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Eine autogerechte Stadt ist eine an den Bedurfnissen des motorisierten Individualverkehrs orientierte Stadt Das Schlagwort leitet sich vom Titel des 1959 erschienenen Buches Die autogerechte Stadt Ein Weg aus dem Verkehrs Chaos des Architekten Hans Bernhard Reichow ab eines entschiedenen Verfechters dieser Idee Autogerechte Stadt mit Fernstrassen die im Stadtgebiet auch als Stadtautobahnen genutzt werden Los Angeles Judge Harry Pregerson Interchange Interstates 105 110 Autogerechte Stadt durch Entmischung der Verkehrstrager Getrennte konfliktarme Verkehrsflachen fur Fussganger Autoverkehr und Strassenbahn ferner grosszugige Gestaltung des Verkehrsraumes insgesamt Leipzig Friedrich Engels Platz nach dem Umbau von 1971 Autogerechte Stadt durch Ausrichtung der Planung am motorisierten Individualverkehr bei gleichzeitiger Unterordnung nichtmotorisierter Verkehrstrager Fussgangertunnel unter der zentralen Nord Sud Achse in Brasilia Beim Neu und Wiederaufbau der Stadte nach dem Zweiten Weltkrieg orientierten sich Stadtplaner uberwiegend an der das Automobil bevorzugenden Charta von Athen CIAM von 1933 Wohnen und Gewerbe wurden damit haufig voneinander getrennt Fortan wurden auch zahlreiche suburbane Satellitenstadte Schlafstadte geplant Nach heutigen Massstaben wird das Konzept der autogerechten Stadt uberwiegend kritisch und als unnachhaltig angesehen von vielen auch als warnendes Beispiel verfehlter kurzsichtiger Stadtplanung dargestellt 1 2 Zugleich wird das Konzept in vielen Teilen der Welt weiterverfolgt besonders bei Grossprojekten in stark wachsenden Ballungsraumen Inhaltsverzeichnis 1 Leitlinien 2 Konzepte 3 Weiterentwicklung 4 Kritik 5 Gegenkonzepte 5 1 Neuer Urbanismus 6 Andere Lander 6 1 Frankreich 7 Literatur 8 EinzelnachweiseLeitlinien BearbeitenIn der autogerechten Stadt sollten sich alle Planungsmassnahmen dem ungehinderten Verkehrsfluss des Autos unterordnen das damit zum neuen Mass aller Dinge wurde Vor allem sollte dies in Verbindung mit klaren Flachenzuweisungen und einer Nutzungsentmischung erfolgen Dies entspricht weitgehend den Forderungen der funktionalistischen Stadtforschung wie sie etwa in der Charta von Athen formuliert wurden 3 Das Konzept der autogerechten Stadt wurde in hohem Masse beim Wiederaufbau im Krieg zerstorter westdeutscher Stadte realisiert beispielsweise in Hannover durch den damaligen Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht Koln und Kassel aber auch in kleineren Stadten wie Minden Dabei wurden erhebliche Eingriffe in erhaltene Bausubstanz vorgenommen wobei teilweise Stadtteile willkurlich zerschnitten wurden Sinn der Konzeption war es die aus dem Mittelalter stammenden Stadte mit uberwiegend engen Strassen und Gassen die Jahrhunderte vor der Entstehung des Automobils angelegt worden waren an moderne Mobilitatsbedurfnisse anzupassen insbesondere um die Erreichbarkeit der Stadte fur Autofahrer und die Anlieferung von Waren per Lkw sicherzustellen Wichtige Bestandteile waren mehrspurige Umgehungsstrassen Stadtringe oft unter Ausnutzung von Wallanlagen und ehemaligen Flachen mittelalterlicher Stadtbefestigungen Fussgangerzonen Unterfuhrungen fur den Fuss und Radverkehr Parkhauser und Parkleitsysteme fur die Stadtzentren Konzepte Bearbeiten nbsp Die Kampstrasse in Dortmund wurde als breite