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Als Populationsdenken bezeichnet man in der Evolutionsbiologie eine Denkweise die dem typologischen oder auch essentialistischen Denken gegenubergestellt wird Die Bezeichnung wurde von dem Evolutionsbiologen Ernst Mayr im Jahr 1959 eingefuhrt 1 2 der damit auf eine aus seiner Sicht wesentliche Konsequenz der Theorie Charles Darwins hinweisen wollte Kern des Populationsdenkens ist dass Organismen individuelle Angehorige von Populationen sind wobei die Eigenschaften jedes Individuums einzigartig sind Naturliche Gruppen von Individuen wie biologische Arten sind danach Abstammungsgemeinschaften deren Ahnlichkeit zueinander auf ihrer Verwandtschaft und bei sexuell reproduzierenden Arten auf dem Austausch von Erbfaktoren Genfluss bei der Fortpflanzung beruht Gemeinsamkeiten zwischen Individuen beruhen also nicht auf einem Idealbild oder Typus einer Art Unterschiede zwischen ihnen nicht nur darauf dass aufgrund von Storfaktoren oder Unvollkommenheiten dieser im Individuum real nur annahernd verwirklicht sei sondern solche Typen hatten real keine Existenz sie bildeten nur statistische Mittelwerte ab Das Populationsdenken ist fur Mayr ein grundlegender Unterschied zwischen den biologischen und physikalischen Wissenschaften 3 da physikalische Objekte wie Atome im Gegensatz zu biologischen Objekten tatsachlich keine Individualitat besitzen womit auf grundsatzlicher Ebene keinerlei Variationen von ihnen oder gar Ubergange zwischen ihnen existieren Essentialistisches und Populationsdenken aus biologischer Sicht BearbeitenMayr zufolge war die Biologie besonders die biologische Taxonomie und Systematik bis Darwin von typologischem Denken gepragt Die Begrunder der Taxonomie wie Carl von Linne seien uberzeugt gewesen dass jede Art oder Gattung so etwas wie eine vollkommene Urform den Typus besitze 4 Hin und wieder komme es zu Abweichungen die tatsachlich so etwas wie Missgeburten Monstrositaten Abnormitaten seien aber im Normalfall wenn Storungen ausblieben nahere sich jedes Individuum perfekt dem Typus an In philosophischer Tradition der antiken griechischen Philosophie besonders Platon und Aristoteles vermittelt durch Porphyrios und die mittelalterlichen Scholastiker hatten viele diese Typen oder Essenzen tatsachlich fur realer gehalten als die Individuen die sie nur unvollkommen reprasentierten Sie hatten die Art eidos und die Gruppe genos der aristotelischen Logik auf biologische Objekte ubertragen 5 Der Wissenschaftsphilosoph Karl Popper pragte fur dieses Denken in Typen die abwertend gemeinte Bezeichnung Essentialismus die durch einen seiner Schuler David L Hull auf das typologische Denken in der Biologie ubertragen wurde 6 Das Populationsdenken betrachtet keine Objekte sondern Individuen So werden Tiere und Pflanzen als Individuen gesehen die sich graduell von anderen Angehorigen ihrer Population unterscheiden daher Populationsdenken Auch die Arten konnen noch graduelle Ubergange zueinander aufweisen da sie in der Vergangenheit immer aus der Aufspaltung fruher existierender Arten hervorgegangen sind vgl Artikel Artbildung Wenn sie was tatsachlich haufiger ist gegenwartig klar voneinander geschieden erscheinen liegt es daran dass die fruher einmal bestandene Fortpflanzungsgemeinschaft verloren gegangen ist wodurch sie sich in ihren Merkmalen auseinanderentwickeln konnten und dass Individuen mit mittleren Merkmalskombinationen von der Selektion benachteiligt worden waren Die Bezeichnung Population verstand Mayr wie sich aus seinen Definitionen klar ergibt in einem statistischen Sinne Die aus der Genetik entwickelte Bezeichnung Population als reale evolutionare Einheit die etwa der Populationsbiologie zugrunde liegt ist ein spezieller Fall davon aber nicht identisch Entscheidend fur Mayrs Populationsdenken sind die Individuen Der von ihm verwendete Populationsbegriff geht auf Francis Galton zuruck Darwin selbst verwendete ihn kaum 7 Typen und Typologie in der heutigen Biologie BearbeitenUberall wo in der Biologie von Typen die Rede ist zum Beispiel Typus in der Nomenklatur Wildtyp Zuchtform ist das dieser Auffassung zufolge ein Relikt der fruheren Anschauungsweise Moglicherweise wird damit sogar suggeriert es gabe eine Essenz einen Standard von dem Mutationen als abweichend geordnet werden konnten Tatsachlich liegen aber Fortpflanzungsgemeinschaften vor in denen kein einziges Individuum eine berechtigtere oder echtere Beschaffenheit habe als ein anderes Jedes Individuum ist einzigartig und weicht mit graduellen Stufen von seinen Artgenossen ab Ahnliche Probleme sind in der Biologie weit verbreitet und entstehen nach Ernst Mayr durch die unvollstandige Uberwindung des essentialistischen Denkens in der Biologie Er fordert deshalb die Emanzipation der Biologie Einzelnachweise Bearbeiten Ernst Mayr 1959 Darwin and the evolutionary theory in biology In Evolution and anthropolyogy a centennial appraisal edited by the Anthropological Society of Washington 1959 S 409 412 Wiederabdruck in Ernst Mayr Evolution and the diversity of life selected essays 1976 chapter 3 Wiederabdruck mit neuem Vorwort in Elliott Sober editor Conceptual Issues in Evolutionary Biology MIT Press 1994 chapter 16 Carl Chung 2002 On the origin of the typological population distinction in Ernst Mayr s changing views of species 1942 1959 Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 34 277 296 Ernst Mayr 1996 The autonomy of Biology The Position of Biology among Sciences Quarterly Review of Biology 71 1 97 106 deutsche Fassung 2002 Die Autonomie der Biologie Naturwissenschaftliche Rundschau 55 1 23 29 dies wird heute historisch bestritten vgl Staffan Muller Wille 2007 Collection and collation theory and practice of Linnaean botany Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 38 541 562 Mary P Winsor 2006 Linnaeus s biology was not essentialist Annals of the Missouri Botanical Garden 93 2 7 Elliott Sober Evolution Population Thinking and Essentialism In Philosophy of Science Band 47 Nr 3 1980 S 350 383 David L Hull The effect of essentialism on taxonomy two thousand years of stasis 1 In British Journal for the Philosophy of Science Band 15 Nr 60 1965 S 314 326 Es gibt fruhere Verwendungen die aber ohne grossere Resonanz blieben Jody Hey 2011 Regarding the Confusion between the Population Concept and Mayr s Population Thinking In The Quarterly Review of Biology Band 86 Nr 4 2011 S 253 264 doi 10 1086 662455 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Populationsdenken amp oldid 190253071