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Es gibt in der Volkerkunde verschiedene ethnologische Theorien zur Gewalt weil der Gewaltbegriff umstritten ist und es keine allgemeingultige und eindeutige Definition gibt Die Ethnologie der Gewalt ist ein junger Forschungsbereich eine ausfuhrliche Theoriebildung fand erst seit den 1940er Jahren statt Laut Nancy Scheper Hughes und Philippe Bourgois vermieden viele Ethnologen bis weit ins 20 Jahrhundert hinein vor allem deshalb die Untersuchung ethnischer oder indigener Gewaltformen um durch ihre Analyse nicht das Vorurteil von der Primitivitat und Brutalitat indigener Volker zu starken 1 Ethnologische Ansatze konnen auf einer etischen oder emischen Herangehensweise basieren Bei einem etischen Vorgehen welches sich durch eine Analyse vor dem Hintergrund westlich gepragter Wissenschaftskonzepte auszeichnet kann eine kulturvergleichende Studie durchgefuhrt werden Ein emisches Vorgehen hingegen versucht das Phanomen Gewalt mit den jeweiligen kultureigenen Begriffen und Konzepten darzustellen 2 Die soziale Rolle von Gewalthandlungen in verschiedenen kulturellen Zusammenhangen ihre kulturspezifischen Ursachen und Bedingungen sowie die je nach Kultur unterschiedlichen Konzeptionen von Gewalt sind zentrale Fragestellungen der Forschung Wichtige Themen in der ethnologischen Untersuchung von Gewalt sind Nationalitat Ethnizitat Rache rumor and gossip Geruchte und Klatsch Alkoholkonsum Religion Aggressivitat Kriegsfuhrung Suizid Hexerei strukturelle Auswirkungen von Gewalt sowie Gewaltlosigkeit Es werden unter anderem strukturelle Gewalt 3 symbolische Gewalt 4 und physische Gewalt unterschieden Letztere beinhaltet eine relativ eng umgrenzte Gewaltdefinition die eine intendierte korperliche Schadigung als Grundlage hat Trotzdem konnen sich auch vor dem Hintergrund einer engen Definition verschiedene Perspektiven und Bewertungen von ein und demselben Kraftakt auftun 2 Diese Perspektivdifferenz zum Thema Gewalt greift David Riches einer der bedeutendsten Vertreter der Ethnologie der Gewalt in seiner Theorie des Dreiecks der Gewalt bestehend aus Tater Opfer und Zeuge aus dem Jahr 1986 auf Danach hangt die Definition von Gewalt letztlich von der Beurteilung der Beteiligten ab 5 Die Erklarung von Riches konzentriert sich auf phanomenologische und handlungsmotivierende Aspekte von Gewalt Daneben gibt es heute eine Vielzahl von Theorien die gewalttatige Handlungen in ihrem historischen Kontext betrachten 6 Untersucht werden sowohl Vorbedingungen fur als auch Konsequenzen von Gewaltakten Narrative Ansatze neigen dazu Beweggrunde fur Gewalt zu erklaren sie zu legitimieren und Menschen damit letztendlich zur Ausubung von Gewalt zu motivieren 7 Weiterhin wird zwischen individueller und kollektiver Gewalt unterschieden Wird Gewalt auf das Individuum bezogen untersucht liegt der Fokus auf der subjektiven Erfahrung Bei kollektiver Gewalt sind die Folgen einer als gewalttatig aufgefassten sozialen Handlung entscheidend 8 Inhaltsverzeichnis 1 Theorien zur Gewalt 1 1 David Riches 1 2 Abbink und Ajmer 1 3 Schroeder und Schmidt 1 4 Stewart und Strathern 1 5 Erwin Orywal 1 6 Nancy Scheper Hughes 1 7 Veena Das 2 Siehe auch 3 EinzelnachweiseTheorien zur Gewalt BearbeitenDavid Riches Bearbeiten Als einer der ersten ausfuhrlicheren Ansatze zur Theoriebildung uber Gewalt innerhalb der Ethnologie gilt David Riches Konzept des Dreiecks der Gewalt aus dem Jahr 1986 9 Sein Ansatz ist phanomenologisch und die ihm zugrunde liegende Gewaltdefinition eng Riches versteht Gewalt als an act of physical hurt deemed legitimate by the performer and illegitimate by some witnesses ein Akt des Zufugens von physischen Schmerzen der vom Verursacher als legitim und von einigen Zeugen als illegitim angesehen wird 10 Das Dreieck der Gewalt begreift Gewalt als eine Handlung die aus drei Akteuren besteht