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Carl Durheims Fahndungsfotografien von Heimatlosen bilden den weltweit fruhesten zusammenhangenden Bestand an Polizeifotografien 1 Im Auftrag der Eidgenossenschaft fertigte der Berner Lithograf und Pionierfotograf Carl Durheim 1810 1890 zwischen November 1852 und Ende 1853 Fotografien von systematisch aufgegriffenen und in Bern festgehaltenen Heimatlosen und Nicht Sesshaften oft Schweizer Jenische an Ein Grossteil der Fotografien wurde in der Ausseren Gefangenschaft aufgenommen dem Zuchthaus in dem die Heimatlosen zur Klarung ihrer Burgerrechte in Haft gesetzt waren Weitere Portrats nahm Durheim in seinem Atelier in Bern auf Portrat der 25 jahrigen Catharina Bergdorf von 1852 1853 Salzpapier 14 17 cm Carl Durheim erstellte die Abzuge im Kalotypieverfahren anschliessend wurden sie lithografiert und in Bogen den schweizerischen Polizeistellen zur Verfugung gestellt Die Originalfotografien wie auch die gebundenen Bogen mit den Lithografien lagern im Schweizerischen Bundesarchiv Inhaltsverzeichnis 1 Historischer Kontext 1 1 Die Heimatlosenfrage 1 2 Der Auftrag des Generalanwalts 2 Durheims Heimatlosenportrats 2 1 Technik 2 2 Inszenierung 3 Nachwirkung 4 Siehe auch 5 Galerie Auswahl 6 Literatur 7 Weblinks 8 EinzelnachweiseHistorischer Kontext BearbeitenDie Heimatlosenfrage Bearbeiten Als Heimatlose wurden im 19 Jahrhundert jene Personen bezeichnet die uber kein oder ein nicht vollwertiges Gemeindeburgerrecht verfugten z B Nicht Sesshafte Tolerierte Hintersassen oder Beisassen Grunde der Heimatlosigkeit konnten etwa eine langere Abwesenheit infolge Nicht Sesshaftigkeit die Ausburgerung im Zuge von Strafverfahren oder der Wechsel der Religion zum Beispiel durch Heirat sein 2 Seit der Restauration gewann das Gemeindeburgerrecht und damit der Burgerort zunehmend an Bedeutung 3 Ein zentraler Bestandteil dieses Burgerrechts war die Armenunterstutzung das heisst die Burgergemeinde hatte die Kosten der Fursorge ihrer Burger zu tragen 4 Dieses Burgerrecht banden die lokalen Behorden jedoch an die Sesshaftigkeit in der betreffenden Gemeinde Schon in der ersten Halfte des 19 Jahrhunderts unternahmen kantonale und eidgenossische Behorden mehrere Versuche den Heimatlosen Gemeindeburgerrechte zuzuweisen Damit sollte vor allem der Verarmung und dem Elend entgegengewirkt und die regelmassigen Vertreibungen in andere Kantone gestoppt werden Andererseits sollten Nicht Sesshafte in eine sesshafte Lebensform gezwungen werden insbesondere indem namentlich ihre Kinder durch fruhzeitige Versorgung bei rechtschaffenen Hausvatern durch Angewohnung zur Arbeit und durch Religions und Schulunterricht den burgerlich gesitteten Menschen wieder beigestellt werden 5 Mit der Grundung des Bundesstaats 1848 und namentlich mit dem Bundesgesetz uber die Heimatlosigkeit von 1850 ging der Diskurs uber die Heimatlosenfrage auf Bundesebene uber 6 Das Gesetz verfolgte neben der Ausmittlung von Burgerrechten fur Heimathlose auch das Ziel Massregeln zur Verhinderung neuer Falle von Heimathlosigkeit zu treffen 7 Ein krankhafter Zustand sei zu beheben die Heimathlosen oder wenigstens ihre Kinder der Zivilisation allmalig wieder zuzufuhren 8 Die Einburgerungen hatten jedoch kein gleichberechtigtes Burgerrecht zur Folge so waren die eingeburgerten Heimatlosen etwa von der Nutzung der gemeinsamen Guter ausgeschlossen z B Walder Alpen oder Allmende 9 Zudem wirkten die Bestimmungen des Heimatlosengesetzes der nicht sesshaften