Schneise durch die Innenstadt geschlagen die ehemalige Strassenbahn ist im KellerDie autogerechte Stadt geht von Individual und offentlichen Verkehren aus wobei Individualverkehr auch Fahrrad oder Fussverkehr sein kann Diese beiden Fortbewegungsarten zahlen zum Umweltverbund Grundlage ist eine Trennung der Verkehre um so ungehinderte Verkehrsflusse zu gewahren Unterschiedliche Konzepte bestehen u a in der Gewichtung von offentlichem und Individualverkehr Eine gleichzeitige Forderung bedeutet den Bau Ausbau mehrspuriger Strassen und des OPNV Dieses Konzept verfolgten in den 1970er Jahren besonders westdeutsche Grossstadte durch eine Verlegung von Strassenbahnen unter die Erde mit der auch danach verwirklichten Planung einer Schienenfreien Innenstadt bzw der Entwicklung von Stadtbahn Systemen Die einseitige Bevorzugung des Individualverkehrs heisst folglich Strassenbahnen und sofern vorhanden auch Oberleitungsbusse als Verkehrshindernis zu betrachten und diese abzuschaffen Die als Ersatz vorgesehenen Busverbindungen weisen keine oder nur eine geringe Trennung vom Individualverkehr etwa durch einzelne Busspuren auf und sind fur Auto affine Menschen nicht attraktiv Eine hohe Gewichtung von offentlichen Verkehren kann den Bau von grossflachigen P R Anlagen umfassen oder die kommunale Forderung von Verkehrsverbunden und attraktiven Nahverkehrstarifen Grunduberlegung ist hier motorisierten Individualverkehr durch einen hohen Prozentanteil des OPNV zu vermeiden Bis heute stellen jedoch besonders kleinere Stadte in Deutschland nicht ausreichend Mittel fur einen gut ausgebauten OPNV bereit oder sind wegen ihrer Finanzlage nicht dazu imstande diese Situation ist u a in der Schweiz anders Die Bereitstellung von Strassen ist eine Pflichtleistung OPNV erscheint dagegen oft nur als eine erganzende geradezu freiwillige Massnahme fur bestimmte Personengruppen das Angebot besteht insbesondere in Kleinstadten und in der Schwachverkehrszeit lediglich aus einem Grundfahrplan besondere Attraktivitat ist nicht gefordert Autogerecht kann also bedeuten dass der Individual bzw notwendiger Lieferverkehr absoluten Vorrang hat und OPNV auf geringem Niveau nebenherlauft So entstehen im OPNV Busnetze mit hohen Taktabstanden und Busbahnhofe mit geringer Nutzung Es kann beiden Verkehrsarten ein gleicher Schwerpunkt zugemessen werden In diesem Fall entstehen moderne Strassen und gleichzeitig hochwertige Bahnnetze die vom ubrigen Verkehr getrennt sind dem Autoverkehr wird jedoch optimale Qualitat geboten Die Alternative ware absolute Prioritat fur den OPNV im Sinne der Verkehrswende Wichtiger Konzeptbestandteil fur die Trennung der Verkehrsstrome waren Unter und Uberfuhrungen Eine der ersten Strassenunterfuhrungen fur Fussganger entstand 1957 am Jahnplatz in Bielefeld sie wurde damals als richtungsweisend gefeiert Heute werden unterirdische Wegefuhrungen fur den Fussverkehr sehr kritisch gesehen man muss oft Erfahrungen mit Vandalismus Drogenkonsum Graffiti Malereien etc bei solchen Unterfuhrungen machen um zu anderen Konzepten zu gelangen Ein anderes Beispiel war der U Bahnhof Kassel Hauptbahnhof als Teil einer dort nicht verwirklichten Unterpflasterstrassenbahn Auch Uberfuhrungen sind problematisch und werden von der Bevolkerung oft nicht angenommen Hinzu kommt dass das Treppensteigen oder Anstiege vielen zu anstrengend