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Seegesicht ist ein Gedicht von Peter Hille Es wurde im Jahr 1889 in der Zeitschrift Die Gesellschaft zum ersten Mal veroffentlicht Inhaltsverzeichnis 1 Text und Ausgaben 2 Form und Inhalt 3 Interpretationen 4 Kontext 5 EinzelnachweiseText und Ausgaben BearbeitenSeegesicht wurde mehrmals veroffentlicht unter anderem in Marcel Reich Ranicki 1000 deutsche Gedichte und ihre Interpretationen Frankfurt am Main Insel 1995 5 Band S 17 Die Interpretation in dieser Ausgabe schrieb Gertrud Fussenegger Die einzelnen gedruckten Versionen des Gedichts entsprechen einander nicht vollkommen Im Rahmen von Rudiger Bernhardts Untersuchung Das Geheimnis des Seegesichts von Peter Hille 1 wurde es in folgender Gestalt publiziert Seegesicht Die Kuste ruht Weites Tritonengetut Silberne Wunden der Flut Tobende Augen der Wut Krahende Pausbacks auf steigenden Rossen Platscherndes Spielen purpurne Flossen Neckisch Bedrauen mit Zacken und Spiessen Kraftig anfassendes Leiberumschliessen Und sieh eine Muschel fleischgelb und zart Von Amorinen flusternd bewahrt Hingegossen ruhende Linien Grussender rauschender Palmen und Pinien Angebluhte rosige Bruste Lachelnde sonnengestreifte Kuste Furder kein Drauen mit Zacken und Spiessen Mudhinlallendes Leiberumschliessen Nickende Pausbacks mit schlurfenden Rossen Grunhinflusternde finstere Flossen Erloschene Wunden der Flut Fernes Tritonengetut Stierende Augen der Wut Die Kuste ruht Die bei zeno org nachzulesende Gestalt des Gedichts in der Ausgabe von 1916 weicht nicht nur in der Zeichensetzung von dieser Version des Gedichtes ab sondern an zwei Stellen auch im Wortlaut Der zweite Vers der zweiten Strophe lautet dort Platschernder Spielen purpurne Flossen der vorletzte Vers der vorletzten Strophe Nickende Pausbacks auf schlurfenden Rossen 2 Wahrend letztere Formulierung plausibel klingt scheint es sich bei der erstgenannten um einen Druck oder Ubertragungsfehler zu handeln Allenfalls vorstellbar ware das Genitiv r am Ende des Wortes purpurne In der Ausgabe Leuchtende Tropfen Die schonsten Gedichte von Peter Hille die die Deutsche Verlags Anstalt im Jahr 1924 herausbrachte findet sich am Anfang der letzten Strophe die Abweichung Erloschende Wunden der Flut 3 Deutlich weniger Ahnlichkeit mit den bisher genannten gedruckten Versionen des Gedichts von Peter Hille zeigt das Seegesicht das 1890 in Detlev von Liliencrons Werk Der Maecen veroffentlicht wurde 4 Form und Inhalt BearbeitenOptisch weist das Seegesicht eine Art Entasis auf d h ein An und wieder Abschwellen Von den funf Strophen sind die beiden ersten und letzten vier Verse lang wahrend die Mittelstrophe aus sechs Versen besteht Zudem sind die erste und die letzte Strophe deutlich kurzer als die mittleren drei Strophen In einer Ringkomposition beginnt und endet das Gedicht mit dem Satz Die Kuste ruht Doch es ist nicht dieselbe Ruhe die in diesem zweimal auftretenden Vers beschrieben wird es ist die Ruhe vor und spater die Ruhe nach dem Sturm bzw vor und nach einer sexuellen Aufwallung die mit Tritonengetut eingeleitet wird und auch wieder so ausklingt Die Wunden der Flut und die Augen der Wut die ebenfalls sowohl in der ersten als auch in der letzten Strophe genannt werden lassen auf eher gewalttatige Aktionen schliessen nbsp Detail des Wiener Tritonen und Najadenbrunnens von Edmund Hofmann von Aspernburg aus dem Jahr 1890Doch in der zweiten Strophe treten Akteure auf die eher an Brunnenfiguren