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Die Karwoche frz Originaltitel La Semaine Sainte ist ein 1958 erschienener historischer Roman des franzosischen Schriftstellers Louis Aragon Er handelt von der Flucht des von auslandischen Machten eingesetzten Konigs Ludwig XVIII seiner Anhanger und der konigstreuen Truppen aus Paris vor dem aus Elba zuruckgekehrten Napoleon in der Karwoche vom 19 bis 26 Marz des Jahres 1815 Die franzosische Erstausgabe erschien bei Gallimard Eine deutsche Ausgabe in der Ubersetzung von Hans Mayer erschien 1962 im Ost Berliner Verlag Volk und Welt 1 und fast gleichzeitig als Lizenzausgabe im Biederstein Verlag in Munchen 1961 1961 erschien auch die erste englische Ausgabe unter dem Titel The Holy Week bei Hamish Hamilton in London Inhaltsverzeichnis 1 Inhalt 2 Kunsthistorische Bezuge 3 Interpretation 4 Rezeption 5 Literatur 6 EinzelnachweiseInhalt Bearbeiten nbsp Gericault trug 1814 die Uniform der Grauen Musketiere Ludwig XVIII Obwohl der Roman auf detailliertem Faktenstudium beruht stellt Aragon in einer Vorbemerkung fest Dies ist kein historischer Roman der Verfasser lehnt dafur namlich fur die Ahnlichkeiten mit historischen Personen im Namen unverausserlicher Rechte der Einbildungskraft die Verantwortung ab Der Urheber der chaotischen Zustande der Karwoche 1815 Napoleon ist im Roman nur schattenhaft prasent Geschildert wird allein die Wirkung seiner Ruckkehr aus der Verbannung auf der Insel Elba auf seine Anhanger und Gegner eine grosse Zahl historischer Figuren die im Roman samtlich etwa gleich detailliert und gleichrangig mit zahlreichen ungenannten Gestalten aller Stande behandelt werden Eine starker prasente Figur ist allein Theodore Gericault der seine gerade begonnene Malerkarriere zugunsten einer Militarlaufbahn aufgegeben hat und ohne sich uber seine Grunde ganz im Klaren zu sein den fliehenden Konig als berittener Musketier bis zur belgischen Grenze begleitet Dort kommen ihm Zweifel an seiner eigenen Loyalitat er stellt am Ende des Romans fest dass er Soldat geworden ist nur um seinem Konig zur Flucht zu verhelfen nbsp Leutnant Robert Dieudonne hier als Mitglied der Kaisergarde Napoleons dann Offizier Ludwig XVIII 1814 wieder auf der Seite des Kaisers eine Gestalt aus Die Karwoche Gemalde von Gericault 1812 Anfangs glaubt niemand an eine reale Bedrohung durch die Ruckkehr Napoleons Doch dann uberschlagen sich die Nachrichten Er ruckt rascher als gedacht vor Wo steht er Schafft er es bis Paris Truppenteile werden gegen Napoleon ausgesandt um ihn aufzuhalten laufen zu ihm uber und heften sich wieder die blau weiss rote Kokarde der Revolution an Einige der ruhmbedeckten ehemals burgerlichen Marschalle Napoleons die von ihm zu Herzogen und Fursten erhoben wurden und nunmehr Ludwig XVIII dienen aber vom alten Erbadel misstrauisch beaugt werden zaudern auf welche Seite sie sich stellen sollen insbesondere nachdem Marschall Ney Herzog von Elchingen der Tapferste der Tapferen zu Napoleon ubergelaufen ist Schliesslich schlagen sie sich auf die Seite des Konigs verfolgen dabei aber individuelle Plane oder tauchen wieder unter Es herrscht allgemeines Ratselraten ob der an der Gicht leidende Konig zur Flucht entschlossen ist und wenn ja wohin er sich in diesem Fall wenden wurde Truppen werden scheinbar planlos hin und hergeschickt viele Offiziere schwanken ob sie sich Napoleon in dem viele immer noch den Kaiser sehen unter dem sie Karriere gemacht haben entgegenstellen oder zu ihm uberlaufen den Konig ins Exil begleiten oder sich einfach aus dem Dienst davonmachen sollen Generale suchen vergeblich ihre