kriminalitatstheorie konzipiert ist die Operationalisierung und empirische Uberprufung seines Bindungskonzepts von Hirschi jedoch nur fur das Kindes und Jugendalter erfolgt sei Eine Erklarung fur Kontinuitat oder Veranderungen von Kriminalitat im weiteren Lebenslauf finde sich bei ihm nicht 22 Selbstkontrolltheorie A General Theory of Crime BearbeitenAussagen der Selbstkontrolltheorie Bearbeiten nbsp Michael R Gottfredson It is meant to explain all crime at all time and for that matter many forms of behavior that are not sanctioned by the state deutsch Es sollen alle Verbrechen zu jeder Zeit erklart werden auch viele Verhaltensweisen die vom Staat nicht sanktioniert werden Michael R Gottfredson und Travis Hirschi A General Theory of Crime 1990 23 dd Mit A General Theory of Crime legten Gottfredson und Hirschi 1990 eine Theorie vor die den Anspruch hat Kriminalitat in der kulturubergreifenden Ganzheit ihrer Erscheinungsformen zu erfassen 24 Ausdrucklich ist sie als originar kriminologischer Ansatz gedacht auf den in dieser Wissenschaftsdisziplin gewohnten Ruckgriff auf die Bezugsdisziplinen Biologie Psychologie Okonomie und Soziologie wird deshalb verzichtet weil derartige Theoriebildung zu sehr den Ursprungsdisziplinen verhaftet sei und keine dem Forschungsgegenstand adaquate Perspektive erlaube Das von Gottfredson und Hirschi postulierte Wesen von Kriminalitat unterscheidet sich erheblich von den traditionellen Erklarungen Ihr Kriminalitatsbegriff geht weit uber die ubliche Definition hinaus und umfasst Delinquenz Devianz und riskanten Lebensstil Kriminelle Handlungen in diesem weiten Sinne haben laut der Theorie die Merkmale Sie versprechen sofortige und leichte Belohnung beispielsweise Geld ohne Arbeit oder Sex ohne Partnerschaft Sie enthalten Eigenschaften milieutypischer traditioneller Mannlichkeitsvorstellungen wie etwa Aggressivitat Korperbetontheit und Risikobereitschaft Sie haben nur geringen Langzeitnutzen Sie erfordern nur geringe kognitive Anstrengungen und geringen manuellen Aufwand Sie sind fur das Opfer mit der Zufugung von Schmerz und Unbehagen verbunden Sie bergen auch das Risiko als Tater Schmerzen zu erleiden Personen mit grosserer Schmerztoleranz seien daher unabhangig vom Grad ihrer Selbstkontrolle mit grosserer Wahrscheinlichkeit in Verbrechen verwickelt Sie erleichtern es bei momentaner Verwirrung oder kognitiver Uberforderung als belastend empfundene Situationen zunachst zufriedenstellend zu verarbeiten Subjektiv besteht bei kriminellen Handlungen meist ein geringes Bestrafungsrisiko Das Wesen der Kriminalitat wird damit allein durch einen Mangel an Selbstkontrolle bestimmt im Umkehrschluss ergibt sich daraus die ausschliessliche Antwort auf die Frage wie und warum Menschen von derartigen Handlungen zuruckgehalten werden Selbstkontrolle im Sinne der Theorie hat folgende Eigenschaften Sie ist das Ergebnis eines Zusammenspiels von Veranlagung und Erziehung Je weniger Selbstkontrolle angeboren ist desto mehr Erziehung ist notig Sie ist ein stabiles Personlichkeitsmerkmal Weil jeder Mensch nach Kurzzeitbefriedigung strebt ist Selbstkontrolle primar die Fahigkeit die Langzeitfolgen einer Handlung zu berucksichtigen Kriminalitat ist Ausdruck mangelnder Selbstkontrolle Uberbetonung von Kurzzeitbefriedigung Mangelnde Selbstkontrolle ist eine notwendige doch keine hinreichende Voraussetzung fur kriminelles Handeln Wichtig sei zudem eine in Versuchung fuhrende Tatgelegenheit Menschen die nicht uber ausreichend Selbstkontrolle verfugen neigen laut Gottfredson und Hirschi zu Impulsivitat geringer Sensibilitat zu eher korperlichen als geistigen Qualitaten zur kurzsichtiger Risikobereitschaft und massigem sprachlichen Ausdrucksvermogen Da diese Merkmale schon in einem Alter festgestellt werden konnen in dem Individuen fur kriminelle Handlungen noch nicht offiziell zur Verantwortung gezogen werden kann im Kindesalter noch durch Erziehung in