erinnern wie sie zur Zeit Peter Hilles beliebt waren Die spielenden krahenden pausbackigen Kerlchen wirken zunachst durchaus kindlich Allerdings agieren sie auch neckisch und umfassen wen auch immer kraftig Es scheint sich hier also um eine eher rustikale Annaherung aneinander zu handeln wobei allerdings noch nicht deutlich wird auf wen es die Pausbacks eigentlich abgesehen haben bzw ob sie nur untereinander diese neckischen Spiele treiben Von dieser zweiten bis zur zweitletzten Strophe ist das Gedicht ubrigens in Paarreimen ausgefuhrt wahrend sich in der ersten und der letzten Strophe samtliche Verse aufeinander reimen nbsp Die Geburt der Venus von Sandro BotticelliIn der zentralen langen Strophe taucht das Motiv der Muschel auf das hier eindeutig eine erotische Konnotation hat Durch ein Enjambement werden die hingegossen ruhenden Linien des dritten Verses dieser Strophe die man unwillkurlich auf einen weiblichen Korper bezieht mit landschaftlichen Elementen Palmen und Pinien des vierten Verses verknupft Diese aber sind wiederum durch das Partizip grussend personifiziert ebenso wie die lachelnde Kuste des letzten Verses dieser Strophe die das Reimwort fur die weiblichen Bruste hergibt Den kindlichen Tritonen aus dem Anfang des Gedichts entsprechen hier die Amorinen die die fleischgelbe zarte Muschel bewahren Insgesamt ist das Motiv des Femininen in dieser Strophe deutlich hervorgehoben Unwillkurlich fuhlt man sich an das Thema der Geburt der Venus erinnert die ja aus dem mit Spermium vermischten Meeresschaum hervorging Furder also von dem Moment an in dem die von Amorinen gehutete Muschel aufgetaucht ist findet kein Spiel mehr mit den Zacken und Spiessen statt In der vorletzten Strophe ziehen die Pausbacks ermudet auf ihren nun schlurfenden vorher aber steigenden Rossen ab War das Flossenspiel vor dieser Begegnung mit den Attributen platschernd und purpurn verbunden so hat sich nun sowohl die Farbe als auch die Stimmung geandert Die Flossen sind nun flusternd und finster und statt des warmen Purpurs taucht das kalte Grun auf Ebenso ist in der letzten Strophe die einstige Silberfarbe der Wunden der Flut erloschen aus der Weite ist die Ferne geworden und die Augen der Wut toben nicht mehr sondern sie stieren nur noch auch dies ubrigens wie viele der Handlungen des Gedichts in Partizipialform Interpretationen BearbeitenDer Titel des Gedichtes ist mehrdeutig Liest man die einleitenden Verse so kann man durchaus die Vorstellung gewinnen dass hier das von der Kuste aus gesehene Meer sein Gesicht zeigt und die silbernen Wunden der Flut als sonnenbeschienene Schaumkopfe oder Wellen der See anzusehen sind In alten Lexika hingegen findet sich das Wort Seegesicht im Sinne einer Umschreibung der Fata Morgana 5 Ganz so naturalistisch ist der Titel des Gedichts mit Sicherheit nicht gemeint allerdings tritt im Fortgang der Handlung also nach der ersten Strophe die zweite Bedeutung des Wortes Gesicht in den Vordergrund Hier scheint es sich zwar nicht um eine Sinnestauschung in der Art der Fata Morgana aber doch um eine Art Erscheinung eine Vision oder Vorstellung des lyrischen Subjekts zu handeln das seinerseits in dem gesamten Text nicht zu Wort kommt Rudiger Bernhardt hat denn auch darauf hingewiesen dass verwandte Texte entsprechende Titel trugen Bernhardt schreibt uber das Gedicht es sei die Beschreibung eines Liebesaktes in der Welt antiker Figuren Der orgiastische Akt vollziehe sich zwischen Amorinen und Tritonen