Stabe der militarische Begleitschutz des Konigs schwindet von Station zu Station Die uppige Farbigkeit der zunehmend verdeckten und durchnassten Uniformen zeigt nur wie unzeitgemass diese in einer burgerlichen Welt und zumal auf der Flucht geworden sind In dem Chaos der sich vermischenden Truppenteile verlieren die Uniformfarben jede Orientierungsfunktion Viele Burger in den Dorfern und Stadten durch die der Konig zieht versichern ihn ihrer Ergebenheit leiden aber unter der Einquartierung seiner Entourage Pferdebesitzer feilschen um den Preis von Ersatzpferden fur die durch Gewaltritte geschwachte Kavallerie Ermattete Kinderarbeiter die 12 bis 14 Stunden am Tage in den Spinnereien gearbeitet haben schauen den Truppenzugen verstandnislos zu die Industrialisierung zeiht am Horizont herauf nbsp Ludwig XVIII im Volksmund Gros Louis der dicke Ludwig im KronungsornatIn vielen erzahlerischen Ruckgriffen wird auf den Werdegang der Akteure oder besser der Betroffenen Aragon nennt sie die Statisten dieser Tragikomodie wahrend der Revolution und unter dem Kaiserreich Bezug genommen Sie alle stehen vor Entscheidungen deren Folgen sie angesichts ihrer oft gespaltenen Loyalitat und mangels genauer Informationen sorgsam abwagen mussen Vor allem die Arbeiter furchten die bei Napoleons Ruckkehr drohenden Massenaushebungen Fur die Offiziere steht der Name des ehemaligen Kaisers fur militarischen Ruhm aber auch fur endlose Kriegszuge durch ganz Europa Der Konig kann ihnen eventuell ein ruhiges Leben gewahren vielleicht mussen ihm die Vertreter der feudalen Opposition aber auch ins Exil folgen Doch niemand weiss wohin sich Ludwig wenden wird Dem jungeren Bruder des Konigs dem ultraroyalistischen Grafen von Artois und spateren Karl X der nach der Franzosischen Revolution wie Ludwig im englischen Exil gelebt hatte ware eine Wiederholung des Exils in dem liberalen Land unertraglich Hingegen ware fur viele republikanisch gesinnte burgerliche Offiziere ein Exil in England das sie als aristokratisches Land wahrnehmen schwer vorstellbar Republikanisch gestimmte Offiziere die zu Napoleon uberlaufen wunschen sich dass er die Republik ausrufen moge furchten aber dass er sich erneut zum Kaiser kronen lasst Burgerliche die sich unter Napoleon hochgedient hatten erwarten von Napoleons Ruckkehr dass sie wieder Positionen besetzen konnen in die nach der Restauration des Konigreichs der Adel eingeruckt war Und Kampfer gegen die alte Aristokratie die auf Napoleon setzen mussen erleben dass er den fruheren Anfuhrer der Revolutionsarmee Ingenieur und Physiker Carnot bei seiner Ernennung zum Innenminister in den Grafenstand erhebt also einen uberzeugten Republikaner zum Aristokraten macht Gleichzeitig mussen sich die Fliehenden beider Seiten um ihre Familien um ihr Eigentum oder ihre Geliebten kummern Allgemein grassiert die Angst vor einer Invasion der antinapoleonischen Koalition also der Englander Preussen Osterreicher Russen die wie schon einmal die Vorrate der Bauern requirieren wurden Spitzel und Denunzianten versuchen mit Hilfe ihres Wissens alte personliche Rechnungen zu begleichen Der Autor lasst Gericault eine verschworerische nachtliche Zusammenkunft von Handwerkern Arbeitern und patriotischen Burgern beobachten die daruber streiten ob man sich im Falle einer erfolgreichen Abschaffung des Koalitionsverbots das unter Napoleon im repressiven Code penal von 1810 festgeschrieben wurde in Berufs oder besser in Volksversammlungen organisieren solle Sie erreichen jedoch keine Ubereinkunft nbsp Marschall Louis Alexandre Berthier 1754 1817 effizienter Organisator der Napoleonischen