Familie und Schule gegengesteuert werden Bedingungen dafur sind Kindliches Verhalten wird beaufsichtigt abweichendes Verhalten wird bei seinem Auftreten als solches identifiziert abweichendes Verhalten wird effektiv bestraft Eine solche Erziehung sei in intakten Kleinfamilien am ehesten gewahrleistet Zudem wird empfohlen unuberwachte Aktivitaten von Jugendlichen zu beschranken Eine spatere Starkung des Selbstkontrollvermogens ist laut Gottfredson und Hirschi nicht mehr moglich geringe Selbstkontrolle und damit die Neigung zu kriminellem Handlungen bleibe lebenslang erhalten Kriminologische Rezeption Bearbeiten Die Theorie fand in den zuruckliegenden Jahren grosse Beachtung was laut Frank Neubacher angesichts des selbstgesteckten Ziels eine allgemein gultige Theorie der Kriminalitat zu prasentieren nicht verwundert Das anspruchsvolle Vorhaben wecke Erwartungen die enttauscht wurden Die Theorie sei sicherlich keine umfassende sie vermoge bestenfalls Ausschnitte des Kriminalitatsgeschehens zu erklaren nicht jedoch Wirtschaftskriminalitat oder die Kriminalitat der Machtigen Zudem sei die in der Theorie unterstellte Kontinuitat des Problemverhaltens kaum mit den Befunden der kriminologischen Lebenslaufforschung in Einklang zu bringen 25 Laut Kunz und Singelnstein basiert die Theorie auf einem neokonservativen Gesellschaftsmodell Ihm entspreche eine puritanische Ethik die spontane Triebbefriedigung verdammt und Bedurfnisaufschub propagiert Das Modell fur das Individuum sei ein angepasster in seinen Trieben gezahmter und sich selbst disziplinierender Mensch der sich die Massstabe elterlicher Erziehung zu eigen macht Die Verantwortung fur sozial unerwunschtes und kriminelles Verhalten wurde im Wesentlichen den Eltern aufgeburdet und damit die Gesellschaft von Verantwortung fur Asozialitat entlastet Kriminalpolitik reduziere sich damit auf die Verhinderung krimineller Gelegenheiten 26 Mehrere Rezipienten in den USA bemangelten dass solche Tatgelegenheiten zwar eine wichtige Rolle im Konzept von Gottfredson und Hirschi spielen im Rahmen der Theorie jedoch vernachlassigt wurden 27 Fur Wolfgang Stelly und Jurgen Thomas wirft die Theorie die Frage auf Welche Auffalligkeiten sind Ausdruck einer geringen Selbstkontrolle und welche nicht Gottfredson und Hirschi wurden diese Frage nur mit der Aufzahlung verschiedener Auffalligkeiten beantworten Damit werde nicht nur der Zusammenhang von Ursache und Wirkung sehr unscharf sondern der Erklarungsansatz bekomme tautologische Zuge Soziale Auffalligkeiten wurden mit einer niedrigen Selbstkontrolle erklart die in diesen sozialen Auffalligkeiten uberhaupt erst erkennbar sei 28 Den Vorwurf der Tautologie hatte der US Kriminalsoziologe Ronald L Akers bereits ein Jahr nach Erscheinen der General Theory of Crime erhoben 29 Theorie der Kontrollbalance Control Balance Toward a General Theory of Deviance BearbeitenAussagen der Kontrollbalancetheorie Bearbeiten Mit Control Balance Toward a General Theory of Deviance 30 legte Charles R Tittle 1995 eine Theorie vor in deren Mittelpunkt die Kontroll Ratio steht 31 Diese ergibt sich fur jede Person individuell aus dem Verhaltnis zwischen dem Grad seiner Moglichkeiten zur Kontrollausubung uber andere Autonomie und dem Grad der Kontrolle der er selbst ausgesetzt ist Repression Nur bei halbwegs ausgeglichener Kontroll Ratio ist demnach konformes Verhalten zu erwarten Bei gestorter Kontrollbalance ist dagegen mit kriminellen Handlungen zu rechnen Solche Unausgeglichenheit kann sowohl aus einem Uberschuss als auch aus einem Defizit an Kontrolle bestehen Personen mit hohem Sozialstatus verfugen uber einen Uberschuss von Kontrollmoglichkeiten bei weitgehendem Fehlen von Kontrollunterworfenheit Ihre als selbstverstandlich erlebte Machtfulle birgt die Gefahr sie missbrauchlich auszunutzen Das kann sich in Kapital akkumulierenden Vermogens und Eigentumsdelikten niederschlagen doch auch in hauslicher und