Die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (englisch Jerusalem Declaration on Antisemitism, abgekürzt JDA) vom März 2021 definiert Antisemitismus wie folgt:
„Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).“
Außerdem enthält sie eine Präambel und Reihe von Leitlinien mit Beispielen. Sie wurde ab Juni 2020 von etwa 20 Wissenschaftlern erstellt und von rund 359 weiteren unterzeichnet. Sie richtet sich gegen die Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) von 2016, die bis 2020 56 Staaten und viele Institutionen weltweit anerkannt hatten, die aber auch von hunderten Wissenschaftlern und zahlreichen Institutionen kritisiert bzw. abgelehnt wurde.
Entstehung Bearbeiten
Nach Angaben der JDA-Webseite erstellten wechselnde Arbeitsgruppen aus Autoren, die zu Antisemitismus, zum Holocaust oder verwandten Themen publiziert haben, den Text von Juni 2020 bis März 2021 online. Als Koordinatoren der Arbeitstreffen nennt die Webseite die Professoren Seth Anziska, Aleida Assmann, Alon Confino, David Feldman, Amos Goldberg und Stefanie Schüler-Springorum sowie Brian Klug und Emily Dische-Becker. Weil das erste Autorentreffen am Van Leer Jerusalem Institute stattfand, wurde die Erklärung nach Jerusalem benannt.
Die Erstunterzeichner der JDA waren mehr als 200 Wissenschaftler, Professoren und Institutsleiter aus Europa, Israel, Kanada und den USA, darunter Taner Akçam, Gadi Algazi, Aleida Assmann, Omer Bartov, Peter Beinart, Wolfgang Benz, Werner Bergmann, Michael Berkowitz, Monica Black, Daniel Blatman, Omri Boehm, Daniel Boyarin, Christina von Braun, Micha Brumlik, John Bunzl, Francesco Cassata, Sebastian Conrad, Natalie Zemon Davis, Debórah Dwork, Helga Embacher, Richard Falk, David Feldman, Ulrike Freitag, Ute Frevert, Katharina Galor, Sander Gilman, Carlo Ginzburg, Svenja Goltermann, Leonard Grob, Atina Grossmann, Wolf Gruner, Sonja Hegasy, Deborah Hertz, Dagmar Herzog, Susannah Heschel, Marianne Hirsch, Eva Illouz, Uffa Jensen, Jonathan Judaken, Brian Klug, Teresa Koloma Beck, Tony Kushner, Dominick LaCapra, Kerstin von Lingen, Hanno Loewy, Sergio Luzzatto, Avishai Margalit, Brendan McGeever, Eva Menasse, Dirk Moses, Samuel Moyn, Susan Neiman, Xosé Manoel Núñez Seixas, Valentina Pisanty, Mark Roseman, Dirk Rupnow, Philippe Sands, Gisèle Sapiro, Peter Schäfer, Stefanie Schüler-Springorum, Raz Segal, Michael P. Steinberg, Michael Stolleis, Heidemarie Uhl, Peter Ullrich, Uğur Ümit Üngör, Michael Walzer, Bernd Weisbrod, Eric D. Weitz, Michael Wildt, Abraham B. Yehoshua, Noam Zadoff, Lothar Zechlin, Yael Zerubavel, Moshe Zimmermann, Steven J. Zipperstein, und Moshe Zuckermann.
Absicht und Inhalt Bearbeiten
Die JDA kritisiert die Arbeitsdefinition der IHRA als „weder klar noch kohärent“ und wirft ihr vor, den Unterschied zwischen antisemitischer Rede und legitimer Kritik an Israel und am Zionismus zu verwischen. Damit delegitimiere die IHRA israelkritische Stimmen von Palästinensern und anderen, auch Juden. Dies erschwere den Kampf gegen Antisemitismus. Die JDA will antisemitische Rede über Israel und Zionismus von legitimer Israelkritik unterscheiden helfen und damit die für sie unklaren Kriterien der IHRA überwinden. Damit will sie auch staatliche Gesetzgebung gegen Diskriminierung und für Meinungsfreiheit erleichtern, aber keinen legalen Code zur Festlegung von Hassrede bieten.
Die JDA unterscheidet den Antizionismus kategorisch vom Antisemitismus und will vor allem nicht-antisemitischen Antizionismus als freie Rede schützen. Sie versteht Zionismus als jüdischen Nationalismus, der einer Debatte prinzipiell offenstehe, während Bigotterie und Diskriminierung gegen Juden oder andere nie akzeptabel seien. Die JDA-Autoren erklären, dass sie damit keine politische Agenda und keine einheitliche Lösung des Israel-Palästina-Konflikts verfolgen.
