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In dem 1944 erschienenen Buch The Great Transformation engl dt Grosse Umformung oder Grosse Transformation behandelt der ungarisch osterreichische Wirtschaftssoziologe Karl Polanyi 1944 den tiefgreifenden Wandel der westlichen Gesellschaftsordnung im 19 und 20 Jahrhundert vorwiegend am historischen Beispiel Englands als die Industrialisierung und politisches Handeln oder besser Nicht Handeln zu starken sozialen und wirtschaftlichen Veranderungen fuhrten Die beiden wesentlichen Momente des sakularen Wandels waren nach Polanyi die Herausbildung von Marktwirtschaften und von Nationalstaaten Er nahm zwischen beiden Phanomenen eine starke Wechselwirkung an und nannte diesen Komplex die market society die Marktgesellschaft Der Ausdruck Great Transformation bezieht sich bei Polanyi auf die Transformation die mit dem Scheitern der Marktordnung in den 1920er Jahren beginnt 1 Inhaltsverzeichnis 1 Verselbststandigung der Okonomie 2 Vorwurf der Fehleinschatzung an liberale Okonomen und Philosophen 3 Herausbildung von Nationalstaaten 4 Doppelbewegung 5 Rezeption 6 Weblinks 7 Literatur 8 EinzelnachweiseVerselbststandigung der Okonomie BearbeitenPolanyi bezeichnete diese zunehmende Marktorientierung als eine Verselbstandigung der Wirtschaft gegenuber der Gesellschaft Begonnen habe dieser Prozess mit der zunehmenden Einfriedung von Grundstucken durch Grossgrundbesitzer Dies entzog Landbewohnern haufig die Mittel fur einen eigenstandigen Lebensunterhalt und zwang sie weiter in die Marktgesellschaft Die uniforme Agrikultur wurde abgelost durch eine differenzierte Landwirtschaft in der die Weidewirtschaft dominiert und die zur dynamischen Entwicklung der Wollverarbeitung fuhrte 2 Tatsachlich gelang es aber im 16 und fruhen 17 Jahrhundert der Krone der Spitze der Verwaltung und den Gerichten diesen Prozess so zu verlangsamen dass seine disruptiven Folgen weitgehend vermieden werden konnten z B indem die Bauern eine wollverarbeitende Heimindustrie aufbauten Das paternalistische Handeln des Staates unter den Tudors und den fruhen Stuarts reprasentierte nach Polanyi ein hohes Niveau der Staatskunst die sich moderner statistischer Methoden bediente doch das Parlament entriss der Krone die Macht und liess 150 Jahre spater zu dass durch den freien Seehandel und die Baumwolleinfuhr eine Katastrophe in Form der industriellen Revolution das Leben und Wohlergehen auf dem Lande bedrohte und das Landvolk zu Slumbewohnern der Industriestadte dehumanisiert wurde 3 Den Ausgangspunkt dieser Transformation sah Polanyi im Jahre 1834 als die britische Regierung das 1795 erlassene Speenhamland Gesetz abschaffte welches das Problem der Armut der Landbevolkerung losen sollte aber auch den Erwerbsdruck abmilderte Polanyi bezeichnete diesen Prozess als Entbettung und wies ausdrucklich auf eine Parallele zur Durchsetzung von Marktmechanismen und Lohnarbeit bei Kolonialvolkern hin Nachdem man bereits parallel zur Einfuhrung des Gesetzes 1794 die Freizugigkeit der Einwohner durchgesetzt hatte war dem freien Arbeitsmarkt fur die aufstrebende Industrie der Weg geebnet Arbeiter konnten sich innerhalb des Landes frei bewegen und der Lohn war nicht mehr durch die Quasi Zahlung von Lohnzuschussen an Fabrikanten verzerrt Hunger und Mangel trieben jetzt die ehemaligen Kleinbauern und Landarbeiter in die Fabriken Polanyi bewertete dies als die Einfuhrung eines freien Arbeitsmarkts Die Einfriedungen durch die Grossgrundbesitzer fuhrten auch zur Verwandlung des Bodens in ein frei handelbares Gut Mit der Warenfiktion von Arbeit Boden und Geld entstand die zerstorerische Wirkung der Marktutopie als Transformation der naturlichen und menschlichen Substanz der Gesellschaft in Waren Das traditionelle feudale und standische System musste sich in kurzester Zeit an die Folgen der Industrialisierung anpassen Darin erkannte Polanyi den Wandel von der Agrargesellschaft mit dem Motiv des Lebensunterhaltes und der Dominanz der standischen Kollektive hin zu einer Marktgesellschaft in der ein individuelles Streben nach Gewinn und eine Maximierung des Eigennutzens dominierten Den gesellschaftlichen Umbruch der Grossen Transformation erklarte Polanyi also nicht durch den evolutionaren Selbstlauf sondern durch die politisch gewollte Einfuhrung freier Markte fur die von ihm so