einem Tater einem Opfer sowie einem Zeugen Die unterschiedliche Wahrnehmung und Bewertung dieser Akteure von ein und derselben Krafthandlung fuhrt dazu dass letztendlich die Bewertung der Betroffenen die Handlung als gewalttatig oder nicht definiert 9 Physische Gewalt hat somit den Charakter einer interpretativen Mehrdeutigkeit Ein weiterer Punkt in Riches Ansatz sind vier von ihm herausgearbeitete Eigenschaften von Gewalt die sie zu einer soziale n und kulturelle n Ressource werden lassen Gewaltausubungen wurden immer Gefahr laufen in ihrer Legitimitat hinterfragt zu werden Gewalt als solche werde selten missverstanden die Anwendung von Gewalt sei fur die Sinne hochst sichtbar und es bedarf wenig ausser der Kraft des menschlichen Korpers um jemandem wirksamen Schaden zuzufugen 11 In Anbetracht dieser Annahmen konne Gewalt zu einem hochst effizienten Instrument zur Interessendurchsetzung und Zielerreichung werden Riches geht davon aus dass Menschen trotz immer vorhandener Alternativen zu einer gewalttatigen Losung tendieren und bezeichnet Gewalt als eine strategy which is basic to the experience of social interaction Strategie die fur die Erfahrung sozialer Interaktion fundamental ist 12 Abbink und Ajmer Bearbeiten Die theoretischen Bezuge die von Jon Abbink und Goran Ajmer in ihrem im Jahr 2000 erschienenen Buch Meanings of Violence gemacht werden berucksichtigen eine Vielzahl von Einflussen fokussieren jedoch in erster Linie auf Kommunikation und der mit ihr einhergehenden symbolischen Bedeutung wie sie auch in der Religion und im Ritual vorkommen 13 So unterstreicht Abbink dass es sich bei Gewalt um kommunikative Akte handelt die durch ihre Symbolkraft an Bedeutung gewinnen 14 Aijmer gliedert zwischen vorgestellter diskursiver und ethologischer Ordnung 15 Diese Einteilung sieht er als entscheidend fur die Erklarung von Gewalt in unterschiedlichen Gesellschaften Schroeder und Schmidt Bearbeiten Im Spannungsfeld von imaginisierter Gewalt und gewalttatiger Praxis unterscheiden Ingo W Schroeder und Bettina E Schmidt in ihrem 2001 herausgegebenen Buch Anthropology of Violence and Conflict zwischen operationalen kognitiven und experimentellen Zugangen zur Untersuchung von Gewalt Die operationale Herangehensweise fokussiert auf gegenstandliche und politische Grunde die kognitive auf kulturelle Konstruktionen und die experimentelle auf subjektive Empfindungen im Zusammenhang mit Gewalt 16 Infolge dieser Klassifizierung offnet sich ein allgegenwartiger theoretischer Handlungsspielraum Schroeder und Schmidt erganzen dass es eine Vorstellung von dem geben muss was Gewalt ausmacht damit gewisse Handlungen uberhaupt als solche durchgefuhrt und interpretiert werden konnen 17 Stewart und Strathern Bearbeiten Pamela J Stewart und Andrew Strathern unterscheiden zwischen funktionaler und symbolischer Gewalt Funktionale Gewalt bezieht sich auf Recht und Ordnung im Zusammenhang mit reziproker Gewalt 18 Symbolische Gewalt sucht im analytischen Stil postmoderner Theorien nach den subjektiven Erfahrungen und kulturellen Bedeutungen die mit Gewalt assoziiert werden 19 Assoziationen zwischen der Idee von Rache und Rechtssystemen rucken in ihrer Analyse ethnographischer Daten vermehrt in den Vordergrund Erwin Orywal Bearbeiten Erwin Orywal 1949 2019 als Vertreter der kognitiven Ethnologie untersucht kulturelle Dispositionen bei der proximaten Ursache individueller oder kollektiver Gewaltanwendung 20 Er geht von einem in seinem Ausmass durch die jeweilige Kultur gepragtem individuellen Aggressionspotential des Menschen aus und vertritt die These dass gewaltsame Konfliktlosungsstrategien in den kulturellen Uberzeugungssystemen konzeptualisiert sind 21 Mitglieder einer Kultur handeln aufgrund von Bewertungen welche sich empirisch als Werte und Normen bzw Uberzeugungen oder Ideale in einer Kultur manifestieren Daraus folgt nach