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Industriemelanismus bezeichnet eine Variante des Melanismus das heisst einer besonders ausgepragten Einlagerung von dunklen Pigmenten speziell von Melanin in die Zellen der Haut Die Bezeichnung entstand nachdem beim Birkenspanner Biston betularia einem Nachtfalter Ende des 19 Jahrhunderts in englischen Industriegebieten ein drastischer Wandel seines ausseren Erscheinungsbilds beobachtet worden war Hatten zuvor die Individuen einer hellen Morphe dominiert traten danach vorwiegend dunkel gefarbte Individuen auf so genannte carbonaria Morphen Helle Morphe des BirkenspannersDunkle Morphe des BirkenspannersDer Industriemelanismus gilt als ein Paradebeispiel dafur dass Umweltveranderungen den Verlauf der Stammesgeschichte innerhalb kurzester Zeitspannen stark beeinflussen konnen Eine 2011 publizierte Genanalyse kam zu dem Ergebnis dass alle carbonaria Morphen uber dasselbe Allel singular origin verfugen und dass dieses Allel erst in jungerer Zeit entstanden ist 1 Inhaltsverzeichnis 1 Der historische Hintergrund 2 Zweifel an der Deutung der Beobachtungen 3 Eine Langzeitstudie 4 Genetische Grundlage 5 BelegeDer historische Hintergrund BearbeitenBirkenspanner sind typischerweise hell gefarbt und daher wenn sie auf der gleichfalls hellen Rinde von Birken sitzen vom Untergrund selbst aus nachster Nahe kaum zu unterscheiden Diese Tarnung ein Schutz vor Fressfeinden versagte als infolge der seinerzeit dramatischen Luftverschmutzung durch Fabrikschornsteine die Birken zunehmend von Russ dunkel gefarbt und die auf ihnen siedelnden Flechten abgetotet wurden 1848 beobachtete man in der Nahe von Manchester erstmals eine grossere Anzahl dunkel gefarbter Exemplare Bereits 1895 waren im Industriegebiet bei Manchester 98 Prozent aller Birkenspanner dunkel gefarbt Auch bei mindestens 70 anderen Schmetterlingsarten veranderte sich die Haufigkeitsverteilung ihres ausseren Erscheinungsbilds in vergleichbarer Weise 2 Seit den 1960er Jahren ging der Anteil der melanistischen Varianten in den englischen Industrieregionen parallel zur Verringerung der Luftverschmutzung wieder erheblich zuruck Der im Vergleich zur Ausgangssituation im 19 Jahrhundert noch immer leicht erhohte Anteil der dunklen Form zu Beginn des 21 Jahrhunderts wird von Forschern darauf zuruckgefuhrt dass die Birken wegen der noch immer vorhandenen Belastung der Luft mit Abgasen vielerorts noch immer kaum von Flechten besiedelt sind und die hellen Individuen daher noch keine optimalen Lebensbedingungen vorfinden Zweifel an der Deutung der Beobachtungen BearbeitenEin weit verbreiteter Irrtum ist dass der Birkenspanner tagsuber vor allem auf der Rinde von Baumstammen gefunden werden kann Hervorgerufen wurde der Irrtum durch Fotos in diversen Lehrbuchern der Okologie und der Evolutionsforschung die weisse Exemplare auf dunklen Baumstammen und dunkle Exemplare auf hellen Baumstammen zeigten Diese Fotos bildeten jedoch keine frei lebenden Exemplare ab sondern sie entstammten bestimmten Experimenten die ab 1953 mehrfach wiederholt wurden Tatsachlich betragt der Anteil der Falter die tagsuber auf Baumstammen ruhen uberschlagig etwa ein Drittel In einer Studie wurden 135 ruhende Individuen gefunden davon 48 an Baumstammen 70 auf horizontalen Asten meist an der unteren Halfte und 17 auf oder unter Zweigen 3 Erstmals publiziert wurden solche Experimente zum Industriemelanismus im Jahr 1955 von Bernard Kettlewell 4 einem Zoologen der Universitat Oxford der eine bereits 1896 von dem Schmetterlingsexperten James William Tutt 1858 1911 formulierte Hypothese uberprufte 1953 und 1955 hatte Kettlewell im stark verschmutzten Ort Rubery bei Birmingham sowie in unbelasteten Landstrichen von Dorset in den Morgenstunden jeweils Hunderte Birkenspanner beider Farbauspragungen an Baumstammen ausgesetzt wo die Tiere meist sofort ihre Ruhestellung einnahmen 5 Abends ermittelte Kettlewell mit Hilfe von Schmetterlingsfallen die Verteilungshaufigkeit beider Farbauspragungen und stellte dabei