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Als Reaktivitat werden Zustandsanderungen des Erlebens und Verhaltens bezeichnet die durch das Wissen psychologisch untersucht zu werden durch die spezielle Untersuchungssituation und durch die gewahlte Methodik bedingt sind Die methodenbedingte Reaktivitat das heisst die Beeinflussung und mogliche Verzerrung der psychologischen Untersuchungsergebnisse durch die Untersuchungsmethoden selbst bildet ein zentrales Problem der Methodenlehre der Psychologie Die untersuchte Person ist kein Objekt der Naturforschung sondern bildet ein freiwillig teilnehmendes und selbstbewusstes Gegenuber Psychologische Interviews Beobachtungen Experimente Tests Beratungen sind grundsatzlich in Prozesse der Kommunikation und sozialen Interaktion eingebunden und unterliegen vielen Einflussen die den Untersuchern durchaus nicht alle bekannt oder ohne weiteres zuganglich sind In der experimentellen Psychologie wird angestrebt die im Sinne der Fragestellung eigentlich interessierenden Effekte der geplanten Bedingungsvariation unabhangige Variable von den unerwunschten Einflussen Antworttendenzen Storfaktoren situativen Faktoren abzugrenzen Die Methoden der empirischen Sozialforschung und der Psychologie werden in reaktive Verfahren und nichtreaktive Verfahren unterschieden Reaktive Verfahren sind Methoden bei denen die Messung oder Beobachtung das Verhalten der Beobachteten beeinflussen kann bei nichtreaktiven verdeckten Verfahren ist dies ausgeschlossen 1 Zu den nichtreaktiven Verfahren gehoren beispielsweise die Beobachtung durch Einwegspiegel oder versteckte Videokameras die heimliche teilnehmende Beobachtung die Analyse von Verhaltensspuren die das interessierende Verhalten hinterlassen hat wie Umsatzzahlen oder Abnutzungen uvm 2 Inhaltsverzeichnis 1 Kants Methodenkritik 2 Aufforderungscharakter der Untersuchungssituation und typische Versuchspersonen 3 Theoretische Erklarungsansatze 4 Kontrollstrategien 5 Literatur 6 Einzelnachweise 7 Weblinks 8 Siehe auchKants Methodenkritik BearbeitenDie Aufmerksamkeitszuwendung zu bestimmten Bewusstseinsinhalten kann diese verandern wie bereits Baruch de Spinoza beschrieb dem Menschen sei es moglich seine Affekte mithilfe seiner Vernunft zu beherrschen Immanuel Kant analysierte genauer diesen Vorgang durch blossen Vorsatz seiner krankhaften Gefuhle Meister zu werden in psychologischer sowie gesundheitspsychologischer Beziehung 3 Die grundsatzlichen Schwierigkeiten der empirischen Psychologie definiert Kant 1798 im Vorwort zu seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Allen Versuchen aber zu einer solchen Wissenschaft mit Grundlichkeit zu gelangen stehen erhebliche der menschlichen Natur selber anhangende Schwierigkeiten entgegen 1 Der Mensch der es bemerkt dass man ihn beobachtet und zu erforschen sucht wird entweder verlegen geniert erscheinen und da kann er sich nicht zeigen wie er ist oder er verstellt sich und da will er nicht gekannt sein wie er ist 2 Will er auch nur sich selbst erforschen so kommt er vornehmlich was seinen Zustand im Affekt betrifft der alsdann gewohnlich keine Vorstellung zulasst in eine kritische Lage namlich dass wenn die Triebfedern in Aktion sind er sich nicht beobachtet und wenn er sich beobachtet die Triebfedern ruhen 3 Ort und Zeitumstande bewirken wenn sie anhaltend sind Angewohnungen die wie man sagt eine andere Natur sind und dem Menschen das Urteil uber sich selbst erschweren wofur er sich halten vielmehr aber noch was er aus dem anderen mit dem er in Verkehr ist sich fur einen Begriff machen soll denn die Veranderung der Lage worein der Mensch durch sein Schicksal gesetzt ist oder in die er sich auch