bezeichneten fiktiven Waren Arbeit Grund und Boden und Geld So war der industrielle und wirtschaftliche Fortschritt mit wachsender sozialer Ungleichheit verbunden Im System der Marktwirtschaft verselbstandigen sich die Strukturen und Regeln der Wirtschaft gegenuber den Strukturen und Regeln des sozialen Zusammenhalts Wirtschaftliche Tauschprozesse wurden unabhangig von sozialen Beziehungen externalisierte Okonomie soziale Prozesse wurden abhangig von wirtschaftlicher Zweckmassigkeit Das Wirtschaften war nun nicht mehr in feudale und zunftige Strukturen eingelassen sondern umgekehrt wurden die sozialen und Arbeitsbeziehungen in ein System von Markten eingebettet dadurch wurde Geld erst zu Kapital 4 Ein derartiger ausufernder Materialismus in einer Marktgesellschaft lauft nach Polanyi dem Wesen der Gesellschaft entgegen und bildet eine existenzielle Bedrohung Die zerstorerische Macht dieser Entwicklung zeige sich dabei nicht so sehr in einem materiellen Mangel oder in den elenden Arbeitsbedingungen dieser Zeit sondern in einer kulturellen und sozialen Verwahrlosung Vorwurf der Fehleinschatzung an liberale Okonomen und Philosophen BearbeitenPolanyi weist darauf hin dass der emotionale Glaube an die Spontaneitat des Marktes und die mystische Bereitschaft die sozialen Konsequenzen okonomischer Verbesserungen gleich welcher Art hinzunehmen die Philosophen und Okonomen vergessen liess dass ein Prozess ungelenkten Wandels verlangsamt werden sollte Dieses Alltagswissen das auch auf den Erkenntnissen der traditionellen Sozialphilosophie basierte sei im 19 Jahrhundert zuerst diskreditiert aus den Gedanken der gebildeten Eliten ausradiert und durch ein unkritisches Vertrauen in die Selbstheilungskrafte des Marktes und einen kruden Utilitarismus ersetzt worden 5 Die Rolle des Staates und der Regierung bestehe in der Moglichkeit das Tempo dieser Transformation zu beeinflussen Die Vorstellung das Tempo sei nicht zu verandern oder es sei sogar ein Sakrileg es zu verandern fuhre zur Untatigkeit gegenuber dem verheerenden und degenerativen Prozess und ignoriere die fatalen physischen und moralischen Schaden der Enteigneten 6 Herausbildung von Nationalstaaten BearbeitenWirtschaftliche Interessen forderten nach Polanyi die Herausbildung von Nationalstaaten als homogene Binnenmarkte und veranderten die politische Ordnung wie Polanyi am Beispiel Grossbritanniens auffuhrt Er begrundete dies mit dem Bedarf der Volkswirtschaften an einem starken modernen Staat da nur dieser die notwendigen Reformen in den Sozialstrukturen umsetzen konne um die gravierenden sozialen Auswirkungen des Kapitalismus aufzuhalten bzw abzuschwachen Hohepunkt des Aufstieges der Marktwirtschaft war fur Polanyi die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg mit internationalem Frieden durch die vier Einrichtungen Kraftegleichgewicht Goldstandard selbstregulierender Markt und liberaler Staat Als jedoch der Goldstandard als fester Umrechnungsmassstab der internationalen Wahrungen Anfang der 1930er Jahre schrittweise aufgegeben wurde war der Zusammenbruch der liberalen Marktgesellschaft den Polanyi konstatierte beinahe nur noch eine Frage der Zeit Demgegenuber pladierte Polanyi im Schlusskapitel fur einen Sozialismus der Arbeit Boden und Geld dem Markt entziehe und demokratisch kontrolliere Doppelbewegung BearbeitenPolanyi beschreibt die Durchsetzung eines selbstregulierenden Marktes und die Kommerzialisierung von Land Kapital und Arbeit als frivoles Experiment Es fuhre zu sozialer Desintegration und zur Aufgabe humaner Werte durch einen individualistischen Materialismus Alle fruheren Gesellschaften hatten sich gegen die von freien Markten ausgehende Unsicherheit und moralische Degradierung zur Wehr gesetzt Die wirtschaftliche Liberalisierung habe daher von Beginn an als Doppelbewegung stattgefunden da sie unverzuglich Gegenbestrebungen der Gesellschaft zur Regulierung des Marktes ausloste Die okonomischen Krisen und politischen Umwalzungen der ersten Halfte des 20 Jahrhunderts seien Erscheinungsformen solcher Doppelbewegung Der Faschismus habe vergeblich versucht die Gesellschaft per Gewalt und Demagogie an die Erfordernisse des Kapitalismus anzupassen Zukunftige Freiheit erfordere wirtschaftliche Planung Regulierung und Kontrolle auf Basis bindender moralischer Werte und Pflichten 7 Rezeption