und wegen fehlender Barrierefreiheit fur Mobilitatseingeschrankte gar nicht moglich ist Letztgenannte Gruppe bedarf zielfuhrender Losungen beim barrierefreien Bauen Gleiches gilt fur Unterfuhrungen die schnell zu einem Angstraum werden Weiterentwicklung BearbeitenAnfang der 1960er Jahre beauftragte die britische Regierung eine Kommission unter Vorsitz von Colin Buchanan eine Bilanz der bisherigen Stadtverkehrsplanung aufzustellen und Vorschlage fur neue Planungskonzepte zu entwickeln Der in Deutschland stark rezipierte Buchanan Report Traffic in towns von 1963 enthalt weiterentwickelte Konzepte Buchanan unterschied als einer der Ersten zwischen dem notwendigen Autoverkehr Wirtschafts und Geschaftsverkehr und dem beliebigen Autoverkehr Da ein Grossteil der Verkehrsprobleme seiner Meinung nach aus der extremen Zunahme des beliebigen Verkehrs resultiert solle dieser konsequent begrenzt werden Weiterhin machte er den Vorschlag einer umfeldabhangigen Kapazitats und Geschwindigkeitsbegrenzung Fur schutzenswerte Bereiche Environment Zonen schlug er drastische Restriktionen vor Die Qualitat des Strassenraumes fur Fussganger und Aufenthalt solle hier absoluten Vorrang haben Zu ahnlichen Ergebnissen kam eine Sachverstandigenkommission des deutschen Bundestages 1965 4 Kritik BearbeitenAnfang der 1970er Jahre wurde die autofreundliche Verkehrspolitik der Stadte in Deutschland zunehmend skeptischer betrachtet Kritiker wie Hans Dollinger machten die Dominanz des Automobils fur soziale Fehlentwicklungen etwa die Unfalltoten und die Erlahmung stadtischen Lebens verantwortlich 5 Heutzutage wird uberwiegend vertreten dass diese Planungskonzeption zu einseitig war da sie viele Menschen ausser Acht liess Insbesondere werden dem Konzept die negativen Auswirkungen des Strassenverkehrs in Innenstadten wie der Beitrag des Strassenverkehrs zu einer hohen Feinstaubbelastung Larm und Gefahrdung von Fussgangern und Radfahrern angelastet Aus Sicht des Gender Mainstreaming wird kritisiert dass das Leitbild der funktionsgetrennten und autogerechten Stadt bei der Mobilitat fast ausschliesslich den automobilen Berufsverkehr von mehrheitlich Mannern wahrgenommen habe dabei seien Anforderungen der uberwiegend von Frauen geleisteten Versorgungsarbeit und erst recht ihrer Verknupfung mit der Erwerbsarbeit weitgehend ausgeblendet worden 6 Siehe auch VerkehrswendeGegenkonzepte Bearbeiten nbsp Shared Space in Haren Niederlande Keine Verkehrszeichen nivelliertes Strassenland und lediglich orientierende Begrenzungen fur die VerkehrsteilnehmerAls Gegenkonzept wurde von anderen Stadt und Verkehrsplanern und Verkehrssoziologen mittlerweile die autofreie Stadt bzw das autofreie Wohnen definiert In Stadten wie Koln werden mittlerweile Konzepte diskutiert um einen Kompromiss zwischen einer Steigerung der Lebensqualitat fur die Bewohner und einer gleichzeitigen Beibehaltung einer guten Erreichbarkeit auch fur den Strassenverkehr zu finden Eine der Folgen von Funktionsentmischung in der autogerechten Stadt ist eine strenge Regulierung des Verkehrs in der theoretisch alles Verhalten mit Verkehrsschildern Markierungen und getrennten Verkehrsflachen vorgegeben wird Dies wird von Kritikern als Entmundigung der Bevolkerung gesehen und fur fehlende Rucksichtnahme auf andere Verkehrsteilnehmer verantwortlich gemacht Als Gegenkonzept hat sich