Armee und Trager des von Napoleon 1802 gestifteten Ordens der Ehrenlegion folgte Louis XVIII auf der Flucht nach Belgien Haufig insbesondere im Kapitel XIII Die Samenkorner der Zukunft und im letzten Kapitel greift der Autor kunftigen Ereignissen vor da die Zukunft manchen Mannern ein anderes Gesicht zu geben und selbst scheinbare Verrater zu rechtfertigen vermag 2 So bezieht er sich auf den Bamberger Fenstersturz des Marschalls Louis Alexandre Berthier Furst von Wagram im Juni 1815 ein Unfall Selbstmord aus Verzweiflung uber die bevorstehende Besetzung seines Vaterlandes oder Ermordung durch deutsche Patrioten Alphonse de Lamartine der dem Konig dient tragt zu dieser Zeit seine ersten Gedichte vor die er erst 1820 veroffentlichen wird Der Republikaner Frederic Degeorge wird sich spater an der burgerlichen Julirevolution von 1830 beteiligen durch die die Bourbonen endgultig gesturzt werden und die zeitlich der ersten Arbeiterrevolte des Industriezeitalters dem Aufstand der Seidenweber in Lyon vorausgeht Und was fur ein Mensch ist Charles Nicolas Fabvier der Offizier der Kaisergarde der von Napoleon fur Spezialaufgaben im Ausland eingesetzt wird 1815 unter dem zuruckgekehrten Konig weiterdient ihn auf der Flucht begleitet sich aber weigert Frankreich zu verlassen nach der Niederlage von Waterloo die auslandischen Ivasionsheere auf eigene Faust bekampft um dann 1817 im Dienst des Konigs einen ultraroyalistischen Aufstand niederzuschlagen sich danach jedoch an einer Verschworung gegen den Konig zu beteiligen und dann das Land verlassen zu mussen der 1823 gegen die franzosische Besetzung der kurzlebigen spanischen Republik agitiert dann im Freiheitskampf auf der Seite der Griechen und in der Revolution 1830 auf der Seite der franzosischen Arbeiter kampft bleibt er die gleiche Gestalt Menschen werden zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Schlussfolgerungen aus solchen Biographien ziehen die Aragon in drei oder vier rhythmisch gegliederten Riesensatzen zusammenfasst welche sich uber eine Seite erstrecken und mit vielen Fragen enden 3 Seine Erzahlkunst besteht unter anderem darin dass der Leser den Eindruck gewinnt dass keiner der Akteure auch nur ungefahr zu wissen scheint wohin die Geschichte ihn in der unmittelbaren Zukunft werfen wird nbsp Charles Fabvier als militarischer Gesandter im Osmanischen ReichMehrfach greift der Autor kommentierend in den Gang der vielfaltig verschrankten Handlung ein und sucht nach Spuren des Zukunftigen in der Vergangenheit So berichtet er uber seine Erfahrungen als 22 jahriger Soldat und Hilfsarzt der franzosischen Besatzungstruppen im Saargebiet 1919 wahrend eines Streiks deutscher Bergarbeiter in Volklingen der fast mit einem Blutvergiessen geendet hatte 4 sowie wahrend der deutschen Invasion in Frankreich 1940 und seines Aufenthalts in Bamberg Er zieht Parallelen zwischen der in ihrer Loyalitat schwankenden Armee von 1815 und der von 1940 die sich zwischen dem Vichy Regime und der Fortsetzung des Kampfes entscheiden muss Er verbindet die Erinnerung an den Volklinger Streik mit der Szene des Romans in der die Verschworer daruber streiten welche Gewerke sich in den von Napoleon verbotenen standisch zersplitterten Gesellenschaften zusammenschliessen sollten Es stellt sich die Frage Was ist wichtiger das tagliche Essen die patriotische Einheit oder das gemeinsame Klassenbewusstsein Hier greift der Autor ein Ich traume dies alles Denn schliesslich ist dies alles nicht Theodores Leben sondern mein Leben haben Sie es nicht bemerkt Aber ich bitte Sie nichts von alledem hat sich im Jahr 1815 ereignen