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Entscheidung des BundesverfassungsgerichtsWunsiedelEntscheidungsdatum 4 November 2009Aktenzeichen 1 BvR 2150 08Verfahrensart VerfassungsbeschwerdeEntscheidung BeschlussFundstelle BVerfGE 124 300Angewandtes RechtArt 3 III 1 GG Art 5 I 1 GG Art 5 II 1 GG Art 5 II 3 GG Art 8 I GG Art 103 II GGDie Wunsiedel Entscheidung ist ein Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4 November 2009 Es ist eine Grundsatzentscheidung zur Versammlungsfreiheit Meinungsfreiheit und Volksverhetzung 1 Eine Strafrechtsnovelle zur Volksverhetzung die das offentliche Billigen Verherrlichen oder Rechtfertigen der nationalsozialistischen Gewalt und Willkurherrschaft unter Strafe stellt ist verfassungsgemass Die Rudolf Hess Gedenkmarsche im frankischen Wunsiedel bleiben verboten Inhaltsverzeichnis 1 Vorgeschichte und Hintergrund 2 Die Entscheidung 3 Rezeption 4 Literatur 5 Weblinks 6 EinzelnachweiseVorgeschichte und Hintergrund BearbeitenDer Beschwerdefuhrer Jurgen Rieger meldete seit 2001 im Voraus bis in das Jahr 2010 jahrlich wiederkehrend eine Kundgebung unter freiem Himmel mit dem Thema Gedenken an Rudolf Hess an 2001 wurde die Versammlung mit Aufzug vom Landratsamt als Versammlungsbehorde verboten Dieses Verbot wurde im Eilverfahren vom Verwaltungsgericht Bayreuth zunachst bestatigt aber im Beschwerdeverfahren vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof aufgehoben Die Richter sahen in ihrer Beurteilung des Versammlungsverbots im Landkreis Wunsiedel keine Gefahr fur die offentliche Sicherheit und Ordnung die von einem Gedenkmarsch ausgehe Es marschierten 2001 allerdings erstmals seit zehn Jahren wieder an die 1 000 Rechtsextreme durch Wunsiedel begleitet von nur etwa 200 Gegendemonstranten 2002 beteiligten sich etwa 3 000 Personen 2003 an die 4 000 Ein Hohepunkt und das Ende der Demonstrationen trat 2004 mit fast 5 000 rechtsextremen Demonstranten aus Deutschland und Europa ein Im Marz 2005 wurde vom Deutschen Bundestag eine Novelle des Strafrechts beschlossen 2 Diese Erganzung des 130 Strafgesetzbuch Volksverhetzung um Absatz 4 lautet wie folgt Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft wer offentlich oder in einer Versammlung den offentlichen Frieden in einer die Wurde der Opfer verletzenden Weise dadurch stort dass er die nationalsozialistische Gewalt und Willkurherrschaft billigt verherrlicht oder rechtfertigt 3 Fur den August 2005 verbot das Landratsamt des Landkreises Wunsiedel daraufhin mit Bescheid vom 29 Juni 2005 die Veranstaltung Dagegen erhob der Beschwerdefuhrer vor dem Verwaltungsgericht Bayreuth Klage in der Hauptsache die mit Urteil vom 9 Mai 2006 abgewiesen wurde 4 Die hiergegen gerichtete Berufung wies der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Urteil vom 26 Marz 2007 gleichfalls zuruck 5 Auch das Bundesverwaltungsgericht bestatigte das Verbot Gegen die Entscheidung seines 6 Senats vom 25 Juni 2008 6 nach der die genannte Volksverhetzungs Novelle ein die Meinungsfreiheit in verfassungsmassiger Weise einschrankendes allgemeines Gesetz im Sinne von Art 5 II 1 GG sei legte der Kundgebungsveranstalter Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein Antrage auf vorlaufigen Rechtsschutz blieben durch alle Instanzen erfolglos Von 2005 bis 2009 verwarf auch das Bundesverfassungsgericht Eilantrage 32 BVerfGG die gegen das Verbot der Kundgebung gestellt worden waren aufgrund von Folgenabwagungen 7 Die Entscheidung BearbeitenDer neue Absatz zur Volksverhetzung greift in den Schutzbereich des Grundrechts nach Art 5 Abs 1 Satz 1 GG ein dass jedermann seine Meinung frei aussern und verbreiten darf Er war deshalb uberhaupt relevant geworden weil die Rechtsprechung zum Versammlungsgesetz 15 Abs 1 VersG eine Gefahr fur die offentliche Sicherheit unter anderem dann annimmt wenn eine Verletzung von Strafrechtsnormen droht 8 Das Bundesverfassungsgericht stimmte dem Beschwerdefuhrer darin zu dass es sich bei dem Absatz um eine Sonderbestimmung also kein allgemeines Gesetz handelt Grundsatzlich darf die Meinungsfreiheit nur durch ein allgemeines Gesetz eingeschrankt werden Dennoch sei die Novelle in diesem Fall zulassig Das Grundgesetz kann als expliziter Gegenentwurf zum Nationalsozialismus verstanden werden was eine Ausnahme in diesem Falle rechtfertige und mit dem Grundgesetz vereinbar mache 9 Die Offenheit des Art 5 Abs 1 2 GG fur derartige Sonderbestimmungen nimmt allerdings den materiellen Gehalt der