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Als silbenzahlendes oder auch syllabisches Versprinzip wird in der Verslehre ein Versprinzip bezeichnet bei dem sich die metrische Form in erster Linie anhand der Zahl der Silben im Vers bestimmt Dementsprechend werden in der Terminologie von Literaturen in denen die Silbenzahlung dominiert die Versmasse haufig anhand der Silbenzahl benannt beispielsweise der Endecasillabo Elfsilbler in der italienischen Dichtung Inhaltsverzeichnis 1 Merkmale und Probleme 2 Entwicklung in den europaischen Sprachen 3 Moderne syllabische Dichtung im Englischen 4 Literatur 5 EinzelnachweiseMerkmale und Probleme BearbeitenDie Versifikation entsprechend der Silbenzahl hat eine sehr alte Tradition fur die sich Belege in den altesten Texten des Altiranischen und des Sanskrit in altgriechischen Texten und den fruhesten Beispielen chinesischer und japanischer Dichtung finden Daruber hinaus hat der syllabische Vers in der Dichtung der meisten europaischen Sprachen zumindest zeitweise eine Rolle gespielt Trotz dieser ehrwurdigen Tradition sind rein syllabische Formen das heisst Versifikation bei der die Silbenzahl des Verses das einzige Strukturprinzip ist die grosse Ausnahme Als Grund dafur werden wahrnehmungspsychologische Probleme bei der Rezeption als die wichtigsten genannt und hier vor allem fehlende Markierung was sich an folgendem Beispiel illustrieren lasst Am Fusse der Alpen bei Locarno im oberen Italien befand sich ein altes einem Marchese gehoriges Schloss das man jetzt wenn man vom St Gotthard kommt in Schutt und Trummern lie gen sieht Hier wurde der erste Satz von Kleists Bettelweib von Locarno in Verse zu je 7 Silben gruppiert Erst an dessen Ende kollidiert die Gruppierung mit der Wortfolge Offensichtlich wird dieser Text als Prosa wahrgenommen und nicht als gebundene Rede Wir konnen zwar ohne explizit zu zahlen kleine Objektgruppen unmittelbar als gleich gross oder Teilsequenzen in einer Folge als gleich lang wahrnehmen ohne Anhaltspunkt fur Beginn und Ende solcher Teilsequenzen entgeht die Gruppierung allerdings der Wahrnehmung des Horers Das hat zur Folge dass bei den allermeisten Formen syllabischer Dichtung die Versgrenze durch andere sprachliche Mittel markiert wird zu diesen gehoren insbesondere die Sprechpause am Versende Hebung auf der letzten Silbe und Endreim Wie gesagt die menschliche Fahigkeit Folgen als gleich lang zu erfassen ohne ausdrucklich mitzuzahlen ist auf relativ kurze Folgen beschrankt Diese Maximallange entspricht der bekannten Begrenzung des Kurzzeitgedachtnisses Chunking auf etwa 7 bis 8 Objekte das heisst auch wenn das Versende entsprechend markiert ist so kann die Regelmassigkeit in der Silbenzahl dem Horer nur dann bewusst werden wenn die Verse hochstens 7 oder 8 Silben lang sind Sind syllabische Verse langer so werden sie in der Regel durch Zasur unterteilt Rein syllabische Formen also solche ohne Markierung ausser der Sprechpause sind in der Regel insgesamt kurz Bekannte Beispiele sind die japanischen Formen des Haiku und des Tanka die allerdings schon nicht mehr rein syllabisch sind da hier die Silbenquantitat einbezogen wird es werden also nicht Silben sondern Moren gezahlt Beim 17 Moren langen Haiku wird dabei nach dem Schema 5 7 5 in drei Gruppen unterteilt das mit 31 Moren deutlich langere Tanka in funf Gruppen nach dem Schema 5 7 5 7 7 wobei dieses wieder in zwei Teile 5 7 5 und 7 7 gegliedert wird Entwicklung in den europaischen Sprachen BearbeitenWie in der japanischen so wurden auch in der chinesischen der altindischen und in der griechischen Dichtung rein syllabische Formen schon fruh zugunsten zusatzlicher Strukturierung durch weitere Merkmale wie Tonhohe oder Silbendauer aufgegeben Im Lateinischen wurde das quantitierende Prinzip der griechischen Dichtung ab dem 2 Jahrhundert v Chr ubernommen und war bestimmend fur die lateinische Dichtung der Goldenen und Silbernen Latinitat Mit dem Beginn der Spatantike ging jedoch die intuitive Erfassung von Silbenquantitaten bei den