BearbeitenThe Great Transformation gehorte zu den Schlusseltexten der schrumpfenden antikapitalistischen Linken in den Vereinigten Staaten und blieb in Europa weitgehend unbekannt Das anderte sich in den 1980er Jahren mit der Auflosung nationaler Volkswirtschaften und dem Beginn der Globalisierung und deren Ahnlichkeit mit der Entwicklung im 19 Jahrhundert Seither wird es fur die politische Argumentation gegen den Neoliberalismus und auch als Vorlaufer einer neuen Wirtschaftssoziologie verwendet 8 Der Historiker Philipp Ther gebrauchte The Great Transformation als Richtschnur fur seine Essays zur aktuellen Entwicklung in den USA Deutschland Italien der Turkei und Russland 9 Er verweist darauf dass das polanyische Pendel der Doppelbewegung soweit es um den Schutz vor den Folgen des freien Marktes gehe in zwei Richtungen ausschlagen kann nach links Richtung demokratischer Sozialismus und nach rechts in Richtung Faschismus Spatestens seit 2016 Trump Wahl Brexit tatsachlich aber bereits seit den 1990er Jahren sei klar wohin sich das Pendel aktuell bewegt 10 Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Veranderungen WBGU griff Polanyis Begriff der Grossen Transformation in seinem Jahresgutachten 2011 auf in dem er einen Gesellschaftsvertrag fur eine globale Grosse Transformation hin zu einer klimavertraglichen Gesellschaft forderte Weblinks BearbeitenKarl Polanyi The Great Transformation The political and economic origins of our time frei zugangliche Onlineversion der Ausgabe von 2001 Beacon Press Boston englisch PDF Literatur BearbeitenKarl Polanyi The great transformation Farrar amp Rinehart New York Toronto 1944 Karl Polanyi The Great Transformation The political and economic origins of our time Beacon Press Boston 1957 Karl Polanyi The Great Transformation Politische und okonomische Ursprunge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen Ubersetzt von Heinrich Jelinek Europaverlag Wien 1977 ISBN 978 3 203 50618 0 Karl Polanyi The Great Transformation Politische und okonomische Ursprunge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen 3 Auflage Suhrkamp Frankfurt am Main 1995 ISBN 978 3 518 27860 4 1 Auflage 1978 ISBN 978 3 518 07860 0 2 Auflage 1990 ISBN 978 3 518 27860 4 Gareth Dale Karl Polanyi The Limits of the Market Polity Press 2010 ISBN 0 7456 4071 0 Chris Hann Keith Hart Hrsg Market and society the great transformation today Cambridge Cambridge Univ Press 2009 ISBN 978 0 521 51965 6 Einzelnachweise Bearbeiten Karl Polanyi The Great Transformation Politische und okonomische Ursprunge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen 1 Auflage Frankfurt Main 1978 ISBN 978 3 518 07860 0 S 19 Die Welt des neunzehnten Jahrhunderts ist zusammengebrochen Das vorliegende Werk befasst sich mit den politischen und wirtschaftlichen Ursprungen dieses Geschehens sowie mit der grossen Transformation die es einleitete Im Original Nineteenth century civilization has collapsed This book is concerned with the political and economic origins of this event as well as with the great transformation which it ushered in Polanyi The Great Transformation Boston 1957 S 35 ff Polanyi The Great Transformation Boston 1957 S 38 f Siehe die pointierte Zusammenfassung bei Christoph Deutschmann Postindustrielle Industriesoziologie Weinheim Munchen 2002 S 61 ff Deutschmann spricht von einer funktionalen Entdifferenzierung des Geldgebrauchs S 64 Polanyi The Great Transformation Boston 1957 S 33 ubersetzt Polanyi The Great Transformation Boston 1957 S 37 ubersetzt Wolfgang Streeck Karl Polanyi The Great Transformation In Dirk Kaesler Ludgera Vogt Hrsg Hauptwerke der Soziologie Kroners Taschenausgabe Band 396 Kroner Stuttgart 2000 ISBN 3 520 39601 7 S 359 361 hier S 360 Wolfgang Streeck Karl Polanyi The Great Transformation In Dirk Kaesler Ludgera Vogt Hrsg Hauptwerke der Soziologie Kroners Taschenausgabe Band 396 Kroner Stuttgart 2000 ISBN 3 520 39601 7 S 359 361 hier S 361 Philipp Ther Das andere Ende der Geschichte Uber die Grosse Transformation Suhrkamp Berlin 2019 ISBN 978 3 518 12744 5 Hans von Trotha Philipp Ther Das andere Ende der Geschichte Nach dem Liberalismus In Deutschlandfunk Kultur 30 Januar 2020 Normdaten Werk GND 4665626 1 lobid OGND AKS VIAF 187243299 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Great Transformation amp oldid 234582529