Meinungsfreiheit nicht zuruck Die nationalsozialistische Gesinnung selbst wird durch die Meinungsfreiheit geschutzt Der staatliche Eingriff wird erst dann erlaubt wenn Meinungsausserungen die rein geistige Sphare des Fur richtig Haltens verlassen und in Rechtsgutverletzungen oder erkennbar in Gefahrdungslagen umschlagen Die Gesetzesnovelle diene dem offentlichen Frieden 130 Abs 4 StGB steht auch mit Art 103 Abs 2 GG in Einklang der die Strafbarkeit an die gesetzliche Bestimmtheit knupft Die Storung des offentlichen Friedens allein ist allerdings um konkretere Tatbestandsmerkmale zu erganzen und inhaltlich naher zu bestimmen Der offentliche Friede ist dann als ein Tatbestandsmerkmal zu verstehen dessen Inhalt sich aus dem jeweiligen Normenzusammenhang je eigens bestimmt Grundsatzlich begrundet bereits die Verwirklichung der anderen Tatbestandsmerkmale die Strafbarkeit bei deren Erfullung auch die Storung des offentlichen Friedens beziehungsweise die Eignung hierzu vermutet werden kann Beim offentlichen Frieden handelt es sich insoweit nicht um ein strafbegrundendes Tatbestandsmerkmal sondern um eine Wertungsformel zur Ausscheidung nicht strafwurdig erscheinender Falle Thomas Fischer 10 Es ist damit ein Korrektiv das es insbesondere erlaubt auch grundrechtlichen Wertungen im Einzelfall Geltung zu verschaffen Die Aufmarsche in Wunsiedel bleiben verboten Die Entscheidung erfolgte obwohl der Beschwerdefuhrer am 29 Oktober 2009 verstorben war Zwar ist nach standiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde zur Durchsetzung hochstpersonlicher Rechte im Falle des Todes erledigt aufgrund der allgemeinen verfassungsrechtlichen Bedeutung wurde die Entscheidung aber trotzdem verkundet Rezeption BearbeitenDer ehemalige Hamburger Richter Gunter Bertram kritisierte die Entscheidung Die Strafrechtsnovelle sei zu verwaschen denn die Begriffe Billigung Verherrlichung und Rechtfertigung konnten ganz unterschiedlich ausgelegt ihre Reichweite ausgedehnt werden Die Entscheidung widerspreche zudem dem Wortlaut des Grundgesetzes 11 Auch der Kasseler Jurist und Autor Horst Meier sah in der Wunsiedel Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Einfuhrung eines Sonderrechts gegen Neonazis und einen Angriff auf die Meinungsfreiheit 12 Literatur BearbeitenMathias Hong Hassrede und extremistische Meinungsausserungen in der Rechtsprechung des EGMR und nach dem Wunsiedel Beschluss des BVerfG In Zeitschrift fur auslandisches offentliches Recht und Volkerrecht ZaoRV Band 70 2010 S 73 126 zaoerv de PDF 542 kB abgerufen am 14 Mai 2017 Weblinks BearbeitenBVerfG 04 11 2009 1 BvR 2150 08 Entscheidung bei dejure org mit Volltexten Kurzfassungen Besprechungen und ZitierungenEinzelnachweise Bearbeiten Bundesverfassungsgericht Beschluss vom 4 November 2009 1 BvR 2150 08 in BVerfGE 124 300 BMJ Erweiterte Strafvorschriften im Kampf gegen Rechtsextremismus Pressemitteilung Nicht mehr online verfugbar BReg 11 Marz 2005 archiviert vom Original am 6 Januar 2010 abgerufen am 14 Mai 2017 BVerfGE 124 300 301 Verwaltungsgericht Bayreuth 9 Mai 2006 Aktenzeichen B 1 K 05 768 Bayerischer Verwaltungsgerichtshof 26 Marz 2007 Aktenzeichen 24 B 06 1894 Randnummer 16 ff Bundesverwaltungsgericht 25 Juni 2008 Aktenzeichen 6 C21 07 Bundesverfassungsgericht 1 Kammer des Ersten Senats Beschluss vom 16 August 2005 Aktenzeichen 1 BvQ 25 05 Beschluss vom 14 August 2006 Aktenzeichen 1 BvQ 25 06 Beschluss vom 13 August 2007 Aktenzeichen 1 BvR 2075 07 Beschluss vom 13 August 2008 Aktenzeichen 1 BvR 2102 08 Beschluss vom 10 August 2009 Aktenzeichen 1 BvQ 34 09 vergleiche BVerfGE 69 315 352 Brokdorf 130 Abs 4 StGB ist mit Art 5 Abs 1 und 2 GG vereinbar Abgerufen am 14 Mai 2017 Pressemitteilung Nr 129 2009 der Pressestelle des Bundesverfassungsgerichtes vom 17 November 2009 zum Beschluss vom 4 November 2009 Aktenzeichen 1 BvR 2150 08 Thomas Fischer Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen 56 Auflage C H Beck Munchen 2009 ISBN 978 3 406 58083 3 130 Rn 14b Gunter Bertram Volksverhetzungs Novelle verfassungsgemass Karlsruhe locuta causa finita In Neue Juristische Wochenschrift Nr 50 2009 S XII XIV Horst Meier Sonderrecht gegen Neonazis Uber Meinungsfreiheit und Konsensbedarf in Deutschland In Merkur Band 64 Nr 733 Juni 2010 ISSN 0026 0096 S 539 544 merkur zeitschrift de Vorschau der ersten Seite Bitte den Hinweis zu Rechtsthemen beachten Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Wunsiedel Entscheidung amp oldid 238412064