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Als Sittlichkeitsprozesse gegen Ordensangehorige und Priester im Nationalsozialismus gelegentlich Klosterprozesse genannt werden die etwa 250 ab Mai 1936 an den Landgerichten Koblenz und Bonn gefuhrten Prozesse bezeichnet in denen katholische Priester und Ordensbruder als mutmassliche Tater unter dem Vorwurf der Unzucht zwischen Mannern sowie der Unzucht mit Zoglingen vor Gericht standen Diese Prozesse werden der propagandistischen nationalsozialistischen Verfolgungspraxis des NS Staates zugeordnet Sein Ziel war es die Kirche als Brutstatte des Lasters erscheinen zu lassen Deshalb wurden die Prozesse zu Serien verknupft und jeweils mit einem spektakularen Fall eroffnet 1 Die deutschen Bischofe reagierten emport auf die Propaganda aber geschockt und selbstkritisch auf das Ausmass des sexuellen Missbrauchs der in den Prozessen offenbar wurde 2 Inhaltsverzeichnis 1 Vorgeschichte 2 Prozesse 3 NS Propaganda 4 Siehe auch 5 Literatur 6 Weblinks 7 EinzelnachweiseVorgeschichte BearbeitenIm April 1935 begannen die Ermittlungen zunachst bei den Einrichtungen der Franziskanerbruder vom Heiligen Kreuz in Waldbreitbach Die Waldbreitbacher Bruder bildeten eine Laien Kongregation die geistesschwache und kranke Manner betreute und Anstalten fur Fursorgezoglinge Krankenhauser und ambulante Krankenpflege unterhielt 3 In diesem Zusammenhang wurde nach einer Strafanzeige wegen Vergehen nach 175 Unzucht zwischen Mannern ermittelt 4 Neben der Staatsanwaltschaft schaltete sich auch die Gestapo mit einem Sonderkommando in das Verfahren ein Obwohl juristisch nur im Status von Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft war das Sonderkommando personell und materiell der Staatsanwaltschaft weit uberlegen lehnte Weisungen der Staatsanwaltschaft offen ab und sah sich als Herren des Verfahrens 5 Ihren Kompetenzanspruch manifestierte die Gestapo mit einem besonderen Referat fur das Sachgebiet Homosexualitat im Amt Politische Polizei 6 verantwortlich war das Sonderdezernat Homosexualitat 7 Die Ermittlungen wurden im Herbst 1935 im Zuge der sogenannten Devisenprozesse als Gerichte rechtswidrige Gelduberweisungen von Ordensgemeinschaften ins Ausland juristisch ahndeten auf andere Kongregationen ausgedehnt In der Folge gingen die Strafverfolgungsbehorden mit dem im Juni 1935 verscharften 175 auch gegen Diozesanpriester vor Zudem wurde die Strafverfolgung teilweise nach 174 Unzucht mit Zoglingen gefuhrt bzw Anklage erhoben da die Betroffenen z B Pfleglinge oder Zoglinge in Heimen waren 8 Prozesse BearbeitenDie Verfahren wurden am Bonner und Koblenzer Landgericht verhandelt Auftakt zu einer Serie von 35 Verhandlungstagen war die Hauptverhandlung gegen den Waldbreitbacher Pater Leovigild vor dem Landgericht Koblenz am 26 Mai 1936 Die Prozesse wurden wahrend der Olympischen Spiele in Berlin im August 1936 unterbrochen danach aber wieder aufgenommen Bis Ende des Jahres 1937 waren allein bei der eigens eingerichteten Sonderstaatsanwaltschaft in Koblenz etwa 2500 Ermittlungsverfahren anhangig oder abgeschlossen Ein Grossteil davon wurde mangels Beweises wegen Geringfugigkeit Verjahrung oder einer Sechsmonate Amnestie von August 1934 im Vorverfahren erledigt 9 Wenige juristisch unklare Falle wurden erst Jahre spater abgeschlossen Im Juli 1937 wurde die Prozessserie abgebrochen 10 Grund dafur war vermutlich dass Hitler fur aussenpolitische Plane dieser Zeit Ruhe in der Innenpolitik brauchte denn Ende Juli endete auch die von Joseph Goebbels vorangetriebene Pressekampagne 11 Auf Grund von rund 2500 Ermittlungsverfahren wurden etwa 250 Strafprozesse eroffnet wovon 40 mit einem Freispruch oder Einstellungen endeten 64 gestandige Priester und 170 Ordensangehorige wurden zumeist mit Freiheitsstrafen zwischen einem und zwei Jahren bestraft 12 Die Verfahren wurden vor ordentlichen Landgerichten gefuhrt 13 Die Urteile der Landgerichte aufgrund 174 