Lebensweise entgegen beispielsweise indem das Herumziehen im Familienverband mit Kindern verboten wurde 10 Der Auftrag des Generalanwalts Bearbeiten nbsp Tafel XVII der gedruckten Lithografien Auf solchen Bogen versandte die Bundesanwaltschaft die Fahndungsportrats Der Bundesrat beauftragte die Bundesanwaltschaft unter Generalanwalt Jakob Amiet mit der Ermittlung der Burgerrechte In den folgenden Jahrzehnten wurden rund 30 000 Personen zwangsweise eingeburgert 11 Viele Nicht Sesshafte wurden von kantonalen Polizeien aufgegriffen nach Bern transportiert und dort fur die Abklarung in Gefangenschaft gesetzt In diesem Kontext beauftragte Generalanwalt Amiet Carl Durheim mit der Fotografierung der Heimatlosen Mit der fotografischen Festhaltung der Heimatlosen wollte der Bundesrath eine Hauptschwierigkeit bei der Behandlung der Angelegenheit der Heimathlosen und Vagabunden beseitigen Diese Schwierigkeit besteht namlich in der Ausmittlung ihrer Personlichkeit welche oft unmoglich ist weil durch das Verbergen der Papiere durch die stete Namensanderung und das konsequente Laugnen und Verschweigen der Verhaltnisse oft alle Bemuhungen der Behorden vereitelt werden und weil auch da wo es gelingt die wahre Person auszumitteln und dieselbe in ihre Heimath zu schiken oder ihr eine neue Heimath anzuweisen man nicht die mindeste Garantie hat dass nicht dieselbe Person spater unter anderm Namen neuerdings als angeblich Heimathloser erscheine so dass die Untersuchung wieder von Neuem beginnen musste Dieser Uebelstand wurde durch die bisherigen Signalemente keineswegs gehoben Generalanwalt Jakob Amiet Jahresbericht des eidgenossischen Generalanwaltes uber dessen Amtsfuhrung wahrend dem Jahre 1852 12 Entstehungszusammenhang und Zweckbestimmung von Durheims Fotografien war die polizeiliche Absicherung der Integration und Zwangsassimilation einer Bevolkerungsgruppe deren Rechtsstatus und Lebensweise als nicht tolerierbare Abweichung von der Norm empfunden wurde 13 Durheims Heimatlosenportrats BearbeitenTechnik Bearbeiten nbsp William Talbot der Erfinder der Kalotypie beim Fotografieren um 1845 Durheim war einer der ersten professionellen Fotografen der Schweiz und ein bekannter Daguerreotypist Vom ursprunglichen Vorhaben die Fotografien der Heimatlosen als Daguerreotypen herzustellen hatten der Fotograf und sein Auftraggeber bald Abstand genommen da sich diese schlecht fur die Erstellung von Reproduktionen eigneten Weil ohnehin geplant war von den Fotografien in einem zweiten Schritt Lithografien herzustellen entschied sich Durheim fur Abzuge auf Papier Kalotypieverfahren und gegen die unikaten Metallplatten der Daguerreotypie weil man in dieser Manier die Portraits nur durchzuzeichnen 14 habe Die Negative zog er auf Salzpapier wobei er auf dem Negativ oftmals den Hintergrund den Hof der Ausseren Gefangenschaft in Bern retuschierte nbsp Ein Beispiel wie bei einem Portrat Augen Nasenlocher und Mund auf dem Abzug nachgezeichnet wurden Anhand der Abzuge fertigte ein Lithograf dann im Auftrag von Durheim Lithografien an die fur den Druck der 38 Bogen fur die Fahndungsbucher dienten Pro Bogen wurden sechs Portrats abgebildet und mit Angaben uber die Personen versehen z B Namen Alter und Spitznamen Die Produktion der Lithografien bot auch die Moglichkeit unkenntliche Details der Vorlagen fur den Druck nachzuzeichnen 15 Samtliche uberlieferten Fotografien die bis Juni 1853 hergestellt wurden produzierte Durheim nach diesem Verfahren Noch wahrend er an den