fest dass er bei Birmingham doppelt so viele dunkle wie helle Varianten einfangen konnte wahrend in Dorset das Verhaltnis gerade umgekehrt war Unter Fachkollegen stiess seine Studie auf Unglauben da weder Lepidopterologen noch Ornithologen Vogel als relevante Fressfeinde von Nachtfaltern ansahen Deshalb bat Kettlewell den Verhaltensforscher und erfahrenen Tierfotografen und filmer Nikolaas Tinbergen eine Wiederholung der Experimente zu dokumentieren Daraufhin wurde 1958 von Tinbergen tatsachlich eine Filmdokumentation veroffentlicht die uberzeugend nachwies dass helle Schmetterlinge auf dunkler Rinde haufiger von Vogeln entdeckt und verzehrt werden als dunkle Individuen Erst 1998 wies Michael Majerus ein Genetiker der Universitat Cambridge darauf hin dass diese Experimente kein uberzeugender Beleg fur die naturlichen Vorgange waren die zu einer Verschiebung des Verhaltnisses von hellen zu dunklen Individuen gefuhrt hatten Die okologischen Zusammenhange die Ubernachtungsplatze der Falter seien nicht hinreichend genau beachtet und das Beuteverhalten der Vogel durch ein Uberangebot an Faltern unangemessen gefordert worden 6 Zudem wurde die Relativierung des Selektionsdrucks durch tagaktive Vogel durch die nicht selektive nachtliche Bejagung durch Fledermause nicht ausreichend in die Studien einbezogen 7 Majerus Kritik an Kettlewells Vorgehen wurde 2002 von der Journalistin Judith Hooper in einem popularwissenschaftlichen Buch zugespitzt Sie warf Kettlewell wissenschaftlichen Betrug vor 8 Der Evolutionsforscher Jerry Coyne University of Chicago wies diese Unterstellung in der Fachzeitschrift Nature zwar umgehend zuruck 9 dennoch wurde Majerus fachliche Kritik und das popularwissenschaftliche Buch von Kreationisten als Beleg fur einen grossen evolutionsbiologischen Schwindel herangezogen Eine Langzeitstudie BearbeitenIm Jahr 2002 begann Michael Majerus eine auf funf Jahre angelegte Feldstudie um die Hypothese erneut und diesmal naturnah zu uberprufen der zufolge die Haufigkeit der hellen und der dunklen Birkenspanner Form durch das Beutemachen von Vogeln beeinflusst wird 3 Diese Studie war explizit so angelegt alle bis dahin vorgebrachten Kritikpunkte an Kettlewells Versuchsdesign abzudecken Im Madlingley Wood westlich Cambridge wurden an unterschiedlichen Teilen von 103 hellen und flechtenbewachsenen Birken wildfarbene und melanistische Birkenspanner im selben Haufigkeitsverhaltnis ausgesetzt die diese zu diesem Zeitpunkt in der Wildpopulation hatten anfangs etwa 12 Prozent melanistische am Ende der Versuchsserie waren davon noch 97 vorhanden Sturmverluste Alle ausgesetzten Tiere etwa 800 pro Jahr stammten aus der Region in der sie auch freigelassen wurden ihre Dichte war im Versuchsgebiet nicht gegenuber normalen Verhaltnissen uberhoht sie wurden nur in ihrer naturlichen Aktivitatsperiode ausgesetzt Mannchen und Weibchen Tiere aus Nachzuchten und wieder freigelassene Wildfange wurden separat analysiert Die Tiere wurden in der Dammerung in grossen Kafigen freigelassen so dass sie sich bei Sonnenaufgang selbst einen Ruheplatz auswahlen konnten der Kafig anschliessend entfernt Die ruhenden Motten wurden jeweils nach vier Stunden wieder aufgesucht und vorhandene und aufgrund von Pradation durch Vogel fehlende vermerkt die Spanner sind bei Tageslicht inaktiv und bewegen sich nicht Das Ergebnis dieses sehr aufwandigen Versuchs war Von der melanistischen Form wurde durchschnittlich ein Anteil von 29 2 Prozent gefressen von der hellen Form 21 2 Prozent Das ergibt einen Selektionskoeffizienten von 0 22 gegen die melanistische Form Die Haufigkeit der melanistischen Form sank im Untersuchungszeitraum 2002 bis 2007 im selben Gebiet parallel dazu von 12 Prozent auf gut ein Prozent dies ergabe umgerechnet einen Selektionskoeffizienten von 0 29 gegen die melanistische Form Die Unterschiede zwischen diesen Koeffizienten sind statistisch nicht signifikant Damit kann es als nachgewiesen gelten dass Pradation durch Vogel als Grund ausreichend ist den beobachteten Ruckgang