als Abenteurer selbst setzt erschweren es der Anthropologie sehr sie zum Rang einer formlichen Wissenschaft zu erheben 4 An anderer Stelle schreibt er Denn die reine innere Anschauung in welcher die Seelen Erscheinungen konstruiert werden sollen ist die Zeit die nur eine Dimension hat Aber auch nicht einmal als systematische Zergliederungskunst oder Experimentallehre kann sie der Chemie jemals nahe kommen weil sich in ihr das Mannigfaltige der inneren Beobachtung nur durch blosse Gedankenteilung von einander absondern nicht aber abgesondert auf behalten und beliebig wiederum verknupfen noch weniger aber ein anderes denkendes Subjekt sich unseren Versuchen der Absicht angemessen von uns unterwerfen lasst und selbst die Beobachtung an sich schon den Zustand des beobachteten Gegenstandes alteriert und verstellt Sie kann daher niemals etwas mehr als eine historische und als solche so viel moglich systematische Naturlehre des inneren Sinnes d i eine Naturbeschreibung der Seele aber nicht Seelenwissenschaft ja nicht einmal psychologische Experimentallehre werden 5 In heutigen Begriffen formuliert Durch die psychologische Beobachtung oder Befragung sowie Sinnestauschungen werden Verhaltensweisen und Selbstbeurteilungen verzerrt Die Lebensbedingungen lassen Einstellungen Selbstkonzepte und subjektive Alltagstheorien entstehen Die Selbstbeobachtung des eigenen Zustands ist vor allem bei intensiven Erlebnissen kaum moglich bzw sie kann diesen Zustand verandern Andere Menschen folgen nicht ohne weiteres den Anweisungen Die storenden Effekte sind kaum zu verhindern oder zu kontrollieren Die Selbstbeobachtung weist also viele grundsatzliche Fehlerquellen auf und vieles bleibt ihr verborgen Erst sehr viel spater entstehen hier Forschungsgebiete der Psychologie uber das Verhalten der Versuchspersonen die Folgen der Selbstaufmerksamkeit gelernte Einstellungen Selbst und Fremdkonzepte die fragliche Mitwirkung der Untersuchten heute Compliance Reaktanz Durch Kant war eine von der Untersuchungsmethodik induzierte methodenbedingte Reaktivitat seit langem bekannt bevor Werner Heisenberg die Unscharferelation in der Quantenphysik beschrieb die dann sekundar von einigen Psychologen als neue Einsicht auch fur ihren Bereich zitiert wurde Aufforderungscharakter der Untersuchungssituation und typische Versuchspersonen BearbeitenMartin T Orne 1962 definierte die Untersuchungssituation als Problemlosungsprozess in welchem die verunsicherte Versuchsperson sich zu orientieren bemuht und dabei Hinweisen fur die geforderte Leistung und fur die eigene Rolle und Motivation aufnimmt um die wahre Absicht des Versuchsleiters und des Experiments zu erfassen Hierbei sind der Aufforderungscharakter demand characteristics der Instruktion der experimentellen Situation Setting des Versuchsablaufs der Versuchsleiter Erwartungen und der eventuell beteiligten Mitarbeiter zu unterscheiden Spezifische Vorerfahrungen Argwohn und bestimmte Personlichkeitseigenschaften bedingen u U eine intensivere Suche nach entsprechen Hinweisen Es lassen sich nach Orne vier Typen von Versuchspersonen unterscheiden die gute Versuchsperson die negativistische Versuchsperson die um ihre Bewertung bemuhte Versuchsperson der Idealtyp der ehrlichen Versuchsperson Theoretische Erklarungsansatze BearbeitenAus Theorien uber Kognition kognitive Verzerrung und uber soziale Interaktion sind Gesichtspunkte abzuleiten wie die Untersuchungsergebnisse durch die Versuchsperson beeinflusst sein konnen Die Effektstarken werden sich je nach Forschungsbereich Fragestellung und Methodik sehr unterscheiden Attributionstheorien im Hinblick auf die Zuschreibung von Verhaltensursachen Kausaldeutungen subjektive