Portrats arbeitete lernte er die Produktion von Glasnegativen kennen und stellte in der Folge einige Heimatlosenportrats in diesem Verfahren her Durheim nutzte den Bundesauftrag also auch um verschiedene Verfahren zu testen und anzuwenden 16 Inszenierung Bearbeiten nbsp Kopfhalter der die Person wahrend der langen Belichtungszeit fixiert hier im Jahr 1893 in einem Atelier in Berlin Die ersten 33 Heimatlosenportrats fertigte Durheim noch als Brustbilder an Spater nahm er die ganze sitzende Figur auf da ihm diese fur die Fahndung nutzlicher erschien 17 Da fotografische Aufnahmen in der Mitte des 19 Jahrhunderts noch sehr lange Belichtungszeiten erforderten durften sich die Portratierten langere Zeit nicht bewegen und den Gesichtsausdruck nicht verandern Um die Heimatlosen in der gewunschten Position vor der Kamera zu fixieren nutzte Durheim Kopfhalter Mit der Prozedur der fotografischen Aufnahme beabsichtigten die Behorden nicht allein die Erstellung von Fahndungsbildern sondern auch eine psychologische Wirkung auf die gefangenen Heimatlosen Generalanwalt Jakob Amiet verstand das fotografische Festhalten als eine Massregel als moralisches Schrekmittel gegen Vorbringung unrichtiger Angaben Denn die meisten der Heimathlosen hielten sich schon verrathen wenn sie mit festgeschraubtem Kopfe vor der Maschine sassen die in einigen Minuten ihr Bild erzeugte 18 Da die Heimatlosen Gefahr liefen sich selbst oder ihren Angehorigen mit Aussagen uber ihre Biografie zu schaden entsprachen ihre Angaben nicht immer der Wahrheit Carl Durheim in der burgerlichen Portratfotografie erfahren wandte gelegentlich auch bei den Heimatlosenportrats eine burgerliche Inszenierung an und wahlte entsprechende Requisiten So stattete er seine Modelle etwa mit Buchern oder Schirmmutzen aus die auf einem Salontisch prasentiert wurden Nur selten wurden die Gefangenen die kaum des Lesens noch des Schreibens machtig waren mit Gegenstanden aus ihrer Lebensrealitat abgebildet Die wenigen Beispiele zeigen etwa einen Korb einer Korbmacherin oder die Utensilien eines Burstenbinders Uberdies hatten viele der Gefangenen fur die Portratierung uber ihren Kleidern eine Bauernkutte zu tragen die ihnen der Generalanwalt Amiet besorgte 19 Nachwirkung BearbeitenMitte des 19 Jahrhunderts war die gross angelegte und systematische fotografische Registrierung einer ausgewahlten Gruppe aussergewohnlich und fand durchaus auch im Ausland Beachtung 20 Nachahmer fand sie jedoch nicht Auch zog die Bundesanwaltschaft nicht in Betracht dieses Fahndungsverfahren auf andere Personenkreise auszudehnen sie beendete diese Form der Registrierung 1854 21 Siehe auch BearbeitenGeschichte und Entwicklung der Fotografie Portrat PortratfotografieGalerie Auswahl Bearbeiten nbsp Clara Wendel nbsp Cyprian Axt nbsp Amalia Wehrli nbsp Johann Mai nbsp Anton Muller nbsp Agatha Ostertag nbsp Verena Simon nbsp Maria Diebold nbsp Peter DurandLiteratur BearbeitenMartin Gasser Thomas D Meier und Rolf Wolfensberger Wider das Leugnen und Verstellen Carl Durheims Fahndungsfotografien von Heimatlosen 1852 53 Offizin Verlag Zurich Fotomuseum Winterthur 1998 ISBN 3 907495 86 1 Thomas Huonker Fremd und Selbstbilder von Zigeunern Jenischen und Heimatlosen in der Schweiz des 19 und 20 Jahrhunderts aus literarischen und anderen Texten In Herbert Uerlings und Iulia Karin Patrut Zigeuner und Nation Reprasentation Inklusion Exklusion Frankfurt am Main 2008 ISBN 978 3 631 57996 1 Thomas D Meier und Rolf Wolfensberger Eine Heimat