sexueller Gewalt gegenuber Kindern oder alteren pflegebedurftigen Menschen Personen mit niedrigem Sozialstatus haben dagegen ein Kontrolldefizit das mit Ohnmachtsgefuhlen und mangelndem Selbstwert einhergeht Mit starker Kontrollunterworfenheit und gleichzeitigem Mangel an eigenen Kontrollmoglichkeiten steigt die Wahrscheinlichkeit kriminellen Verhaltens In der Theorie wird nicht davon ausgegangen dass die Wahrscheinlichkeit strafbaren Handelns mit der Intensitat der Kontrollunausgeglichenheit zunimmt Vielmehr wird angenommen dass eine stark gestorte Kontrollbalance eher pathologisch deutbare Devianzformen begunstigt Geringere Unausgeglichenheit veranlasse dagegen eher zu rational motivierten Abweichungen etwa Bereicherungshandlungen von wenig Bemittelten Ist die Repression stark fuhrt das zu unterwurfigem und resignativem Verhalten wie etwa Duldung von Missbrauch passive Hinnahme von sexueller Belastigung Kriminologische Rezeption Bearbeiten Laut Michael Bock liegt die Starke der Kontrollbalancetheorie darin dass mit einem einheitlichen und einfachen Grundmuster eine Vielzahl von Kriminalitatserscheinungen erklarbar ist Im Gegensatz zu anderen Kontrolltheorien besitze der Ansatz Tittles den Vorteil die Kriminalitat der Machtigen die Wirtschaftskriminalitat und politische Straftaten mehr als bisher in die kriminologische Untersuchung einzubeziehen 32 Kunz und Singelnstein schreiben der Kontrollbalancetheorie eine gesellschaftspolitische Position zu die sich vom konservativen Standpunkt der traditionellen Bindungstheorien abhebt Jenseits der kriminalpolitischen Interventionen geht es darum die Voraussetzungen fur eine egalitare republikanische Gesellschaft zu schaffen die soziale Macht und Einkommen umverteilt Kontrolle gleichformiger und menschenwurdiger anwendet und kommunitarisch Bindungen unter dem Vorzeichen des Machtgleichgewichts fordert 33 Literatur BearbeitenPrimarliteratur Bearbeiten Albert J Reiss Delinquency as the failure of personal and social controls In American Sociological Review 16 Jahrgang Heft 2 April 1951 S 196 207 JSTOR 2087693 Francis Ivan Nye Family Relations and Delinquent Behavior Wiley New York 1958 Walter C Reckless The crime problem 3 Auflage Appleton Century Crofts New York 1961 Travis Hirschi Causes of Delinquency University of California Press Berkeley 1969 Michael R Gottfredson und Travis Hirschi A General Theory of Crime Stanford University Press Stanford 1990 ISBN 0 8047 1773 7 Charles R Tittle Control Balance Toward a General Theory of Deviance Westview Press Boulder 1995 ISBN 0 8133 2631 1 Sekundarliteratur Bearbeiten Michael Bock Kriminologie Fur Studium und Praxis 4 Auflage Franz Vahlen Munchen 2013 ISBN 978 3 8006 4705 7 Stefanie Eifler Kriminalsoziologie Transcript Bielefeld 2002 ISBN 3 933127 62 9 Helmut Janssen und Friedhelm Peters Kriminologie fur Soziale Arbeit Votum Munster 1997 ISBN 978 3 930405 36 7 Karl Ludwig Kunz und Tobias Singelnstein Kriminologie Eine Grundlegung 7 grundlegend uberarbeitete Auflage Haupt Bern 2016 ISBN 978 3 8252 4683 9 Siegfried Lamnek und Susanne Vogl Theorien abweichenden Verhaltens II Moderne Ansatze 4 Auflage UTB W Fink Stuttgart 2017 ISBN 978 3 8385 4722 0 Tilmann Moser Jugendkriminalitat und Gesellschaftsstruktur Zum Verhaltnis von soziologischen psychologischen und psychoanalytischen Theorien des Verbrechens Suhrkamp Frankfurt am Man 1987 ISBN 978 3 518 37972 1 Frank Neubacher Kriminologie 3 Auflage Nomos Baden Baden 2017 ISBN 978 3 8487 3036 0 Hans Dieter Schwind Kriminologie und Kriminalpolitik Eine praxisorientierte Einfuhrung mit Beispielen 23 Auflage Kriminalistik Heidelberg 2016 ISBN 978 3 7832 0047 8 Wolfgang Stelly Jurgen Thomas Einmal Verbrecher immer Verbrecher Westdeutscher Verlag Wiesbaden 2001 ISBN 3 531 13665 8 Weblinks BearbeitenChristian Wickert Kontrolle SozTheo Einzelnachweise Bearbeiten Travis Hirschi Causes of delinquency University of California Press Berkeley 