der melanistischen Form auf den wieder hellen Baumen zu erklaren Zusatzlich wurden wahrend des Experiments eine Reihe von Vogeln direkt bei der Attacke auf ruhende Birkenspanner beobachtet darunter Rotkehlchen Feldsperling Kohlmeise Blaumeise Amsel Unklar ist allerdings weiterhin welche zusatzlichen Faktoren die Haufigkeitsverteilung beider Birkenspanner Formen beeinflussen In East Anglia war die dunkle Form schon immer relativ haufig obwohl dort niemals eine besonders hohe Luftverschmutzung zu verzeichnen war 10 Die Kontroversen um die Ursachen des Industriemelanismus beim Birkenspanner werden immer wieder von Kreationisten genutzt um die Mechanismen der Evolution in Frage zu stellen Eine unvollstandige Deutung der Ursachen fur die Auftretenshaufigkeit von Farbvarianten beim Birkenspanner hat jedoch in diesem Zusammenhang keinerlei Beweiskraft denn eine Veranderung von okologischen Einflussgrossen von so genannten Umweltfaktoren wird ja selbst von den Kritikern der Theorie vom Industriemelanismus in Rechnung gestellt Genetische Grundlage BearbeitenDie spezifische Identitat und die Art der Sequenzdifferenz wurden 2016 festgestellt Eine britische Forschungsgruppe die die Befunde in Nature publizierten zeigte dass das Mutationsereignis das zu Industriemelanismus fuhrte die Insertion eines grossen transponierbaren Elements in das erste Intron eines Gens namens cortex war Die Forscher schreiben in Nature Wir haben begonnen die Wirkungsweise des Carbonaria Elements zu zerlegen indem wir zeigen dass es die Haufigkeit eines Cortex Transkripts erhoht dessen Proteinprodukt eine wichtige Rolle bei der Zellzyklusregulation spielt Unsere Ergebnisse fullen eine wesentliche Wissenslucke im ikonischen Beispiel des mikroevolutionaren Wandels und fugen eine weitere Ebene der Einsicht in den Mechanismus der Anpassung als Antwort auf die naturliche Selektion hinzu Die Entdeckung dass die Mutation selbst ein transponibles Element ist wird eine weitere Debatte uber die Bedeutung von springenden Genen als Quelle der grossen phanotypischen Neuheit stimulieren 11 Belege Bearbeiten Arjen E van t Hof et al Industrial Melanism in British Peppered Moths Has a Singular and Recent Mutational Origin In Science Band 332 Nr 6032 2011 S 958 960 doi 10 1126 science 1203043 Klaus Lunau Warnen Tarnen Tauschen Mimikry und andere Uberlebensstrategien in der Natur Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2002 S 115 ISBN 3 534 14633 6 a b Michael E N Majerus Industrial Melanism in the Peppered Moth Biston betularia An Excellent Teaching Example of Darwinian Evolution in Action In Evolution Education and Outreach Band 2 2009 S 63 74 doi 10 1007 s12052 008 0107 y Henry Bernard Davis Kettlewell Selection experiments in industrial melanism in the Lepidoptera In Heredity Band 9 1955 S 323 342 doi 10 1038 hdy 1955 36 Jaap de Roode The moths of war In New Scientist Band 196 Nr 2633 8 Dezember 2007 S 46 Michael E N Majerus Melanism Evolution in action Oxford University Press 1998 ISBN 0 19 854983 0 Inhaltsubersicht Axel Hausmann Faszination Biodiversitat In Eva Maria Herzog Hans Christian Bauer Hrsg Blickpunkt Darwin Sind Darwins Theorien heute noch gultig Salzburg 2011 S 11 31 Vorlesungsreihe der Universitat Salzburg Judith Hooper Of Moths and Men An Evolutionary Tale The Untold Story of Science and the Peppered Moth Fourth Estate London 2002 Nachdruck bei W W Norton amp Company 2003 ISBN 0 393 32525 3 Jerry A Coyne Evolution under pressure In Nature Band 418 2002 S 19 20 doi 10 1038 418019a Coyne hatte u a angemerkt dass der Industriemelanismus noch immer ein grossartiges Beispiel fur den Prozess der Evolution sei a splendid example of evolution in action Jaap de Roode The moths of war S 49 Arjen E van t Hof Pascal Campagne Daniel J Rigden et al The industrial melanism mutation in British peppered moths is a transposable element In Nature Band 534 2016 S 102 105 doi 10 1038 nature17951 Volltext Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Industriemelanismus amp oldid 222628410