meisten Horern verloren und man ging dazu uber Silben zu zahlen wobei das Versende zunehmend durch obligatorische Betonung der letzten oder vorletzten Silbe und durch Endreim markiert wurde Diese Merkmale ubertrugen sich auf die mittellateinische Dichtung und in unterschiedlichem Mass auf die modernen europaischen Sprachen So war die franzosischen Dichtung weitgehend silbenzahlend wobei Zasur und Versende durch Hebung markiert wurden in der italienischen und spanischen Dichtung spielte Betonung eine deutlich grossere Rolle auch wenn die Versmasse sich von silbenzahlenden Formen herleiteten In der anglonormannischen Dichtung wurden zunachst die altfranzosischen Formen und damit die beherrschende Stellung des Achtsilblers octosyllabe ubernommen Allerdings wurde die genaue Silbenzahl oft nicht eingehalten dafur hatten die Verse sehr regelmassig vier Hebungen de facto konnte sich also das syllabische Prinzip im Englischen nicht durchsetzen und die englische Metrik entwickelte ein akzentuierendes Versprinzip Unsicherheiten bei der Silbenzahlung bestehen ubrigens von Anfang an insofern es nicht von vornherein klar ist ob beim Aufeinandertreffen zweier Vokale an der Silbengrenze eine oder zwei Silben gezahlt werden sollen da man die beiden Vokale in der Aussprache zum Diphthong verschmelzen kann wie im klassischen Latein Synaloiphe oder sie getrennt aussprechen kann wie im Mittellateinischen Hiatus Ausserdem war bei Markierung des Versendes durch Betonung oft unklar ob eine unbetonte Silbe am Versende mitzuzahlen ist oder nicht Im Franzosischen wird eine unbetonte Silbe am Versende regelmassig elidiert In der deutschen Dichtung wurden syllabische Formen in Mittelalter und fruher Neuzeit aus der mittellateinischen und franzosischen Dichtung ubernommen allerdings in Verbindung mit Alternation also dem regelmassigen Wechsel von Hebung und Senkung im Versakzent wobei die naturliche Betonung der Wortakzent haufig ignoriert wurde wodurch es zu Tonbeugungen kam Beispiele solcher syllabischen Formen finden sich im strengen Knittelvers dem Meistersang und der Kirchenlieddichtung Mit der Reformation der deutschen Metrik durch Martin Opitz kam dann im Barock auch im Deutschen der Ubergang zu einer akzentuierenden Metrik Seitdem spielt der syllabische Vers in der deutschen Dichtung keine Rolle mehr Eine eigenstandige von den Formen aus dem spatantiken Latein weitgehend unabhangige Entwicklung nahm die inselkeltische Dichtung in Irland und Schottland galisch und in Wales kymrisch In beiden Traditionslinien dominieren teilweise ausserst komplexe syllabische Formen bei denen vorgegebene Silbenpositionen durch Betonung Reimverschrankung Alliteration und Assonanz markiert werden Als Beispiel die als relativ einfach geltende Deibhidhe genannte vierzeilige irische Strophenform aus jeweils 7 silbigen Versen x x x x x x a x x x x x x a x b x x x x b x x x b x x bHierbei zeigt der Akzent eine betonte Silbe x eine ungereimte und a und b gereimte Silben an wobei der irische Reim die silbenweise Ubereinstimmung der Vokale und entsprechende Klassen bei den Konsonanten fordert 1 2 Moderne syllabische Dichtung im Englischen BearbeitenEine moderne Entwicklung ist der syllabische Vers in der englischen und amerikanischen Literatur ab dem Ende des 19 Jahrhunderts Der Pionier dieser Form ist Robert Bridges dessen Testament of Beauty 1929 mit 5000 Versen das langste syllabische Gedicht im Englischen ist Bridges entwickelte auch anhand von John Miltons Paradise Lost eine Theorie der Elision der zufolge er die metrische Korrektheit der Miltonschen Verse nachwies 3 Seine Unterscheidung zweier Formen der Vokalelision y glide und w glide wird heute noch in metrischen Untersuchungen verwendet In dem 1915 posthum publizierten Band Verse entwickelte die amerikanische Dichterin Adelaide Crapsey in Anlehnung an japanische Formen die funfzeilige Cinquain mit dem Schema 2 4 6 8 2 kombiniert mit jambischer Alternation Als Beispiel das Gedicht November 4 Listen With faint dry sound Like steps of passing