An-Nasāʾī, vollständig Ahmad ibn ʿAlī ibn Schuʿaib an-Nasāī, Abū ʿAbd ar-Rahman arabisch أحمد بن علي بن شعيب النسائي, أبو عبد الرحمان, DMG Aḥmad b. ʿAlī b. Šuʿaib an-Nasāʾī, Abū ʿAbd ar-Raḥmān (geboren 830 in Nasā, einem Ort in Chorasan in Iran, fünf Tagesreisen von Merw entfernt; gestorben 915 in Ramla oder Mekka) war ein islamischer Traditionarier und Verfasser einer der sechs kanonischen Hadith-Sammlungen im islamischen Traditionswesen. In den arabischen Gelehrtenbiographien, wie Ibn Hadschar al-ʿAsqalānī, adh-Dhahabī, as-Suyūtī, al-Maqrīzī (geboren 1364; gestorben 1442), as-Subkī (geboren 1327; gestorben 1370 in Kairo) u. a., erscheint sein Name Ahmad ibn Schuʿaib ibn ʿAlī.
Leben Bearbeiten
Die arabischen Biographen liefern nur lückenhafte und wenig informative Berichte über ihn. Die umfangreichste Biographie über ihn verfasste adh-Dhahabī im 14. Jahrhundert mit seinen Hinweisen auf ältere biographische Quellen und mündliche Überlieferungen. Auf seinen Studienreisen „um Wissen zu erlangen“ (fī ṭalab al-ʿilm), die er schon 845 begann, studierte er bei berühmten Traditionariern in Chorasan, im Irak, in Damaskus und im Hedschas. Nach seinen Studienreisen ließ er sich in Ägypten nieder, wo er seine wissenschaftlichen Aktivitäten auf dem Gebiet des Hadith und der Koranexegese entfaltete und dort seine wichtigsten Werke verfasste. In der Rechtslehre folgte er der schāfiʿitischen Schule; deshalb wird er auch in den „Klassenbüchern“ der Schafiiten von as-Subkī in einer Kurzbiographie genannt. Einer seiner zahlreichen Schüler in Ägypten war at-Tahāwī (* 853; † 933) der damals bekannteste Theoretiker auf dem Gebiet der Hadithwissenschaften.
In seinem Privatleben in Ägypten war er für seine Vorliebe für Frauen bekannt, worüber adh-Dhahabī und der ägyptische Lokalhistoriker al-Maqrīzī in ihren Gelehrtenbiographien ausführlich zu berichten wissen: er hatte vier Ehefrauen und unterhielt mehrere gekaufte Konkubinen, die er aber wie seine Ehefrauen gleichberechtigt behandelt hatte. Seine Studenten behaupteten, dass sein noch in hohem Alter strahlendes und junges Aussehen dem Genuss von nabīdh – einem je nach Region aus unterschiedlichen Obstsorten hergestellten, berauschenden Getränk – dem er sich gern hingab, zu verdanken sei.
Gemäß dem ägyptischen Lokalhistoriker Ibn Yūnus as-Sadafī (geb. 894; gest. 958), dessen Stadtgeschichte Ibn Hadschar al-ʿAsqalānī und adh-Dhahabī in ihren biographischen Werken auswerten, verließ an-Nasa'i kurz vor seinem Tod Fustat und kehrte im Jahre 914 nach Damaskus zurück. Anhänger der Umayyaden befragten ihn dort nach den Vorzügen (fadāʾil) von Muʿāwiya I., über den er sich dann mit abfälligen Bemerkungen äußerte. Wegen seiner Zuneigung zu Ali und offen bekundeter Ablehnung der Umayyaden soll er von deren Anhängern in der Hauptmoschee von Damaskus (Umayyaden-Moschee) zusammengeschlagen worden sein. Man vertrieb ihn nach Ramla, wo er im Jahre 915 starb. Aufgrund der Umstände seines Todes wird er als Märtyrer angesehen. Sein Grab befindet sich angeblich in Jerusalem. Andere Quellen berichten, dass er in Mekka beigesetzt wurde.