Orywal Je positiver eine kognitiv emotive Rechtfertigung von individuell oder kollektiv gewaltsamen Handeln und je wahrscheinlicher dieses Handeln zur Realisierung der erwunschten Konsequenzen bewertet wird desto grosser ist die Wahrscheinlichkeit dass es zu einem entsprechenden Handeln kommt 21 Beispiele fur Gewalt legitimierende Werte und Uberzeugungen sind nach Orywal Mannlichkeitsideale Krieger und Heldenideale Feindbilder oder Freund Feind Schemata 22 Daneben misst er dem Vorhandensein einer strukturellen Kriegsfahigkeit z B professionelle Krieger eine hohe Bedeutung zu Je umfassender sich eine strukturelle Kriegsfahigkeit in einer Gesellschaft gestaltet desto wahrscheinlicher ist auch eine positive Rechtfertigung der Anwendung kriegerischer Verteidigungs oder Angriffs Gewalt Er macht dabei aber deutlich dass es ohne mentale Gewaltbereitschaft auch keine organisierte Gewaltanwendung geben konne 20 Nancy Scheper Hughes Bearbeiten Nancy Scheper Hughes beschaftigt sich in ihren Arbeiten vornehmlich mit struktureller und politischer Gewalt Der Fokus liegt dabei zum einen auf den small wars and invisible genocides kleinen Kriegen und unsichtbaren Genoziden 23 die die Schnittstelle von offentlicher und verdeckter Gewalt darstellen zum anderen auf der violence of everyday life der alltaglichen Gewalt 24 Unter alltaglicher Gewalt wird die implizit legitimierte Gewalt in bestimmten Staatsformationen und sozialen Institutionen wie dem Haushalt verstanden 25 Zusammen mit Philippe Bourgois pragt sie zudem den Begriff des violence continuum Gewaltkontinuum das alle Arten sozialer Ausgrenzung Enthumanisierung Depersonalisierung Pseudospeziation und jeglicher Versachlichungen die eine Normalisierung grausamen Verhaltens gegenuber Anderen mit sich bringen einschliesst 26 Pseudospeziation wurde von Erik Erikson gepragt und bezeichnet die Klassifikation bestimmter menschlicher Gruppen als Untermenschen also als weniger als normale Menschen Veena Das Bearbeiten Sich der Empirie zuwendend merkt die indische Wissenschaftlerin Veena Das an dass eine rein theoretische mechanische Unterscheidung zwischen instrumenteller oder physischer Gewalt und expressiver oder symbolischer Gewalt den Analysten weg von der eigentlichen Bedeutung von Gewalt und somit von den Folgen fur das Individuum oder der Gemeinschaft fuhre 27 Im Sinne von Franco Basaglias Konzept der peace time crimes 28 sieht sie die Gewalt nicht als Unterbrechung des Normalzustandes sondern vielmehr als Implikation des Gewohnlichen an 29 Siehe auch BearbeitenJager und Sammler Krieg und Frieden in vorstaatlichen Gesellschaften Gewalt gegen Manner Gewalttaten Gewalt und Pornografie Zusammenhange Rituelle Gewalt in ein Glaubenssystem eingebettet Sexualisierte Gewalt Machtmissbrauch Institut fur interdisziplinare Konflikt und Gewaltforschung Universitat Bielefeld Weltbericht Gewalt und Gesundheit Weltgesundheitsorganisation WHO ab 2002 Gewalt Eine neue Geschichte der Menschheit Buch von Steven Pinker 2011 Macht und Gewalt Buch von Hannah Arendt 1970 Anatomie der menschlichen Destruktivitat Buch von Erich Fromm 1973 Einzelnachweise Bearbeiten Nancy Scheper Hughes N Bourgois Philippe Bourgois Hrsg Violence in War and Peace An Anthology In Blackwell Readers in Anthropology Band 5 Blackwell Malden 2005 S 6 a b G Elwert Sozianthropologisch erklarte Gewalt Internationales Handbuch der Gewaltforschung W Heitmeyer and G Albrecht Westdeutscher Verlag Wiesbaden 2002 S 336 337 Anmerkung Wurde ausfuhrlich diskutiert von Paul Farmer Philippe Bourgois und Nancy Scheper Hughes obwohl der Begriff ursprunglich durch den Politikwissenschaftler Johan Galtung gepragt wurde vergleiche Nancy Scheper Hughes N Bourgois Philippe Bourgois Hrsg Violence in War and Peace An Anthology In Blackwell Readers in Anthropology Band 5 Blackwell Malden 2005 Schmidt 2001 S 6 Symbolic dimension of