ghosts The leaves frost crisp d break from the trees And fall Solche Mischformen zwischen syllabischem und akzentuierendem Vers werden in der englischen Terminologie als accentual syllabic verse bezeichnet Eine weitere fur ihre komplexen syllabischen Formen bekannte Autorin ist Marianne Moore Als Beispiel No Swan so Fine 5 No water so still as thedead fountains of Versailles No swan with swart blind look askance and gondoliering legs so fineas the chintz china one with fawn brown eyes and toothed gold collar on to show whose bird it was Lodged in the Louis FifteenthCandelabrum tree of cockscomb tinted buttons dahlias sea urchins and everlastings it perches on the branching foam of polished sculptured flowers at ease and tall The king is dead Das zugrundeliegende Schema sind zwei Strophen mit dem Schema 7 8 6 8 8 5 9 Auffallig ist dass die Struktur vor dem Horer verborgen wird Die Versenden sind rhythmisch nicht nur nicht markiert sondern durch Enjambement cockscomb tinted buttons noch zusatzlich getarnt Die beiden Reime in jeder Strophe sind zwar durch Einruckung fur den Leser kenntlich dem weniger aufmerksamen Horer werden sie aber entgehen Diesem Prinzip syllabischen Vers zu verwenden um die zugrundeliegende Struktur und Bindung vor Leser und Horer zu verbergen durch das ein Gedicht wie freier Vers mit ein paar gelegentlich eingestreuten Reimen und Assonanzen erscheint folgte auch Dylan Thomas Als Beispiel In My Craft Or Sullen Art 6 In my craft or sullen art Exercised in the still night When only the moon rages And the lovers lie abed With all their griefs in their arms I labour by singing light Not for ambition or bread Or the strut and trade of charms On the ivory stages But for the common wages Of their most secret heart Not for the proud man apart From the raging moon I write On these spindrift pages Nor for the towering dead With their nightingales and psalms But for the lovers their arms Round the griefs of the ages Who pay no praise or wages Nor heed my craft or art a b c d e b d e c c a a b c d f e c c aHier wird durch das komplexe Reimschema abcdebdecca abcdfecca mit dem meist grossen Abstand zwischen Reimpaaren und durch das Fehlen rhythmischer Regelmassigkeit die zugrundeliegende Struktur der 7 silbigen Verse eher verborgen als markiert Neben den Genannten haben zahlreiche weitere Autoren der modernen angelsachsischen Literatur syllabische Verse verfasst darunter Elizabeth Daryush W H Auden Donald Justice Thom Gunn Richard Howard und Robert Wells Fur diese Lyriker bot der seine Regelmassigkeit verbergende syllabische Vers eine interessante und flexible Alternative auf halbem Weg zwischen den klassischen akzentuierenden Formen und dem freien Vers Literatur BearbeitenDieter Burdorf Christoph Fasbender Burkhard Moennighoff Hrsg Metzler Lexikon Literatur Begriffe und Definitionen 3 Auflage Metzler Stuttgart 2007 ISBN 978 3 476 01612 6 S 707 Otto Knorrich Lexikon lyrischer Formen Kroners Taschenausgabe Band 479 2 uberarbeitete Auflage Kroner Stuttgart 2005 ISBN 3 520 47902 8 S 208 R B Shaw Syllabic Verse In Roland Greene Stephen Cushman et al Hrsg The Princeton Encyclopedia of Poetry and Poetics 4 Auflage Princeton University Press Princeton 2012 ISBN 978 0 691 13334 8 S 1388 1390 eingeschrankte Vorschau http vorlage digitalisat test 1 3D 7B 7B 7B1 7D 7D 7D GB 3DuKiC6IeFR2UC IA 3D MDZ 3D 0A SZ 3DPA1388 doppelseitig 3D LT 3Deingeschr C3 A4nkte 20Vorschau PUR 3D in der Google Buchsuche Gero von Wilpert Sachworterbuch der Literatur 8 Auflage Kroner Stuttgart 2013 ISBN 978 3 520 84601 3 S 755 Einzelnachweise Bearbeiten Lewis Turco The New Book of Forms Hanover amp London 1986 S 131 f P K Ford A Ll Jones Celtic Prosody In Roland Greene Stephen Cushman et al Hrsg The Princeton Encyclopedia of Poetry and Poetics 4 Auflage Princeton University Press Princeton 2012 ISBN 978 0 691 13334 8 S 217 220 eingeschrankte Vorschau http vorlage digitalisat test 1 3D 7B 7B 7B1 7D 7D 7D GB 3DuKiC6IeFR2UC IA 3D 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