Werke Bearbeiten
- Kitāb as-Sunan al-kubrā كتاب السنن الكبرى, auch Sunan an-Nasāʿī oder Sunan aṣ-Ṣuġra genannt, ist in seiner ersten Fassung nicht erhalten. Der Verfasser hat schon während seines Wirkens in Ägypten eine Kurzfassung hergestellt, in dem die sog. „schwachen“ Traditionen mit unvollständigen Isnaden zum Teil nicht mehr berücksichtigt wurden. Diese Hadith-Sammlung nannte man al-Mudschtabā المجتبى / al-Muǧtabā / ‚Die Auswahl‘ und as-Sunan al-kubrā „Das große Sunna-Werk“. Es ist unter dem Titel „Sunan an-Nasāʾī“ mit dem ausführlichen Kommentar von as-Suyūtī und den Randvermerken zum Grundwerk (Hāschīya حاشية / Ḥāšīya von as-Sindī (gest. 1724) im Jahre 1987 erschienen.
- at-Tafsir تفسير النسائي / Tafsīr an-Nasāʾī; zwar wird im Sunan-Werk ein Kapitel der Koranexegese gewidmet, dennoch verfasste an-Nasāʾī ein eigenständiges, aus 766 Abschnitten bestehendes Tafsīr. Der Verfasser folgt der bekannten Surenaufteilung, erläutert aber nur ausgewählte Koranverse anhand von Prophetenhadithen und Aussagen der ältesten Koranexegeten des späten 7. und frühen 8. Jahrhunderts. Das Werk ist erstmals 1990 in Kairo publiziert worden. Diese Koranexegese ist im 10. Jahrhundert auf demselben Wege in Kairouan und al-Andalus verbreitet worden, wie das oben genannte Sunan-Werk.
- Kitāb ad-Duʿafāʾ كتاب الضعفاء والمتروكين / Kitāb aḍ-ḍuʿafāʾ wal-matrūkīn; „Das Buch über schwache Traditionarier und die man nicht nennt“ in diesem kleinen Buch nennt der Verfasser 674 Überlieferer und eine Überlieferin, die er mit folgenden Prädikaten bezeichnet: „schwach“, „nicht glaubwürdig“ „verpönt“ u. a. und erwähnt manchmal auch, in welcher Stadt sie gewirkt haben. Es ist zusammen mit dem Kitāb aḍ-Ḍuʿafāʾ aṣ-ṣaġīr („Das kleine Buch über schwache Traditionarier“) von al-Buchari in Indien und in Aleppo erschienen.
- Kitāb al-Chasāʾis كتاب الخصائص في فضل علي بن أبي طالب / Kitāb al-Ḫaṣāʾiṣ fī faḍl ʿAlī b. Abī Ṭālib „Die Besonderheiten über die Tugenden von ʿAlī ibn Abī Tālib“ ist eine Sammlung von rund hundert Seiten mit Aussprüchen über die Tugenden und über die guten, nachahmenswerten Eigenschaften von ʿAlī und seiner Familie. Das Buch ist im Orient mehrfach gedruckt worden.
- Einige Fragmente und lose Blätter in arabischen Handschriftensammlungen werden an-Nasāʾī als Verfasser zugeschrieben.
Literatur Bearbeiten
- The Encyclopaedia of Islam. New Edition. Brill, Leiden. Bd. 7, S. 969 („al-Nasāʾī“)
- Fuat Sezgin: Geschichte des arabischen Schrifttums. Brill, 1967. Bd. I. S. 167–169
- an-Nasā'ī: as-Sunan al-kubrā. Bd. 1, S. 3–4 (Vorwort). Maktabat ar-rušd. Riyadh. 2006
Einzelnachweise Bearbeiten
- Yāqūt: K. Muʿǧam al-buldān. (Geographisches Wörterbuch). Hrsg. von Ferdinand Wüstenfeld. Leipzig 1866–1870. s.n. Nisā
- The Encyclopaedia of Islam. New Edition. Brill, Leiden, Bd. 6, S. 193
- Carl Brockelmann: Geschichte der arabischen Litteratur. Zweite den Supplementbänden angepasste Auflage. Bd. 2, S. 108–110. Brill, Leiden 1949
- Carl Brockelmann: Geschichte der arabischen Litteratur. Erster Supplementband. Brill, Leiden 1937, S. 269 gibt beide Varianten an.