Theorie Alltagstheorie Alltagspsychologie spezielle Konzepte der Personenwahrnehmung und Situationswahrnehmung eigene Hypothesen uber Zweck und Ergebnis der Untersuchung die Versuchsperson als Wissenschaftler Einschatzung des eigenen Erfolgs und Misserfolgs Leistungsmotivation in der Untersuchungssituation bewusste Selbstdarstellung Impression Management Theorie die Theorie psychologischer Reaktanz bei Einengung der Handlungsfreiheit Widerstand aus dem Felde gehen Kontrollstrategien BearbeitenPsychologische Verfahren sind mit wenigen Ausnahmen Analyse von Texten und Werken objektive Verhaltensspuren reaktiv allerdings in unterschiedlichem auch von den jeweiligen Umstanden abhangigem Mass Die Anwendung der Methode zum Beispiel die Introspektion oder das Interview beeinflusst das Phanomen Wenn die Versuchspersonen eines Experiments keine beliebig austauschbaren Elemente einer Population sondern erlebende hypothesenbildende und interagierende Individuen sind dann mussen Experimentalpsychologen versuchen sozialpsychologische und differenzielle Gesichtspunkte durch zusatzliche Massnahmen zu berucksichtigen siehe Forgas 1999 Orne 1969 Sarris 1992 Diese Verfahren sind teils als Kontrollmassnahmen teils nur als Erkundung moglicher Probleme und Verbesserungen anzusehen Strategien zur Aufklarung der Situation Durch ein postexperimentelles Interview konnen die von der Versuchsperson wahrgenommenen Anforderungen demand characteristics und wichtige Besonderheiten des Versuchserlebens erfasst werden Moglich sind auch ein Nicht Experiment d h nur gedankliche Vorstellung und Schilderung ein Rollenspiel oder die Simulation in einem als ob Experiment eventuell mit einem unwissenden Versuchsleiter Die Instruktion sowie die gesamte Versuchsdurchfuhrung werden zuvor sorgfaltig erprobt Der Versuchsleiter lernt das Experiment im Selbstversuch kennen und ist mit den verschiedenen reaktiven Effekten die vorkommen konnen vertraut Strategien zur Verringerung der Versuchspersonen Effekte Nach einer weitgehenden Vorinformation und Aufklarung uber das Experiment erfolgt eine realistische Eingewohnung und Vorbereitung durch einen Probedurchgang Pratest Weitere Verfahren sind Doppelblindstudie Kontrolle durch Null Behandlung Erwartungskontroll Gruppe Wartelisten Gruppe Die spezielle Untersuchungshypothese des Experiments wird ublicherweise nicht sehr genau dargelegt um den wissenschaftlichen Wert des Experiments nicht zu zerstoren Die schriftlich einzuholende informierte Einwilligung jedes Untersuchungsteilnehmers konnte jedoch diese Hypothese und die Alternativhypothese naherungsweise benennen und offen lassen ob der Teilnehmer zur Experimentalgruppe oder zur Kontrollgruppe gehort Pflege der Versuchspersonen Zur Motivierung der Versuchsperson und zur Optimierung der Interaktion von Versuchsleiter und Versuchspersonen wird ein offener und freundlicher Stil empfohlen bei der Anwerbung Begrussung fairer Vorab Information Eingewohnungsphase Instruktion und Durchfuhrung Dazu gehoren eine abschliessende Information uber Absichten und Ablauf der Untersuchung sowie zu einem spateren Termin falls gewunscht auch Informationen uber das Ergebnis siehe Huber 1987 mit Erlauterungen zur Rolle des Versuchsleiters als Gastgeber Austauschgerechtigkeit Die allgemeine Zumutbarkeit der Untersuchungsbedingungen die Art und die Dauer der Aufgaben die Untersuchungssituation und die zugesagten Gegenleistungen Kompensationen sind wichtige Bedingungen und bestimmen aus der Sicht der Versuchsperson die Akzeptanz der Untersuchung Nach dem Leitprinzip der Austauschgerechtigkeit siehe soziale Gerechtigkeit sind die Vereinbarungen einzuhalten Aufklarung uber rechtliche