konnen Mein Leben es handelt sich um mein Leben Denkst du noch an deine Begeisterung am 27 September 1935 in der grossen Versammlung wo die Gewerkschaftseinheit beschlossen wurde 5 Man spurt die humanistische Grundhaltung des Erzahlers die auch in den Reflexionen Gericaults deutlich wird Nicht ist so scheusslich wie der Versuch das Verhalten der anderen aus niedrigen Beweggrunden abzuleiten Zweifellos gibt es niedrigdenkende Leute Besser aber sich uber sie zu tauschen als ihre Beweggrunde auch bei anderen zu vermuten bloss weil diese anders denken as wir 6 Selbst Ludwig XVIII gewinnt an Grosse wenn er in Lille seine Marschalle die ihm nicht ins Exil nach Gent folgen wollen aus der Verantwortung entlasst und ihnen anheimstellt bis zu seiner eventuellen Ruckkehr Napoleon zu dienen An anderer Stelle beschreibt Aragon die Vergewaltigung eines Bauernmadchens durch einen royalistischen Offizier wendet sich dabei jedoch an den Leser und erklart warum er den Namen dieses Offiziers nicht preisgibt da er dessen noch lebenden Nachfahren nicht beschamen will nbsp Der Herzog von Artois Anfuhrer der reaktionaren Ultraroyalisten hier um 1823 als Konig Charles X im Jesuitengewand mit seinem Sohn dem Herzog von Angouleme der 1815 erfolglos gegen Napoleon kampfte von diesem gefangen genommen wurde und 1823 im Auftrag der Heiligen Allianz die Liberalen in Spanien besiegte Karikatur 19 Jahrhundert Der sich auflosenden und demoralisierten Maison du Roi der Leibgarde Ludwigs folgen die Reiter des Generals Exelmans wie ein Schatten Niemand weiss wo sie stehen niemand hat sie gesehen es kommt nur zu einem kurzen Kontakt ohne Blutvergiessen aber die zum Teil bewusst in die Welt gesetzten Geruchte losen allerseits Panik aus Exelmans steht hier fur die bestandige Bedrohung durch das Untier Napoleon Was die Fluchtigen nicht wissen Exelmans soll den Kampf vermeiden der Konig soll unbehelligt ins Ausland fluchten um sich als Verbundeter der auslandischen Machte zu kompromittieren Der Herzog von Artois macht sich mit seiner Schatztruhe davon verliert sie aber bald Der Konig flieht heimlich mit anderen Fursten uber die Grenze Er kann den Soldaten keinen Sold mehr zahlen und will selbst nicht um sein Land kampfen die Angehorigen der Maison du Roi fuhlen sich von ihm getauscht Sie wollen ihn nicht verraten aber auch nicht auf Seiten der Alliierten die mit einer erneuten Invasion drohen gegen Napoleon kampfen So bleiben sie in Bethune eingeschlossen werden entwaffnet und durfen nicht zuruck nach Paris Gericault beschliesst am Ende des Buches unter dem Eindruck der Verweigerungshaltung der kriegsmuden franzosischen Burger moglichst unerkannt nach Paris zuruckzukehren und wieder Maler zu werden Mit dem Ostertag 1815 endet die Karwoche Der Revolutionsgedanke lebt in vielen jungeren Menschen fort die den Verrat durch die Aristokraten erlebt haben doch viele von ihnen werden in den kunftigen Revolutionen ihr Leben verlieren Kunsthistorische Bezuge Bearbeiten nbsp Gericault SelbstportratGericaults Figur dient Aragon zur Steigerung der Tiefenwirkung der von ihm beschriebenen Szenarien So malt sich Gericault immer wieder aus wie einzelne Szenen auf der Leinwand wirken wurden Er entwickelt dabei gedanklich die expressive Licht und Schatten und damit die Korperlichkeit der Objekte betonende Darstellungsform der franzosischen Romantik die die linear statische heroisierende Darstellungsweise der Empire Maler wie Jacques Louis David hinter sich lasst und bereits den Realismus vorbereitet Gleichzeitig beleuchtet seine Perspektive auf die Welt Aragons eigene Kunsttheorie eines imaginativen