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Die Zweite Natur ist ein allgemeiner philosophischer Begriff mit dem eine vom Menschen selbst geschaffene Sphare beschrieben werden soll die ihn ahnlich wie die erste Natur umgibt Inhaltsverzeichnis 1 Antike Begriffsgeschichte 2 Wirkungsgeschichte bis hin zu Hegel 3 Pseudonatur in der Kritik von Marx Lukacs und Adorno 4 EinzelnachweiseAntike Begriffsgeschichte BearbeitenErst seit der Mitte des 5 Jahrhunderts v Chr ist in Griechenland der Begriff der menschlichen Natur nachweisbar zuerst als medizinischer Terminus Bereits bei Demokrit gibt es die Vorstellung dass Erziehung etwas Naturahnliches schaffe Natur und Erziehung haben eine gewisse Ahnlichkeit denn auch die Erziehung wandelt den Menschen um durch diese Umwandlung aber schafft sie Natur physiopoiei 1 Dieser Gedanke wird von Aristoteles aufgenommen Lernen impliziert das Sich Versetzen in den Zustand der der Natur entspricht 2 In der Nikomachischen Ethik vergleicht Aristoteles Gewohnheit und Naturanlage Denn es ist leichter die Gewohnheit zu andern als die Natur Nur darum ist es auch bei der Gewohnheit schwer weil sie der Natur gleicht wie auch Euenos sagt Ich glaube dass eine lange dauernde Ubung da sein muss mein Lieber und dann wird sie den Menschen zum Schlusse zur Natur 3 Nur in seiner Metaphysik im Zusammenhang zahlentheoretischer Uberlegungen verwendet Aristoteles den Terminus hetera physis andere Natur Met A 6 987 b 33 Im Griechischen findet sich der Ausdruck hetera oder deutera physis zweite Natur im Sinne von Gewohnheit erst bei Galenos also im 2 Jahrhundert nach Chr 4 Ubung und Erziehung das ist im klassischen Griechenland eine haufige Vorstellung etwa bei Platon und Aristoteles verwandeln die noch ungenugend ausgestattete Wesensart des zu Erziehenden in eine gesellschaftlich akzeptable Natur Die Erziehung bewirkt aber fur diese griechischen Denker nur eine Ausdehnung nicht eine Aufspaltung der menschlichen Natur in zwei Naturen In der lateinischen Tradition taucht der Gedanke von der Gewohnheit die gleichsam eine zweite Natur schaffe zuerst bei Marcus Tullius Cicero auf und zwar in seinem Werk De finibus bonorum et malorum Dort lasst Cicero den Vertreter der Lehre des Aristoteles sagen dass durch die Gewohnung gewissermassen eine zweite Natur entsteht deinde consuetudine quasi alteram quandam naturam effici die die Menschen zu vielen Handlungen veranlasse die nichts mit der Lust zu tun hatten 5 Das fuhrt hin zu den wirkungsgeschichtlich so einflussreichen in allen europaischen Sprachen verbreiteten Formeln die Gewohnheit schaffe bzw die Gewohnheit sei eine zweite Natur Cicero richtet seinen Blick sowohl auf die Gewohnheit als eine im Menschen gleichsam eine andere Natur schaffende Macht als auch auf die aussere zweite Natur als Produkt der naturliche Gegebenheiten verandernden menschlichen Arbeit In De natura deorum lasst er den Vertreter der Stoa sagen wir versuchen mit unseren Handen inmitten der Natur gleichsam eine zweite Natur zu schaffen nostris denique manibus in rerum natura quasi alteram naturam efficere conamur 6 Wirkungsgeschichte bis hin zu Hegel BearbeitenVon diesen beiden Stellen bei Cicero gehen die Verwendungsweisen des Ausdrucks zweite Natur in der lateinischen Prosa und in allen europaischen Kultursprachen aus Das Konzept der Gewohnheit im Sinne des Erzogenseins des Habitus des Charakters usw als einer inneren zweiten Natur wird dabei sehr haufig aufgegriffen und in den verschiedensten Kontexten angewandt 7 Seit der Spatrenaissance z B mit dem Gedanken dass die gottgleiche Schopferkraft des Menschen eine zweite Natur hervorbringen konne bei Giordano Bruno und dann in kunst kultur moral und gesellschaftstheoretischen Zusammenhangen vor allem seit dem Ausgang des 18 Jahrhunderts besonders bei Kant Fichte Schelling und Hegel findet sich die Vorstellung von menschengemachten Objekten Institutionen und historischen Verhaltnissen die wie eine zweite Natur erscheinen und wirken konnen 8 In der Philosophie Hegels werden die nach Cicero meist getrennten beiden Strange der Begriffsgeschichte wieder zusammengefuhrt Fur seine Philosophie des subjektiven Geistes ist die Gewohnheit eine von der Erziehung angepflanzte zweite Natur In seiner Philosophie des objektiven Geistes konnen sowohl Kunstwerke als auch Institutionen wie Sittlichkeit Rechtssystem und Staat als zweite Natur betrachtet werden 9 Pseudonatur in der Kritik von Marx Lukacs und Adorno BearbeitenFur Karl Marx produzieren Arbeit Tausch und Herrschaftsverhaltnisse Transformationen der Natur und der Gesellschaft fur die Marx Ausdrucke wie naturwuchsig verwendet allerdings nicht den Terminus zweite Natur Dass