1969 S 34 Stefanie Eifler Kriminalsoziologie Transcript Bielefeld 2002 S 44 Siegfried Lamnek Susanne Vogl Theorien abweichenden Verhaltens II Moderne Ansatze 4 Auflage UTB W Fink Stuttgart 2017 S 97 Karl Ludwig Kunz und Tobias Singelnstein Kriminologie Eine Grundlegung 7 grundlegend uberarbeitete Auflage Haupt Bern 2016 S 129 So beispielsweise bei Karl Ludwig Kunz und Tobias Singelnstein Kriminologie Eine Grundlegung 7 grundlegend uberarbeitete Auflage Haupt Bern 2016 S 130 So beispielsweise bei Michael Bock Kriminologie Fur Studium und Praxis 4 Auflage Franz Vahlen Munchen 2013 S 50 Im Abschnitt Bindungs und Kontrolltheorien nennt Bock an erster Stelle Die ursprungliche Theorie der vier Bindungen von Travis Hirschi Albert J Reiss Delinquency as the Failure of Personal and Social Controls In American Sociological Review 16 Jahrgang Heft 2 April 1951 S 196 207 JSTOR 2087693 Hans Dieter Schwind Kriminologie Eine praxisorientierte Einfuhrung mit Beispielen 18 Auflage Kriminalistik Heidelberg 2008 S 116 Francis Ivan Nye Family Relations and Delinquent Behavior Wiley New York 1958 Tilmann Moser Jugendkriminalitat und Gesellschaftsstruktur Suhrkamp Frankfurt am Main 1987 S 154 Walter C Reckless The crime problem 3 Auflage Appleton Century Crofts New York 1961 Helmut Janssen und Friedhelm Peters Kriminologie fur Soziale Arbeit Votum Munster 1997 S 84 f Travis Hirschi Causes of delinquency University of California Press Berkeley 1969 Stefanie Eifler Kriminalsoziologie Transcript Bielefeld 2002 S 45 Travis Hirschi Causes of delinquency University of California Press Berkeley 1969 S 16 ff In der Darstellung von Wolfgang Stelly und Jurgen Thomas Einmal Verbrecher immer Verbrecher Westdeutscher Verlag Wiesbaden 2001 S 62 In der Darstellung von Helmut Janssen und Friedhelm Peters Kriminologie fur Soziale Arbeit Votum Munster 1997 S 88 Frank Neubacher Kriminologie 3 Auflage Nomos Baden Baden 2017 S 101 Michael Bock Kriminologie Fur Studium und Praxis 4 Auflage Franz Vahlen Munchen 2013 S 51 Karl Ludwig Kunz und Tobias Singelnstein Kriminologie Eine Grundlegung 7 grundlegend uberarbeitete Auflage Haupt Bern 2016 S 131 Stefanie Eifler Kriminalsoziologie Transcript Bielefeld 2002 S 46 f Wolfgang Stelly und Jurgen Thomas Einmal Verbrecher immer Verbrecher Westdeutscher Verlag Wiesbaden 2001 S 62 f Michael R Gottfredson und Travis Hirschi A General Theory of Crime Stanford University Press Stanford 1990 S 117 Die Darstellung der Theorie beruht auf Siegfried Lamnek und Susanne Vogl Theorien abweichenden Verhaltens II Moderne Ansatze 4 Auflage UTB W Fink Stuttgart 2017 S 96 134 Frank Neubacher Kriminologie 3 Auflage Nomos Baden Baden 2017 S 103 f Karl Ludwig Kunz und Tobias Singelnstein Kriminologie Eine Grundlegung 7 grundlegend uberarbeitete Auflage Haupt Bern 2016 S 161 Stefanie Eifler Kriminalsoziologie Transcript Bielefeld 2002 S 64 Wolfgang Stelly und Jurgen Thomas Einmal Verbrecher immer Verbrecher Westdeutscher Verlag Wiesbaden 2001 S 110 Ronald L Akers Self Control as a General Theory of Crime In Journal of Quantitative Crim amp ology 7 Jahrgang Heft 2 1991 S 201 211 hier S 210 Charles R Tittle Control Balance Toward a General Theory of Deviance Westview Press Boulder 1995 Die Darstellung der Theorie beruht auf Michael Bock Kriminologie Fur Studium und Praxis 4 Auflage Franz Vahlen Munchen 2013 S 51 f sowie Karl Ludwig Kunz und Tobias Singelnstein Kriminologie Eine Grundlegung 7 grundlegend uberarbeitete Auflage Haupt Bern 2016 S 135 ff Michael Bock Kriminologie Fur Studium und Praxis 4 Auflage Franz Vahlen Munchen 2013 S 51 Karl Ludwig Kunz und Tobias Singelnstein Kriminologie Eine Grundlegung 7 grundlegend uberarbeitete Auflage Haupt Bern 2016 S 136 f nbsp Dieser Artikel wurde am 12 Marz 2018 in dieser Version in die Liste der lesenswerten Artikel aufgenommen Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Kriminologische Kontrolltheorie amp oldid 200454640