- Daraus die Ableitung im Arabischen: ṭālib (Part.Aktiv) = Student
- Fuat Sezgin (1967), Bd. 1, S. 167
- Ṭabaqāt aš-Šāfiʿiyya al-kubrā. Bd. 3, S. 14–16 (Kairo 1965)
- Siyar aʿlām an-nubalāʾ, Bd. 14, S. 128. 4. Auflage. Beirut 1986
- A. J. Wensinck und J. H. Kramers (Hrsg.): Handwörterbuch des Islam. S. 563. Brill, Leiden 1941; The Encyclopaedia of Islam. New Edition. Bd. 7, S. 840. Brill, Leiden
- Siyar a'lam an-nubala', Bd. 14, S. 128. 4. Auflage. Beirut 1986
- Fuat Sezgin (1967), Bd. 1, S. 357–358; The Encyclopaedia of Islam. New Edition. Bd. 3, S. 969
- An-Nasa'i (2006), S. 3 mit Hinweis auf Ibn Hadschar al-ʿAsqalānī; dieser Schilderung schließt sich auch adh-Dhahabī in seiner Gelehrtenbiographie Siyar aʿlām an-nubalāʾ an.
- So in: The Encyclopaedia of Islam. New Edition. Brill, Leiden. Bd. 7, S. 969; die Biographen nennen ihn allerdings nicht als schahīd (Märtyrer), sondern verwenden vereinzelt das Verb: „ustuschhida“: den Märtyrertod erleiden
- The Encyclopaedia of Islam. New Edition. Brill, Leiden. Bd. 7, S. 969
- The Encyclopaedia of Islam. New Edition. Bd. 3, S. 268 (Ḥāšiya)
- Fuat Sezgin (1967), Bd. 1. S. 168
- Zu weiteren Druckausgaben, die allerdings keine wissenschaftlichen Editionen sind, siehe Fuat Sezgin (1967), Bd. 1. S. 168. Die Ausgabe bei Maktabat ar-rušd (Riyadh 2006) ist ebenfalls ein Nachdruck einer Ausgabe in Beirut (o. D.); sie ist aber durchnummeriert und mit Indices versehen
- Ignaz Goldziher: Muhammedanische Studien. Bd. 2, S. 250. Halle a. S. 1890. Die im Zitat genannten Traditionarier waren bekannte Größen der Hadithwissenschaften im frühen 9. Jahrhundert im Irak
- Gemäß der Ausgabe Maktabat ar-rušd. Riyadh, 2006 (in 3 Bänden auf 2229 Seiten, einschl. Indices)
- Ignaz Goldziher: Muhammedanische Studien. Bd. 2, S. 252.
- Miklos Muranyi: Beiträge zur Geschichte der Ḥadīṯ- und Rechtsgelehrsamkeit der Mālikiyya in Nordafrika bis zum 5. Jh. d. H. Bio-bibliographische Notizen aus der Moscheebibliothek von Qairawān. S. 284. Wiesbaden 1997
- Band 3, S. 1718–1865 in der Ausgabe Maktabat ar-rušd. Riyadh 2006
- Fuat Sezgin (1967), S. 169. Nr. 6
- Miklos Muranyi (1997), S. 283
- Fuat Sezgin (1967), S. 168–169. Nr. 3
- Fuat Sezgin (1967), S. 168. Nr. 2
- Fuat Sezgin (1967), S. 169. Nr. 4–10