Er sei logisch nicht nachvollziehbar und konne deshalb letztlich nur in der Vorstellung stattfinden 6 An anderer Stelle weist Bernhard darauf hin dass Hille sich in der Figurenwelt homoerotischer Beziehungen sehr gut auskenne in einem Essay den Hermaphrodit beschworen habe und eine Vorstellung von einer allgeschlechtlichen Erregung des Weltalls entwickelt habe 7 Auch in Gerhard Peter Knapps Sammelwerk Autoren damals und heute 8 wird betont dass es sich bei der hier geschilderten Aufwallung nur um eine Vorstellung nicht um ein wirkliches Geschehnis handele Denn die fischleibigen Wesen und die weiblich kindlichen Eroten die hier aufeinandertrafen konnten sich ja gar nicht miteinander vereinigen Uberhaupt habe Hille womoglich Sinnenlust gar nicht selbst erlebt sondern nur als geistiges Spiel vollzogen Er habe vielleicht asketisch gelebt und platonisch gedacht zudem beeinflusst durch seine katholische Erziehung und den Einfluss seines Bruders Philipp Hille sei zu wirklicher Partnerschaft nicht fahig gewesen und deshalb halte sich auch sein lyrisches Subjekt von den Vereinigungsvorgangen fern und beschreibe sie nur 9 Kontext BearbeitenBernhardt erlauterte in seinem Aufsatz uber das Seegesicht in welchem Kontext das Gedicht entstanden ist und gesehen werden sollte Er nennt mehrere Quellen aus denen Hille wahrscheinlich geschopft habe Die alteste ist ein Gedicht von Annette von Droste Hulshoff mit dem Titel Die Muschel das 1844 in der Gesamtausgabe der Werke der Dichterin veroffentlicht wurde 10 Das lyrische Subjekt tritt in diesem Gedicht ganz am Schluss selbst auf und kommentiert So hab ich Donner Blitz und Regenschauer Vertraumt Auch hier also ist das lyrische Subjekt nicht selbst in die zuvor geschilderte Handlung einbezogen sondern es nimmt nur traumenderweise Anteil daran Geschildert aber wird die Vereinigung des Tritonen mit der Najade und zwar unter Einbeziehung mehrerer Elemente die auch in Hilles Gedicht erscheinen Dazu gehoren die Farbe Silber das Tuten des Tritonshorns das Muschelmotiv und auch das harmlose Platschern vor dem Vollzug der Vereinigung Insgesamt weist die Komposition Ahnlichkeiten auf auch hier wird zunachst die Ruhe beschworen woraufhin sich eine Steigerung bis hin zur Liebesszene ergibt und danach wieder ein Verschwinden und Verhallen der geschilderten Figuren und Erlebnisse bis hin zum Aufwachen aus dem Traum folgt Zeitlich naher als Droste Hulshoffs Gedicht liegen die Werke einiger weiterer Autoren die Hille nachweislich gut kannte Es sind Detlev von Liliencron Algernon Swinburne und Dranmor Unter diesem Pseudonym schrieb Ferdinand von Schmid seine Werke die 1873 als Gesammelte Dichtungen herauskamen und bald mehrfach wieder aufgelegt wurden In seinem Damonenwalzer schilderte Dranmor bein bacchantisches Fest das aber wie die Geschehnisse in Hilles Seegesicht vom lyrischen Subjekt nur beobachtet und als Fieberwahn beschrieben wird Auch dieses Gedicht weist einen Aufstieg des Vorgangs bis zum orgiastischen Hohepunkt um danach wieder zu fallen und in die vorige Situation einzutreten 11 auf Mit Swinburne war Hille seit seinem Aufenthalt in London personlich bekannt Seine Werke hatte er 1880 gekauft und anschliessend ausgestattet mit einem Empfehlungsschreiben Victor Hugos die Bekanntschaft des Dichters gesucht Swinburnes Geist so schreibt Bernhardt hatte keinen Platz fur eine steril gewordene Kirche aber er hatte weiten Raum fur die Gotter die heidnischen und Gott hergeleitet aus der