die von Menschen selbst gemachte Welt der Dinge und Waren ihren Produzenten wie naturlich erscheinen kann ist die Verhexung von gesellschaftlich Produziertem in naturhaft Scheinendes Marx hat derartige Zusammenhange im ersten Band des Kapitals naher ausgefuhrt und kritisch darauf hingewiesen dass die Menschen anstatt als selbstbewusste Produzenten aufzutreten mehr und mehr nur als Anhangsel des Produktionsprozesses fungieren Eine in dieser Traditionslinie stehende Kritik wird vom Interesse gespeist der als Natur verkleideten Herrschaft ledig zu werden 10 In ihren ideologiekritischen Analysen des naturlich Erscheinenden das sie als Produziertes und Gemachtes interpretieren orientieren sich Lukacs und Adorno an Hegels Begriff der zweiten Natur und an der Kritik der politischen Okonomie von Marx Georg Lukacs verwendet den Begriff der zweiten Natur fur seine Kritik an der entfremdeten und verdinglichten Welt Fur seine Theorie des Romans ist diese zweite Natur sinnentleert dem Subjekt fremd geworden erscheint sie wie ein Gefangnis das seine Insassen einschliesst 11 Die Menschen konnen sich daher in den von ihnen selbst geschaffenen Umwelten nicht wiederfinden die sinnerfullten Zeiten sind vorbei Lukacs identifiziert diese zweite Natur polemisch mit der westlichen burgerlichen Welt 12 Diese kritisch gesehene zweite Natur ist fur den fruhen Lukacs die geschichtlich produzierte fur den Einzelnen zunachst einmal unhintergehbare Welt der Konventionen Theodor W Adorno deutet sie in seinem 1932 vor der Frankfurter Kant Gesellschaft gehaltenen Vortrag Die Idee der Naturgeschichte als erstarrte Geschichte und der Welt der Ware zugehorig 13 Erst in Geschichte und Klassenbewusstsein bringt Lukacs die zweite Natur mit den Phanomenen der Verdinglichung und des Warenfetischismus in Verbindung es gelte sich von dieser Knechtschaft unter der so entstandenen zweiten Natur zu befreien 14 Adorno spricht noch in der Negativen Dialektik von Hegels Theorie der zweiten Natur die einer negativen Dialektik unverloren sei 15 Einzelnachweise Bearbeiten Die Fragmente der Vorsokratiker griechisch und deutsch hrsg von H Diels und W Kranz 13 Auflage 1968 S 165 Rhetorik 1 11 Ubersetzt von Franz G Sieveke Munchen Wilhelm Fink 5 Auflage 1995 S 63 Die Nikomachische Ethik 1152 a 29 33 ubersetzt und hrsg von Olof Gigon Munchen Artemis dtv 4 Auflage 1981 S 221 J Waszink Die Vorstellungen von der Ausdehnung der Natur in der griechisch romischen Antike und im fruhen Christentum in Pietas Festschrift fur B Kotting Jahrbuch Antike Christentum Erganzungsband 8 1980 S 30 38 hier S 30 Cicero Uber die Ziele des menschlichen Handelns De finibus bonorum et malorum lat dt V 25 74 hrsg ubersetzt und kommentiert von O Gigon und L Straume Zimmermann Slg Tusculum Munchen Zurich 1988 S 382 f Vom Wesen der Gotter Drei Bucher De natura deorum Libri III lat dt II 60 152 hrsg ubersetzt und erlautert von W Gerlach und K Bayer Slg Tusculum Munchen Zurich 3 Aufl 1990 S 325 327 Dazu zahlreiche Belege bei G Funke Gewohnheit Archiv fur Begriffsgeschichte Bausteine zu einem historischen Worterbuch der Philosophie hrsg von E Rothacker Bonn 1958 Vgl Norbert Rath Zweite Natur Konzepte einer Vermittlung von Natur und Kultur in Anthropologie und Asthetik um 1800 Munster Waxmann 1996 S 121 ff Vgl Italo Testa 2008 Selbstbewusstsein und zweite Natur In K Vieweg W Welsch Hrsg Hegels Phanomenologie des Geistes Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlusselwerk der Moderne Frankfurt M Suhrkamp 2008 S 286 307 Christoph Menke Zweite Natur Kritik und Affirmation In M Volk O Romer S Schreull u a Hg wenn die Stunde es zulasst Zur Traditionalitat und Aktualitat kritischer Theorie Munster Westfalisches Dampfboot 2012 S 154 171 Maik Puzic Spiritus sive Consuetudo Uberlegungen zu einer Theorie der zweiten Natur bei Hegel Wurzburg Konigshausen amp Neumann 2017 S 175 ff Helmut Dahmer Pseudonatur und Kritik Freud Marx und die Gegenwart Frankfurt M Suhrkamp 1994 S 400 Georg Lukacs Die Theorie des Romans Ein geschichtsphilosophischer Versuch uber die Formen der grossen Epik Luchterhand Neuwied 1963 S 61 ff Tanja Dembski Paradigmen der Romantheorie zu Beginn des 20 Jahrhunderts Lukacs Bachtin Rilke Konigshausen amp Neumann Wurzburg 2000 S 323 Adorno Die Idee der Naturgeschichte In ders Gesammelte Schriften 1 Philosophische Fruhschriften Frankfurt M Suhrkamp 1973 S 355 f Lukacs Geschichte und Klassenbewusstsein Studien uber marxistische Dialektik Neuwied Berlin 3 Auflage 1967 S 97 zit nach der Paginierung von 1923 Theodor W Adorno Negative Dialektik 2 Auflage 1970 Frankfurt M Suhrkamp S 48 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Zweite Natur amp oldid 206374434