Realismus so wie er ihn in der Vorrede durch das Vorrecht der Einbildungskraft gekennzeichnet hat Die zahlreichen fein abgestuften Farbbezeichnungen die Aragon verwendet unterstreichen den bildhaften Eindruck der von ihm beschriebenen Objekte Tiere und Menschen der Stakkato Stil wirkt wie hingeworfene Pinselstriche 7 Interpretation BearbeitenDer ausserst vielschichtige Roman malt nicht schwarz weiss sondern in vielen Grautonen Fur Aragons Figuren die in ihrer Widerspruchlichkeit in einzelnen Zugen abstossend aber insgesamt durchaus menschlich gezeichnet werden sind die anstehenden Entscheidungen zwischen den politischen und okonomischen Systemen unter Napoleon und Ludwig XVIII nicht einfach und zwar nicht nur aus Grunden ihrer oft gespaltenen Loyalitat sondern auch wegen ihrer wirtschaftlichen und Karriereinteressen Napoleons liberale Politik der Forderung von Landwirtschaft und Industrie wurde durch die englische Kontinentalsperre und seine eigenen Kriege konterkariert die das Land weitgehend von der mannlichen Arbeitsbevolkerung entblossten und zum Polizeistaat mit einem repressiven Arbeits und Strafrecht werden liessen Viele Veteranen kamen verkruppelt zuruck wahrend burgerliche Offiziere glanzende Karrieren erlebten Zwar erbitterte die Ruckkehr der Aristokraten unter Ludwig XVIII im Jahr 1814 viele Bauern und Republikaner aber es herrschte Friede und Stabilitat Eine Ruckkehr Napoleons konnte ausserdem eine erneute Intervention Preussens Osterreichs Russlands und Englands provozieren und damit drohte der weisse Terror der Royalisten der sich dann 1815 tatsachlich gegen Napoleons Anhanger und andere Antiroyalisten richtete Diese Situation historischer Ungewissheit und vor allem akuter individueller Entscheidungszwange unter Unsicherheit steht im Mittelpunkt des Romans wobei der Autor seinen Figuren gegenuber keinen prinzipiellen Wissensvorsprung besitzt aber doch punktuell auf kommende Ereignisse und Stromungen verweist Die Themen die die Versammlung der Verschworer diskutieren verweisen auf das kunftige wahrend des 19 Jahrhunderts nie aufgehobene Spannungsverhaltnis zwischen berufsstandischen gewerkschaftlichen und allgemeinpolitischen Bewegungen zwischen unmittelbaren materiellen Interessen und politischen Fernzielen Die Szene wirkt wie ein Vorgriff auf die hitzigen Debatten um die richtigen Organisationsformen der Revolution die die drei grossen Revolutionen des 19 und 20 Jahrhunderts 1830 1848 1917 begleiteten und in den 1920er Jahren auch von den Anarchosyndikalisten und in der Fruhzeit der Sowjetunion erbittert gefuhrt wurden Die Surrealisten um Andre Breton und Aragon hatten 1925 27 lange geschwankt ob sie sich der Kommunistischen Partei Frankreichs oder der anarchistischen Bewegung anschliessen sollten 8 Die einen verstanden sich als poetische die KPF verstand sich in ahnlicher Weise als politische Avantgarde Wenige Jahre danach fand sich Aragon erneut in einem unlosbaren Konflikt zwischen seiner Sympathie fur seine surrealistischen Weggefahrten und der Verurteilung des Surrealismus durch die sowjetischen Kommunisten den er 1932 durch seinen Bruch mit dem Surrealismus aufloste 9 Nun aber 1958 distanziert er sich vom sozialistischen Realismus Das unsichere Zogern des Protagonisten und der anderen Akteure des Romans zwischen zwei politischen Kraften ist charakteristisch fur Ubergangsperioden wie sie die mittleren 1950er Jahre in der Sowjetunion darstellten Der Roman zeichnet mit vielen inneren Monologen den unsicheren Weg eines Kunstlers in einer verwirrten Situation zu politischem und moralischem Gewissen nach Gericaults schwankendes