violence may also backfire against its perpetrators and make it contestable on a discursive level not as a physical but as a performative act Bourdieu Symbolic Violence 1977 inherent but unrecognized violence that is maintained and naturalized within systems of inequality and domination Zitiert in Antonius C G M Robben Marcelo M Suarez Orozco Cultures Under Siege Collective Violence and Trauma in Interdisciplinary Perspectives Cambridge University Press New York 2000 S 249 David Riches Hrsg The Anthropology of Violence Blackwell Oxford u a 1986 ISBN 0 631 14788 8 S Pamela J Stewart Andrew Strathern Violence Theory and Ethnography Continuum London u a 2002 S 10 Pamela J Stewart Andrew Strathern Violence Theory and Ethnography Continuum London u a 2002 S 152 Bettina E Schmidt Ingo W Schroeder Anthropology of Violence and Conflict Routledge London 2001 S 18 European Association of Social Anthropologists a b Andrew Strathern Pamela J Stewart Gewalt Begriffliche Uberlegungen und die Bewertung von Handlungen In polylog Forum fur interkulturelle Philosophie e V Tubingen Oktober 2003 abgerufen am 12 Juli 2014 David Riches Hrsg The Anthropology of Violence Blackwell Oxford u a 1986 ISBN 0 631 14788 8 S 8 David Riches Hrsg The Anthropology of Violence Blackwell Oxford u a 1986 ISBN 0 631 14788 8 S 11 David Riches Hrsg The Anthropology of Violence Blackwell Oxford u a 1986 ISBN 0 631 14788 8 S 26 Pamela J Stewart Andrew Strathern Violence Theory and Ethnography Continuum London u a 2002 S 159 Jon Abbink Goran Ajmer Meanings of Violence A Cross Cultural Perspective Berg Oxford 2000 S xii Jon Abbink Goran Ajmer Meanings of Violence A Cross Cultural Perspective Berg Oxford 2000 S 3 4 Bettina E Schmidt Ingo W Schroeder Anthropology of Violence and Conflict Routledge London 2001 S 1 Bettina E Schmidt Ingo W Schroeder Anthropology of Violence and Conflict Routledge London 2001 S 9 Pamela J Stewart Andrew Strathern Violence Theory and Ethnography Continuum London u a 2002 S 5 Anmerkung Den alltaglichen und subjektiven Erfahrungen von Gewalt wenden sich auch folgende Autoren zu Veena Das Arthur Kleinman Margaret Lock Mamphela Ramphele und Pamela Reynolds a b Erwin Orywal Krieg oder Frieden Eine vergleichende Untersuchung kulturspezifischer Ideale der Burgerkrieg in Belutschistan Pakistan In Koelner ethnologische Mitteilungen Band 13 Reimer Berlin 2002 S 41 a b Erwin Orywal Krieg oder Frieden Eine vergleichende Untersuchung kulturspezifischer Ideale der Burgerkrieg in Belutschistan Pakistan In Koelner ethnologische Mitteilungen Band 13 Reimer Berlin 2002 S 39 Erwin Orywal Krieg oder Frieden Eine vergleichende Untersuchung kulturspezifischer Ideale der Burgerkrieg in Belutschistan Pakistan In Koelner ethnologische Mitteilungen Band 13 Reimer Berlin 2002 S 37 Nancy Scheper Hughes Small Wars The Cultural Politics of Childhood University of California Press Berkeley 2008 S Nancy Scheper Hughes Death Without Weeping The Violence of Everyday Life in Brazil University of California Press Berkeley 1993 S Antonius C G M Robben Marcelo M Suarez Orozco Cultures Under Siege Collective Violence and Trauma in Interdisciplinary Perspectives Cambridge University Press New York 2000 S 250 Nancy Scheper Hughes N Bourgois Philippe Bourgois Hrsg Violence in War and Peace An Anthology In Blackwell Readers in Anthropology Band 5 Blackwell Malden 2005 S 21 Veena Das The Anthropology of Violence and the Speech of Victims In Anthropology Today Band 3 Nr 4 1987 S 11 13 Nancy Scheper Hughes N Bourgois Philippe Bourgois Hrsg Violence in War and Peace An Anthology In Blackwell Readers in Anthropology Band 5 Blackwell Malden 2005 S 20 Veena Das Life and Words Violence and the Descent into the Ordinary University of California Press Berkeley 2007 S Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Ethnologische Theorien zur Gewalt amp oldid 236027899