Antike So konnte er einem schier unbegreiflichen Gegenstand gerecht werden der Grenzscheide zwischen Leben und Tod zwischen Erfullung und Verganglichkeit zwischen dauernder Bewegung und taglichem Stillstand letztlich gepresst in die Metapher von Meer und Land 12 Und Hilles Begeisterung fur den Dichter ist sich der Besonderheit bewusst in dem Dichter einen Dichter des Tabus zu erkennen des Tabus der gleichgeschlechtlichen Liebe Hille so ware festzustellen wusste auch um sie Begriff er einerseits die alles zerbrechende Sinnlichkeit zwischen Mann und Frau gelesen bei Dranmor so wusste er auch um die Moglichkeit der gleichgeschlechtlichen Liebe Die Begegnung mit Swinburne wurde fur ihn zur Bestat i gung fur eigene Vorstellungen wohl nicht primar fur die eigenen Gefuhle obwohl sich mit einer solchen Annahme manches schwer Begreifbare in Hilles Leben muhelos erklaren liesse Insbesondere das Gedicht Ein verlassener Garten von Swinburne weise Ahnlichkeiten mit Hilles Seegesicht auf 13 Ab 1885 stand Hille in regem Austausch mit Detlev von Liliencron Es ist nicht nachweisbar aber sehr wahrscheinlich dass er in den 1880er Jahren von Liliencron den Borbyer Sonderdruck erhielt in dem auch Liliencrons Gedicht Vision zu finden war Es war 1880 entstanden und wies grosse Ahnlichkeit mit dem Seegesicht auf Als Hille Seegesicht veroffentlichte anderte Liliencron den Titel seines Gedichts in Gesicht und veroffentlichte es in der Zeitschrift Pan Spater allerdings erhielt Liliencrons Werk den Titel Schnell herannahender anschwellender und ebenso schnell ersterbender Stromstoss und wurde stark verandert auch mit einem ironisierenden Untertitel versehen Bei Liliencron befindet sich das lyrische Subjekt am Waldesufer hort plotzlich Hornertonen und beobachtet dann wie seine Geliebte sich im Zuge einer Hetzjagd mit einem Keiler vereinigt woraufhin das lyrische Subjekt diese Geliebte als verfluchte Metze bezeichnet Fur Bernhardt ist Liliencrons Akt ebensowenig nachvollziehbar 14 wie die Vorgange in Hilles Seegesicht Beide Dichter jedenfalls so Bernhardt hatten die Veranlagung gehabt die Welt als einen uberwaltigenden Bewegungsvorgang zu begreifen in dem eine umfassende Liebe als treibende Kraft wirkt eine umfassende Liebe in all ihren unterschiedlichen Moglichkeiten 15 Einzelnachweise Bearbeiten Rudiger Bernhardt Das Geheimnis des Seegesichts von Peter Hille in Peter Hille Blatter 1994 S 43 71 im Folgenden zitiert als Bernhardt 1994 Der Text steht als pdf zum Download auf der Seite der Peter Hille Gesellschaft bereit Das Gedicht wurde auf S 47 abgedruckt Seegedicht in der Version der Ausgabe der Gesammelten Werke Peter Hilles von 1916 S 63 auf www zeno org eingesehen am 8 November 2015 Leuchtende Tropfen Die schonsten Gedichte von Peter Hille Deutsche Verlagsanstalt 1924 S 36 Detlev Freiherr von Liliencron Der Maecen tredition 2011 ISBN 978 3 8424 0893 7 S 142 Carl Philipp Funke Handworterbuch der Naturlehre Band 2 Leipzig 1805 S 188 Bernhardt 1994 S 63 Bernhardt 1994 S 58 Gerhard Peter Knapp Hrsg Autoren damals und heute Literaturgeschichtliche Beispiele veranderter Wirkungshorizonte Amsterdam und Atlanta 1991 Amsterdamer Beitrage zur neueren Germanistik Band 31 33 1990 91 im Folgenden zitiert als Knapp 1991 Knapp 1991 S 411 f Bernhardt 1994 S 66 ff Bernhardt 1994 S 54 Bernhardt 1994 S 57 Bernhardt 1994 S 57 f Bernhardt 1994 S 64 Bernhardt 1994 S 65 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Seegesicht amp oldid 224290398