Die JDA enthält 15 Richtlinien, davon fünf allgemeine und zehn spezielle zu Israel und Palästina. Diese reagieren auf die IHRA-Beispiele und die öffentliche Debatte zum selben Thema. Einige Richtlinien heben die Autoren selbst hervor: Nach Richtlinie 10 ist es antisemitisch, das Recht von Juden zu bestreiten, kollektiv und individuell als Juden im Staat Israel zu existieren und zu gedeihen. Dies widerspreche nicht den Richtlinien 12 und 13, wonach Kritik am Zionismus, Argumente für eine andere, volle Gleichheit garantierende staatliche Verfassung für die Region „zwischen dem Fluss und dem Meer“ und empirische Kritik am Staat Israel, seinen Institutionen und Gründungsprinzipien nicht antisemitisch seien. Die 14. Richtlinie erklärt die antiisraelische Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) zu einer Protestform gegen Staaten, die nicht per se antisemitisch sei. Die Autoren geben an, dass sie keine einheitliche Meinung zu BDS vertreten.
Rezeption Bearbeiten
Nach ihrer Veröffentlichung wurde die JDA von mehr als 200 weiteren Wissenschaftlern unterzeichnet, darunter Yaakov Ariel, Jan Assmann, Annette Becker, Seyla Benhabib, Frank Biess, Donald Bloxham, Marina Caffiero, Jennifer Evans, Federico Finchelstein, Efrat Gal-Ed, Alexander Korb, Per Leo, Giovanni Levi, Ruth Mandel, Paul Mendes-Flohr, Ralf Michaels, Eva Mroczek, Ephraim Nimni, Robert Jan van Pelt, David Ranan, Roberto Saviano, Wolfgang Schieder, Jason Stanley, Ilan Stavans, Dan Stone, Enzo Traverso, Nadia Urbinati und Ulrich Wyrwa.
Einige deutsche Medienberichte begrüßten die JDA als Beitrag zu einer sachlichen Debatte um Antisemitismus und Israelkritik. In Israel äußerte sich Omer Bartov, ein Unterzeichner der JDA, ähnlich positiv dazu.
Alan Posener, Jürgen Kaube, Rafael Seligmann, Jan Feddersen, Guenther Jikeli, Uwe Becker und das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus kritisierten die JDA als Verharmlosung von antisemitischen Formen der sogenannten Israelkritik.
Der Politikwissenschaftler und Historiker Matthias Küntzel behauptete, die JDA sei nicht von Holocaustforschern verfasst und nur von wenigen renommierten Holocaust- und Antisemitismusforschern unterzeichnet worden. Nach Küntzels Ansicht verbindet die Unterzeichner nicht der „spezifische Sachverstand“, sondern „der politische Wille, den Israelhass vom Stigma des Antisemitismus zu befreien“.
Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, selber Erstunterzeichnerin der Erklärung und Mitglied der „Coordinating Group“ der JDA, streicht heraus, dass die Jerusalemer Erklärung den Kampf gegen Antisemitismus untrennbar mit dem Kampf gegen weitere Formen von Diskriminierungen verbinde, ob sie nun rassistisch, ethnisch, kulturell, religiös oder geschlechtsspezifisch seien. Die Anerkenntnis der Singularität des Holocaust bedeute nicht, dass dafür Ausschließlichkeit als Gegenstand des Erinnerns beansprucht werden dürfe. In Bezug auf den Palästinakonflikt heißt es in Leitlinie 12 der Erklärung explizit: „Es ist nicht per se antisemitisch, Regelungen zu unterstützen, die allen Bewohner:innen zwischen dem [Jordan] und dem Meer volle Gleichberechtigung zugestehen, ob in zwei Staaten, einem binationalen Staat, einem einheitlichen demokratischen Staat, einem föderalen Staat oder in welcher Form auch immer.“
Hingegen deuten die drei Antisemitismusforscher Lars Rensmann, Julia Bernstein und Monika Schwarz-Friesel die JDA als inkonsistent, unwissenschaftlich, als Rückfall hinter den langjährigen Forschungsstand zu israelbezogenem Antisemitismus und als politisches Manifest gegen den jüdischen und demokratischen Staat Israel.
Weblinks Bearbeiten
- The Jerusalem Declaration on Antisemitism (englisch/deutsch)
Einzelnachweise Bearbeiten
- https://jerusalemdeclaration.org/
- Alex Feuerherdt, Florian Markl: Die Israel-Boykottbewegung. Alter Hass in neuem Gewand. Hentrich & Hentrich, Leipzig 2020, ISBN 978-3-95565-396-5, S. 81.