und 175 scheinen nach Hockerts durchwegs juristisch vertretbar zu sein 14 Im Hirtenbrief der Fuldaer Bischofsversammlung vom August 1936 hatte der deutsche Episkopat amtlich und offentlich klargestellt dass die Kirche gegen die Koblenzer Prozesse keinen Einspruch erhebe zugleich wurde aber die NS Propaganda die gegen die katholische Kirche generell vorgehe zuruckgewiesen 15 Die hohe Zahl an Verurteilten kam laut Hockerts durch eine ungewohnliche Summierung homosexueller Vergehen in wenigen Laienkongregationen zustande 16 im Einzelnen 54 Waldbreitbach Hausener Bruder 46 Kolner Alexianer 22 Barmherzige Bruder von Montabaur 16 Neusser Alexianer 12 Barmherzige Bruder 12 Die verurteilten Tater wurden in der Regel auch nach dem Kirchenrecht bestraft Die Kirche schloss 31 Bruder von der Waldbreitbacher Gemeinschaft aus die Gemeinschaft wurde auf Betreiben des Bischofs von Trier 1937 aufgelost 17 Teilweise wurden Verurteilte nach der Strafverbussung Angeschuldigte nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft und Freigesprochene von der Gestapo anschliessend in Schutzhaft genommen und in die Konzentrationslager gebracht 18 In der Enzyklika Mit brennender Sorge vom Marz 1937 verurteilte Papst Pius XI die Abweichungen zwischen Glauben und Leben einzelner Angehoriger der Kirche protestierte aber zugleich gegen die einseitige NS Propaganda anlasslich der Sittlichkeitsprozesse 19 NS Propaganda BearbeitenDas Vorgehen der an den Ermittlungen beteiligten Gestapo und die Prozesse selbst wurden von der NS Presse propagandistisch begleitet und in der Offentlichkeit detailliert diffamierend und verallgemeinernd dargestellt Beispielsweise veroffentlichte der SS Fuhrer und Dusseldorfer Polizeiprasident Fritz Weitzel eine umfassende Sammlung diverser Hetzartikel aus der Rheinischen Landeszeitung uber Ordensleute der Jesuiten Pallottiner Franziskaner und andere die wegen Homosexualitat Devisenverbrechen Verteilung marxistischer Hetzschriften Sittlichkeitsvergehen Hochverrats und mehr angeprangert wurden Das Buch trug den Titel An ihren Taten sollt ihr sie erkennen eine Anspielung auf das Bibelwort An ihren Fruchten sollt ihr sie erkennen Mt 7 16 20 EU Der Hohepunkt der NS Propaganda war am 28 Mai 1937 die Rede von Joseph Goebbels in der Berliner Deutschlandhalle Auszug Allerdings auf einem ganz anderen Blatt stehen die Sexualprozesse geschrieben die in diesen Wochen und Monaten in vielen Stadten des Reiches gegen eine Unzahl von Mitgliedern des katholischen Klesrus gefuhrt werden und fast ausnahmslos fur die Angeklagten zu schweren Gefangnis und Zuchthausstrafen gefuhrt haben Was hat dagegen die katholische Kirche getan Zunachst hat sie jahrelang von politischer Verfolgung geredet eingesperrte Geistliche als Martyrer glorifiziert obwohl sie wusste dass es sich dabei zu 95 Prozent um Sittlichkeitsverbrecher handelte In jedem Fall hat sie versucht die Verbrecher zu beschutzen die Verbrechen selbst zu verwischen und die Schuldigen entweder in andere Pfarrstellen oder in Kloster einzuweisen Oder wenn es brenzlig wurde sie ins Ausland zu schicken Unzahlige dieser Verderber unserer Jugend hat man uber die Grenze geholfen um sie dem Arm der Justiz zu entziehen Andere hat man eine Zeitlang versteckt und sie dann an fremden Orten abermals auf die unschuldige Jugend losgelassen Die Rede wurde von allen Rundfunksendern ubertragen und am folgenden Tag unter der Uberschrift Letzte Warnung in allen Zeitungen des Deutschen Reichs gedruckt Goebbels zeigte sich erfreut und dankbar dass Hitler als der berufene Beschutzer der deutschen Jugend mit eiserner Strenge gegen die Verderber und Vergifter unserer Volksseele vorgehe 20 Als Konsequenz aus dieser in seinen Augen himmelschreienden bischoflichen Verantwortungslosigkeit sprach Goebbels der romisch katholischen Kirche pauschal das Recht ab am NS Regime Kritik zu uben und bei der Jugenderziehung mitzuwirken 21 Die deutschen Bischofe waren