und doch keine Heimatlose und Nichtsesshafte in der Schweiz 16 19 Jahrhundert Chronos Zurich 1998 ISBN 978 3 905312 53 9 Johann Conrad Vogelin Ueber die Heimathlosen und die Pflicht ihrer Versorgung und Einburgerung Ch Beyel Frauenfeld 1838 S 17 18 Digitalisat von Google Books Weblinks Bearbeiten nbsp Commons Durheim portraits contributed by CH BAR Sammlung von Bildern Videos und Audiodateien Regula Argast Nation und Burgerrecht In Schweizer Fahrende in Geschichte und Gegenwart Eine Website der Stiftung Zukunft fur Schweizer Fahrende Version vom 12 Oktober 2011 abgerufen am 7 Oktober 2014 Rolf Wolfensberger Heimatlose In Historisches Lexikon der Schweiz Carl Durheims Heimatlosenportrats im Online Zugang des Schweizerischen BundesarchivsEinzelnachweise Bearbeiten Medienmitteilung zur Ausstellung Gesucht vom 1 Mai bis 23 August 1998 PDF Nicht mehr online verfugbar In wsmfk13 mfk ch Museum fur Kommunikation Bern ehemals im Original abgerufen am 17 Marz 2023 1 2 Vorlage Toter Link wsmfk13 mfk ch Seite nicht mehr abrufbar Suche in Webarchiven Huonker Fremd und Selbstbilder S 4 5 und Meier Wolfensberger Eine Heimat und doch keine siehe Literatur Huonker Fremd und Selbstbilder S 4 siehe Literatur Wolfensberger Heimatlose siehe Weblinks Bericht der Eidgenossischen Untersuchungskommission 1826 Zitiert nach Johann Conrad Vogelin Ueber die Heimathlosen und die Pflicht ihrer Versorgung und Einburgerung Ch Beyel Frauenfeld 1838 S 17 18 Digitalisat von Google Books Bundesgesetz die Heimathlosigkeit betreffend vom 3 Dezember 1850 Bundesblatt 3 1850 S 913 921 Digitalisat des Schweizerischen Bundesarchivs Bericht des Bundesrats an die Bundesversammlung uber das Gesetz betreffend die Heimatlosigkeit Bundesblatt 3 1850 S 124 Digitalisat des Schweizerischen Bundesarchivs Bericht des Bundesrats an die Bundesversammlung uber das Gesetz betreffend die Heimatlosigkeit Bundesblatt 3 1850 S 125 Digitalisat des Schweizerischen Bundesarchivs Huonker Fremd und Selbstbilder S 6 siehe Literatur Bundesgesetz die Heimathlosigkeit betreffend vom 3 Dezember 1850 Bundesblatt 3 1850 Art 19 S 919 Digitalisat des Schweizerischen Bundesarchivs Wolfensberger Heimatlose siehe Weblink Jahresbericht des eidgenossischen Generalanwaltes uber dessen Amtsfuhrung wahrend dem Jahre 1852 Bundesblatt 2 1853 S 716 Digitalisat des Schweizerischen Bundesarchivs Gasser Meier Wolfensberger Wider das Leugnen und Verstellen siehe Literatur S 16 Gasser Meier Wolfensberger Wider das Leugnen und Verstellen siehe Literatur S 12 Gasser Meier Wolfensberger Wider das Leugnen und Verstellen siehe Literatur S 137 138 Gasser Meier Wolfensberger Wider das Leugnen und Verstellen siehe Literatur S 12 13 Gasser Meier Wolfensberger Wider das Leugnen und Verstellen siehe Literatur S 15 Jahresbericht des eidg Generalanwaltes uber dessen Amtsfuhrung wahrend dem Jahre 1852 Bundesblatt 2 1853 S 717 Digitalisat des Schweizerischen Bundesarchivs Gasser Meier Wolfensberger Wider das Leugnen und Verstellen siehe Literatur S 16 17 Einen humoristischen Beitrag dazu verfasste der englische Autor Edward Bradley unter seinem Pseudonym Cuthbert Bede Photographic pleasures Popularly portrayed with pen amp pencil T Mc Lean London 1855 S 69ff Digitalisat von Google Books Jens Jager Photography a means of surveillance Judicial photography 1850 to 1900 In Crime History and Society 5 2001 S 31 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Carl Durheims Fahndungsfotografien von Heimatlosen amp oldid 231915933