- A new Canadian Jewish faculty group opposes the IHRA definition of antisemitism; “Do not politicize the fight against antisemitism”; 128 scholars warn: ‘Don’t trap the United Nations in a vague and weaponized definition of antisemitism’; Legislative Threats to Academic Freedom: Redefinitions of Antisemitism and Racism; Progressive Israel Network Groups Oppose Codification of IHRA Working Definition of Antisemitism, Citing Strong Potential for Misuse; US Reform movement: IHRA definition of anti-Semitism should not be law; National Council of Jewish Women Position on International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) Definition; 40+ Jewish groups worldwide oppose equating antisemitism with criticism of Israel; Anti-Semitism Awareness Act of 2018; Human Rights Watch Letter to Co-Sponsors of Proposed ABA Resolution 514 on Antisemitism; CCR Joins Rights Organizations in Opposing Anti-Semitism Awareness Act; ABA removes international definition of antisemitism from its resolution condemning the problem; UCL board rejects IHRA definition of antisemitism; A Working Report from the AJS Task Force on Antisemitism and Academic Freedom; Written evidence from the British Society for Middle Eastern Studies (BRISMES); Statement on adopting the IHRA definition at UK Universities and worldwide; IHRA definition of antisemitism rejected at Aberdeen University; ANU rejects IHRA definition; Liberté académique et critique d'Israël : la FQPPU adopte une résolution s'opposant à la définition de l'antisémitisme promue par l'IHRA; Strasbourg rejette l’adoption de la définition de l’antisémitisme de l’IHRA.
- ↑ The Jerusalem Declaration on Antisemitism; Unterschriften unter Signatories, Richtlinien unter Guidelines im Seitenmenue
- Jerusalem Declaration, unter “Post-launch signatories”.
- Alexander Diehl: „Nicht alles, was politisch falsch ist, ist auch antisemitisch“. (Interview mit Micha Brumlik) taz, 22. Juni 2021;
Stefan Reinecke: Verständnis von Antisemitismus: Versuch einer Neudefinition. taz, 28. März 2021;
Katharina Galor: Der Versuch einer neuen Definition. Zeit Online, 29. März 2021;
Harry Nutt: „Jerusalemer Erklärung“: Faktenbasierte Aufmerksamkeit bei der Definition von Antisemitismus. Frankfurter Rundschau, 29. März 2021;
Hanno Loewy: Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus: Falsche Freunde, falsche Feinde. taz, 29. März 2021;
Micha Brumlik, Axel Rahmlow: Jerusalemer Erklärung. Antisemitismus neu definiert. Deutschlandfunk (DLF), 26. März 2021;
Christiane Habermalz: Eine neue Definition für Antisemitismus. DLF, 26. März 2021;
Dirk Moses: Der Katechismus der Deutschen. Geschichte der Gegenwart, 23. Mai 2021;
Leticia Witte: Hoffnung auf lebhafte Diskussion. Domradio, 1. April 2021 - Omer Bartov: Criticism of Israel and its Policies isn't Antisemitism. Haaretz, 30. März 2021
- Alan Posener: Jerusalemer Erklärung. Was ist das, wenn nicht antisemitisch? Die Welt, 29. März 2021;
Jürgen Kaube: Neue Antisemitismus-Definition: Was ist per se Hass? FAZ, 26. März 2021;
Rafael Seligmann: Jerusalemer Erklärung. Nützliche Idioten der Antisemiten. Cicero, 29. März 2021;
Jan Feddersen: Antisemitismus und Israel. Das große Poltern. taz, 2. April 2021;
Guenther Jikeli: Antisemitismus in Deutschland: „Vom Fluss bis zur See …“. taz, 6. Juni 2021;
Uwe Becker: Gefährliche Blaupause. Jüdische Allgemeine, 30. März 2021 - Warum wir an der IHRA-Definition festhalten. Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e.V., 1. April 2021
- Matthias Küntzel: Intervention: Aber irgendwie doch. Perlentaucher, 30. März 2021; Matthias Küntzel: Nicht per se antisemitisch, aber irgendwie doch. Zur „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“. Audiatur-online.ch, 30. März 2021
- Aleida Assmann: Wie viel Geschichte braucht die Zukunft?. In: Merkur Heft 869, Oktober 2021, 75. Jahrgang, S. 5–17, hier S. 15.
- Lars Rensmann: Die „Jerusalemer Erklärung“: Eine Kritik aus Sicht der Antisemitismusforschung. Belltower News, 25. Mai 2021
- Julia Bernstein, Lars Rensmann, Monika Schwarz-Friesel: »Jerusalemer Erklärung«: Faktisch falsche Prämissen. Jüdische Allgemeine, 8. April 2021