das Shared Space Konzept entwickelt das ein weniger reguliertes Nebeneinander von motorisiertem und nicht motorisiertem Verkehr und Stadtleben im Generellen ermoglichen soll Neuer Urbanismus Bearbeiten Der Neue Urbanismus ist ein ubergreifendes Thema in der Entwicklung heutiger Stadtbilder die gezielt von den Leitlinien der autogerechten Stadt abruckt Nach dem Erkennen der strukturellen Fehler der vor allem seit der Moderne und der Charta von Athen entstandenen aufgelockerten Siedlungen bzw Trabantenstadte mit Funktionstrennung und uberdimensionierten Verkehrsachsen kommt es seit den 1980er Jahren mit dieser Urbanismusbewegung die u a mit Team 10 ihren Anfang nahm zur Wiederentdeckung der Blockrandbebauung und Mischnutzung von Quartieren und damit stadtischer Dichte Demnach unterstutze diese fruher durch die Siedlungsplaner beklagte urbane Bebauungsart die Vorzuge stadtischen Lebens in Verbindung mit gesunder sozialer und wirtschaftlicher Durchmischung und einer erheblichen Einsparung von Ressourcen Anfahrtswege Heizkosten Infrastrukturkosten usw gegenuber den verschwenderischen Siedlungen 7 Andere Lander BearbeitenFrankreich Bearbeiten Georges Pompidou franzosischer Staatsprasident von 1969 bis zu seinem Tod 1974 trieb die Modernisierung Frankreichs entschieden voran Wiederholt rief er seine Landsleute auf nicht in Sentimentalitat zu verharren Mit zunehmender Industrialisierung verlagerten sich viele Arbeitsplatze weg von der Landwirtschaft in die Industrie Pompidou forderte insbesondere die Autoindustrie und den privaten Verkehr In diesem Sinne wurden in vielen Stadten Stadtviertel grossteils abgebrochen um Platz fur Schnellstrassen zu schaffen 8 Literatur BearbeitenHans Bernhard Reichow Die autogerechte Stadt Ein Weg aus dem Verkehrs Chaos Otto Maier Verlag Ravensburg 1959 Das Wunder von Hannover In Der Spiegel Nr 23 1959 S 61 63 66 68 online Ralf Dorn Auf dem Weg zur autogerechten Stadt Zur Verkehrsplanung Hannovers unter Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht In Ausst Kat Richtig in Fahrt kommen Automobilisierung nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland Hrsg v Rolf Spilker Industriemuseum Osnabruck Bramsche 2012 ISBN 978 3 89946 212 8 S 204 219 Christoph Bernhardt Langst beerdigt und doch quicklebendig Zur widerspruchlichen Geschichte der autogerechten Stadt in Zeithistorische Forschungen 14 2017 S 526 540 Einzelnachweise Bearbeiten Ein ungeliebtes Erbe Stadt und Auto Bauwelt abgerufen am 17 Marz 2022 Christoph Bernhardt Verkehrsplanung Die autogerechte Stadt ist eine Untote Der Tagesspiegel abgerufen am 17 Marz 2022 Le Corbusier La Charte d Athenes Paris Editions de Minuit 1957 S 79 83 Barbara Schmucki Der Traum vom Verkehrsfluss Frankfurt a M Campus 2001 S 136f ISBN 978 3 593 36729 3 Volltext bei Google Books Vgl z B Hans Dollinger Die totale Autogesellschaft Carl Hanser Verlag Munchen 1972 ISBN 978 3 7632 1622 2 Susanna von Oertzen Ingrid Haasper Key competence Gender HAWK Ringvorlesung 2007 2008 LIT Verlag Munster 2008 ISBN 3 8258 1402 5 S 115 116 257 S Charta des New Urbanism deutsche Ubersetzung der engl Charter of the New Urbanism Niklaus Meienberg Das Schmettern des gallischen Hahns Reportagen aus Frankreich Limmat Zurich 1987 ISBN 978 3 85791 123 1 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Autogerechte Stadt amp oldid 237570637