Verhalten gegenuber dem Geschehen entspricht Aragons Haltung zur politischen Wirklichkeit 10 Aragon zur Zeit der Entstehung des Romans bis zu seinem Tode Mitglied des Zentralkomitees der damals stalinistischen Kommunistischen Partei Frankreichs verfasste die Karwoche in einer Periode in der die Abrechnung mit dem Stalinismus in der Sowjetunion ihren Hohepunkt bereits uberschritten hatte Dennoch war die Atmosphare von Verrat und Tauschung noch allgegenwartig alle lauern auf die Aktionen der Gegner wodurch auch die Handlungen der Romanfiguren bestimmt werden Doch die Motive der Verrater bleiben oft verborgen manche werden von der Geschichte rehabilitiert Der Kongress der KPF 1956 wandte sich explizit gegen die Fortsetzung der Entstalinisierung und in der Karwoche zeigte sich deutlich Aragons schwindende Linientreue was wie auch andere Kritiker Pierre Daix ein Mitarbeiter Aragons bis 1972 registriert 11 In der im Roman nicht wirklich prasenten Figur Napoleons kann man den furchteinflossenden Schatten Stalins erkennen dessen Anhanger sich dem neuen Regime mit einiger Muhe anpassen wahrend andere ihre steilen Karrieren jah beenden mussen Das neue poststalinistische Sowjetregime verkorpert wie das von Ludwig XVIII das Versprechen auf Ruhe und Frieden sorgt aber auch fur eine desillusionierende Ruckkehr zu vorrevolutionaren Verhaltnissen bzw zur Zeit vor der Tauwetter Periode Der Kunstler zieht sich schliesslich aus diesem Konflikt heraus und folgt seinen eigenen Visionen Auch wird ein Zusammenhang der Entstehung des Romans mit der Ruckkehr General Charles de Gaulles in die franzosische Politik 1958 von Pierre Daix vermutet Diese notigte die franzosischen Kommunisten in Abkehr von der stalinistischen Politik der Denationalisierung zu einer starkeren Betonung der Rolle der Nation in der Geschichte zumal sie in der Resistance teilweise mit de Gaulle kooperiert hatten So hatte dieser als er aus dem algerischen Exil 1940 seine Landsleute zum Widerstand aufrief ein Gedicht von Louis Aragon im Radio verlesen 12 Rezeption BearbeitenDas Werk erregte grosses Aufsehen in Frankreich die Auflage betrug uber 100 000 und wurde als Ruckkehr des Autors zur burgerlichen franzosischen Romantradition angesehen Der Autor erfuhr wegen seines monumentalen Werks seit 1958 geradezu monumentale Verehrung eine monumentalisation Das Magazine litteraire vom September 1967 sprach vom Jahrhundert Aragons Le siecle d Aragon 13 Die Bezugnahme des Kommunisten auf die Karwoche im Titel des Romans und auf die katholische Liturgie 14 irritierte die Kritiker Dass das geschichtsinterpretierende Werk eine Absage an den sozialistischen Realismus darstelle wurde von Aragon bestritten Der figurenreiche Roman mit seinen kunstvoll verschlungenen Handlungsfaden wurde von dem britischen Schriftsteller und Kritiker Raymond Mortimer mit dem kurz zuvor erschienenen Roman Doktor Schiwago von Boris Pasternak und sogar mit Krieg und Frieden von Lew Nikolajewitsch Tolstoi verglichen wenngleich die Personenzeichnung weniger tief gehe Erzahltechnik und intellektuelle Durchdringung des Themas seien aber herausragend 15 Der Spiegel berichtete Ein Mitglied der traditionsreichen Academie Francaise zum Beispiel Emile Henriot erlauterte in der Zeitung Le Monde er sei durch die Lekture des neuesten Werkes von Aragon uber den ich seit zehn Jahren kein Wort verloren habe auf wundersame Weise geheilt worden Trotz meiner Grippe und der geistigen Abstumpfung durch den ubermassigen Gebrauch vorbeugender Medikamente bin ich plotzlich munter geworden Es handelt sich unzweifelhaft um ein bedeutendes Werk um den Idealfall