geschockt von dem Ausmass des in den Prozessen bekannt gewordenen sexuellen Missbrauchs Jedoch verschwand das Missbrauchsgeschehen aus dem Gedachtnis der Kirche aber die Opferrolle blieb bewusst 22 Damit wurden von ihm auch zwei wesentliche politische Ziele der nationalsozialistischen Sittlichkeitsprozesse benannt Durch die Propaganda sollte die katholische Kirche an sich diskreditiert sowie Kleriker und Ordensleute allgemein als Sittenlose und Verderber der Jugend hingestellt werden Langfristiges Ziel der Nationalsozialisten war uberdies die im Reichskonkordat von 1933 garantierten Konfessionsschulen aufzulosen bzw die generelle Mitwirkung von Klerikern und Ordensleuten im Erziehungs bzw Schulwesen abzuschaffen 23 Siehe auch BearbeitenSexueller Missbrauch in der romisch katholischen Kirche in DeutschlandLiteratur BearbeitenHans Gunter Hockerts Die Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Ordensangehorige und Priester 1936 1937 Eine Studie zur nationalsozialistischen Herrschaftstechnik und zum Kirchenkampf Matthias Grunewald Verlag Mainz 1971 ISBN 3 7867 0312 4 ub uni muenchen de Hans Gunter Hockerts Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Ordensleute und Priester in der NS Zeit Eine Relekture nach 50 Jahren in Birgit Aschmann Hrsg Katholische Dunkelraume Die Kirche und der sexuelle Missbrauch Brill Schoningh Paderborn 2022 ISBN 978 3 506 79121 4 S 170 184 Open Access Gunter Grau Hrsg Homosexualitat in der NS Zeit Dokumente einer Diskriminierung und Verfolgung Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 1993 ISBN 3 596 11254 0 Uberarbeitete Neuausgabe 2004 ISBN 3 596 15973 3 Karl Joseph Hummel Deutsche Geschichte 1933 1945 Munchen 1998 ISBN 3 7892 9314 8 Hans Mommsen Der Nationalsozialismus als sakulare Religion In Gerhard Besier Hrsg Zwischen nationaler Revolution und militarischer Aggression Transformationen in Kirche und Gesellschaft 1934 1939 Oldenbourg Munchen 2001 Sumpf und Sitte In Der Spiegel Nr 42 1971 online Bericht uber Studie von Hockerts Weblinks BearbeitenThomas Forstner Sittlichkeitsprozesse NS Zeit Publiziert am 15 Dezember 2021 in Historisches Lexikon Bayerns abgerufen am 6 April 2022 Paulus Engelhardt P Korbinian Leonhard Roth OP und die Sittlichkeitsprozesse Abhandlung in Dominikaner im Nationalsozialismus auf der Homepage der Dominikaner abgerufen am 5 Juli 2019 Einzelnachweise Bearbeiten Sumpf und Sitte Der Spiegel 1971 abgerufen am 10 Mai 2023 Dokthema Schweigen und vertuschen Die Todsunden der katholischen Kirche Ab Minute 7 50 im Teil 2 abgerufen am 14 Mai 2023 Hans Gunter Hockerts 1971 S 50 Hans Gunter Hockerts 1971 S 4 Hans Gunter Hockerts 1971 S 7 f Hans Gunter Hockerts 1971 S 11 Gunter Grau Rudiger Lautmann Lexikon zur Homosexuellenverfolgung 1933 1945 Institutionen Kompetenzen Betatigungsfelder LIT Verlag Munster 2011 ISBN 978 3 8258 9785 7 S 276 Hans Gunter Hockerts 1971 S 40 Hans Gunter Hockerts 1971 S 48 Gerhard Krause Gerhard Muller Hrsg Theologische Realenzyklopadie Verlag Walter de Gruyter ISBN 3 11 002218 4 S 63 2000 Norbert Frei Johannes Schmitz Journalismus im Dritten Reich C H Beck Munchen 1989 ISBN 3 406 33131 9 S 65 a b Hans Gunter Hockerts 1971 S 48 ff Hans Gunter Hockerts 1971 S 58 Hans Gunter Hockerts 1971 S 58 Hans Gunter Hockerts 1971 S 162 Hans Gunter Hockerts 1971 S 50 Hans Gunter Hockerts 1971 S 53 Hans Gunter Hockerts 1971 S 31 Hans Gunter Hockerts 1971 S 163 Volkischer Beobachter 30 Mai 1937 zit nach Ralf Georg Reuth Hrsg Joseph Goebbels Die Tagebucher Band 3 1935 1939 Piper Munchen Zurich 1992 S 1083 f Anm 73 Hans Gunter Hockerts 1971 S 115 Dokthema Schweigen und vertuschen Die Todsunden der katholischen Kirche Ab Minute 9 45 im Teil 2 abgerufen am 14 Mai 2023 Hans Mommsen Der Nationalsozialismus als sakulare Religion 2001 S 48 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Sittlichkeitsprozesse gegen Ordensangehorige und Priester im Nationalsozialismus amp oldid 233900990