Bestimmungen Die Teilnahmebereitschaft und das Vertrauen der Versuchspersonen wird durch den Stil der Information uber die geltenden rechtlichen Bestimmungen und ethische Gesichtspunkte beeinflusst hauptsachlich durch die geeignete Erlauterung einer schriftlich festgehaltenen Zustimmung hinsichtlich der Prinzipien informierte Einwilligung Freiwilligkeit der Teilnahme nach Aufklarung uber wesentliche Aspekte und Moglichkeit jederzeit ohne Nachteile abbrechen zu konnen praktischer Datenschutz Literatur BearbeitenBastian F Benz Nonreaktive Methoden Vermeidung reaktiver Effekte in der psychologischen Forschung In Heinz Holling Bernhard Schmitz Hrsg Handbuch Statistik Methoden und Evaluation Hogrefe Gottingen 2010 ISBN 978 3 8017 1848 0 S 173 178 Jurgen Bortz Nicola Doring Forschungsmethoden und Evaluation fur Human und Sozialwissenschaftler 4 Auflage Springer Heidelberg 2006 ISBN 978 3 540 33305 0 Joseph P Forgas Soziale Interaktion und Kommunikation Eine Einfuhrung in die Sozialpsychologie 4 Auflage Beltz Weinheim 1999 ISBN 3 621 27145 7 Gisla Gniech Storeffekte in psychologischen Experimenten Kohlhammer Stuttgart 1976 ISBN 3 17 001401 3 Martin T Orne The demand characteristics and the concept of quasicontrols In Robert Rosenthal Ralph L Rosnow Eds Artifacts in behavioral research Academic Press New York 1969 S 776 783 Rudiger F Pohl Ed Cognitive illusions A handbook on fallacies and biases in thinking judgment and memory Psychology Press New York 2004 ISBN 1 84169 351 0 Siegbert Reiss Viktor Sarris Experimentelle Psychologie von der Theorie zur Praxis Pearson Munchen 2012 ISBN 978 3 86894 147 0 Karl Heinz Renner Timo Heydasch Gerhard Strohlein Ethische und rechtliche Aspekte psychologischer Forschung In Karl Heinz Renner Timo Heydasch Gerhard Strohlein Hrsg Forschungsmethoden der Psychologie Springer Heidelberg 2012 ISBN 978 3 531 16729 9 S 131 137 Robert Rosenthal Ralph L Rosnow Eds Artifact in behavioral research Academic Press New York 1969 Ralph L Rosnow Robert Rosenthal Beginning behavioral research a conceptual primer 4 ed Prentice Hall Upper Saddle River NJ 2002 ISBN 0 13 091517 3 Viktor Sarris Methodologische Grundlagen der Experimentalpsychologie Band 2 Munchen Reinhardt Munchen 1992 Heinz Schuler 1980 Ethische Probleme psychologischer Forschung Hogrefe Gottingen 1980 Einzelnachweise Bearbeiten Jurgen Bortz Lehrbuch der empirischen Forschung Springer Verlag 1984 ISBN 3 540 12852 2 S 197 Ubersicht bei E J Webb et al Nichtreaktive Messverfahren Beltz 1985 ISBN 3407570031 und bei W Bungard H E Luck Forschungsartefakte und nicht reaktive Messverfahren Stuttgart Teubner 1974 ISBN 351900027X Immanuel Kant Der Streit der Fakultaten Der Streit der Philosophischen Fakultat mit der Medizinischen 3 Von der Macht des Gemuts durch den blossen Vorsatz seiner krankhaften Gefuhle Meister zu sein Konigsberg 1798 In Wilhelm Weischedel Hrsg Werkausgabe Band 11 Suhrkamp Frankfurt a M 1978 S 371 393 A163 A205 Immanuel Kant Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Konigsberg 1798 In Wilhelm Weischedel Hrsg Werkausgabe Band 12 Schriften zur Anthropologie Geschichtsphilosophie Politik und Padagogik Suhrkamp Frankfurt a M 1978 S 401 BA X XI XII Immanuel Kant Metaphysische Anfangsgrunde der Naturwissenschaft Konigsberg 1786 In Wilhelm Weischedel Hrsg Werkausgabe Band 9 Suhrkamp Frankfurt a M 1978 S 15 16 A X XI Weblinks BearbeitenEthische Richtlinien der Deutschen Gesellschaft fur Psychologie e V und des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen e V Siehe auch BearbeitenValiditat Verzerrung Empirie Rosenthal Effekt Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Reaktivitat Sozialwissenschaften amp oldid 226117514