gleichsam fur einen brillanten Prix Goncourt wenn der Autor nicht Aragon hiesse und ein Schriftsteller ware den man nicht mehr zu entdecken braucht Die Helden auf die sich Aragon beruft meinte Henriot gehoren keiner Partei mehr an Sie sind auch die unseren 16 Die literaturkritische Nouvelle Revue Francaise sprach von einem Exerzitium der Hohen Schule franzosischen Prosastils und selbst die konservativ katholische aber historisch mit der Resistance verbundene Wochenzeitung Temoignage Chretien urteilte Ein Urwald der Bilder Worte Farben Monologe Seiten deren Schwung Rhythmus und Stil einem den Atem nehmen ein Buch das man lesen und nochmals lesen muss kurz ein Meisterwerk 17 In der DDR wurde das Buch bei Volk und Welt in einer relativ grossen Auflage von 15 000 Exemplaren gedruckt Hans Mayer federfuhrend in der fruhen Aragon Rezeption beschreibt in seinem Nachwort zur 1 Auflage Aragon als den historisch reflektierten Erben des Goetheschen Begriffs einer Menschheit die mehr ist als die Summe der Individuen und grenzt ihn von Jean Paul Sartres angeblich unhistorischem und individualistischem Freiheitsbegriff ab 18 Spatere Werke wie Spiegelbilder erreichten in der DDR nicht mehr diese Auflagenhohe was mit dem Ubergang Aragons zu einer starker experimentellen Schreibweise seit 1962 zusammenhangt Ahnliches gilt fur sein noch spater publiziertes surrealistisches Fruhwerk 19 Literatur Bearbeiten L S Aragon La Semaine Sainte In Kindlers Neues Literatur Lexikon hrsg von Walter Jens Munchen 1986 Bd 1 S 589 f Wolfgang Babilas Etudes sur Louis Aragon Munster 2002 S 797 832 Hans Mayer Aragons Roman Die Karwoche in Ders Ansichten Hamburg 1962 S 115 169 Einzelnachweise Bearbeiten 2 unveranderte Aufl 1967 jedoch ohne das Nachwort von Hans Mayer der 1963 von einem Besuch in der Bundesrepublik nicht in die DDR zuruckgekehrt war 3 Aufl bei Volk und Welt und Reclam Leipzig 1973 4 Aufl 1984 Aragon Volk und Welt Ausgabe 1967 S 472 Siehe z B Aragon Volk und Welt Ausgabe 1967 S 477 Diese Episode wird in der Volk und Welt Ausgabe auf S 358 ff beschrieben Siehe dazu auch 1 Aragon Volk und Welt Ausgabe 1967 S 369 Aragon Volk und Welt Ausgabe 1967 S 519 Michel Glatigny A propos du vocabulaire des couleurs dans la Semaine Sainte d Aragon In Le Francais moderne XXXI 1963 S 31 49 Jose Pierre Hrsg Surrealisme et Anarchie Les Billets surrealistes du Libertaire 12 oct 1951 8 janv 1953 Plasma Paris 1983 Guillaume Bridet Tensions entre les avant gardes le surrealisme et le Parti communiste In Itineraires 211 H 4 S 23 45 Klaus Engelhardt Volker Roloff Daten der franzosischen Literatur Munchen 1979 Bd 2 S 280 Pierre Daix Ce que je sais du XX siecle FeniXX 1985 ISBN 978 2 7062 0268 1 1972 bestellt die Sowjetunion die Abonnements von Aragons Lettres francaises ab wovon sich die Zeitschrift wirtschaftlich nicht wieder erholte Fritz J Raddatz Louis Aragon Nachruf in Die Zeit 01 1983 31 Dezember 1982 Kate Ashley u a Les Goncourt dans leur siecle Un siecle de Goncourt Presses Universitaires Septentrion 2005 S 445 Z B Volk und Welt Ausgabe S 540 ff Raymond Mortimer A Glorious Historical Novel Zeitungsausriss vermutlich aus The Sunday Times 1961 Napoleon kommt Der Spiegel 11 Marz 1959 Napoleon kommt in Der Spiegel 11 Marz 1959 Hans Mayer Nachwort zu Die Karwoche Volk und Welt 1962 S 673 Florian Godel Der tragische Held des Realismus Zur Rezeption von Louis Aragon in der DDR In Germanica 59 2016 S 161 170 DOI 10 4000 germanica 3547Normdaten Werk GND 4517419 2 lobid OGND AKS VIAF 204649487 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Die Karwoche Louis Aragon amp oldid 230187663