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Die gerichtlichen Hinweispflichten normieren die Anspruche der Prozessparteien durch das Gericht auf besondere Umstande oder Auffassungen des Gerichts hingewiesen zu werden Sie differieren in den einzelnen Verfahrensordnungen Gerichtliche Hinweispflichten dienen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Vermeidung von Uberraschungsentscheidungen und konkretisieren den Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehor Art 103 Abs 1 GG 1 Inhaltsverzeichnis 1 Deutschland 1 1 Zivilprozess 1 1 1 Inhalt und Umfang 1 1 2 Grenzen 1 2 Verwaltungsprozess 1 3 Strafprozess 2 Osterreich Liechtenstein 3 Weblinks 4 EinzelnachweiseDeutschland BearbeitenZivilprozess Bearbeiten Im Zivilprozess gilt der Beibringungsgrundsatz Deshalb haben sich in erster Linie die Parteien selbst in ihrem schriftlichen und mundlichen Vortrag uber alle entscheidungserheblichen tatsachlichen Umstande vollstandig und wahrheitsgemass zu erklaren 130 138 ZPO Die Prozessleitung und Entscheidungsfindung sind aber Aufgabe des Gerichts 136 ZPO Die materielle Prozessleitung gem 139 ZPO in der seit dem 1 Januar 2002 geltenden Fassung soll ein faires Verfahren fur die Parteien und rechtliches Gehor Art 103 Abs 1 GG siehe BVerfG fur sie gewahrleisten 2 3 sowie die Mitverantwortung des Gerichts fur eine umfassende tatsachliche und rechtliche Klarung des Streitstoffs hervorheben 4 Inhalt und Umfang Bearbeiten Der Richter muss in I und II Instanz nach 139 Abs 1 ZPO den Sachverhalt und die Rechtsfragen mit den Parteien offen und uneingeschrankt erortern 5 Die Hinweise mussen nicht nur vollstandig und rechtzeitig 5 d h gegebenenfalls schon vor der mundlichen Verhandlung erfolgen sondern auch genau erkennen lassen welche Aufklarung welchen Vortrag oder welche Beweisantritte das Gericht noch fur erforderlich halt 2 6 Sie sind aktenkundig zu machen 139 Abs 4 ZPO 5 Dies ist im Hinblick auf die Uberprufung moglicher Rechtsfehler im Sinne des 546 ZPO in Berufung 513 ZPO oder Revision 545 ZPO von besonderer Bedeutung Die unterbliebene Dokumentation hat zur Folge dass das Rechtsmittelgericht bei entsprechender Verfahrensruge von der Nichterteilung des Hinweises ausgehen und die Sache an das Ausgangsgericht zuruckverweisen muss 5 Ist eine Berufung nicht zulassig so kommt auf eine Ruge der beschwerten Partei hin eine Fortfuhrung des Rechtsstreits gemass 321a ZPO in Betracht Stellt das Gericht nach der letzten mundlichen Verhandlung aber vor Absetzung des Urteils eine Verletzung der Hinweis und Aufklarungspflicht fest so ist die Verhandlung gem 156 Abs 2 Nr 1 ZPO wieder zu eroffnen Eine Verletzung der Erorterungspflicht kann dagegen nicht erfolgreich gerugt werden 7 Die Hinweispflicht besteht insbesondere dann wenn die betroffene Partei einen Gesichtspunkt erkennbar ubersehen oder fur unerheblich gehalten hat 139 Abs 2 Satz 1 ZPO 5 Hinweise des Prozessgegners lassen die gerichtliche Hinweispflicht nicht ohne weiteres entfallen 5 Die Pflicht zum Hinweis auf Zulassigkeitsbedenken bezieht sich auf Prozess und Rechtsmittelvoraussetzungen 139 Abs 3 ZPO 5 Die Verantwortung fur die Erteilung der Hinweise trifft das Gericht also den Spruchkorper in seiner Gesamtheit 5 Das Gericht muss der betroffenen Partei eine Gelegenheit zur Reaktion auf den Hinweis geben 5 Gegebenenfalls muss der betroffenen Partei eine Schriftsatzfrist gemass 139 Abs 5 ZPO in Verbindung mit 296 a S 2 ZPO gegeben werden 5 Eine auf den Hinweis abgegebene Erklarung kann nicht gemass 296 ZPO als verspatet zuruckgewiesen werden 8 Ein wiederholter Hinweis kann geboten sein wenn die betroffene Partei auf den Hinweis hin keine ausreichende Erklarung abgibt 9 Auf die Anderung von Antragen darf das Gericht nur hinwirken wenn sie sich im Rahmen des Prozessbegehrens der Partei halten 5 Auf die Notwendigkeit der Benennung von Beweismitteln ist hinzuweisen wenn sich aus dem ubrigen Vorbringen ergibt dass das Unterbleiben des Beweisantritts auf einem Versehen beruht 10 Zulassig und geboten ist es widerspruchlichen und mehrdeutigen Sachvortrag aufzuklaren 11 Im Rahmen der rechtlichen Erorterung gemass 139 Abs 1 ZPO ist zum Beispiel darauf hinzuweisen dass das Gericht einen Vertrag anders auslegen will als die Parteien 5 Das Gericht darf auch darauf hinweisen dass ein Antrag auf Erlass eines Versaumnisurteils oder eine Erledigterklarung nebst Antrag auf einen Beschluss gemass 91 a ZPO gestellt werden kann oder dass eine unrichtige Parteibezeichnung berichtigt wird 5 Grenzen Bearbeiten Der Aufklarungspflicht sind Grenzen gezogen durch das Gebot der richterlichen Neutralitat Der Richter darf sich durch seine Hinweise nicht einseitig auf die Seite einer Partei schlagen 12 Erweckt der Richter den Anschein der Parteilichkeit so kann er nach 42 ZPO wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden Sehr streitig ist ob der Richter auf die Einrede der Verjahrung hinweisen darf 13 Der Bundesgerichtshof hat das im Jahr 2003 verneint 14 Verwaltungsprozess Bearbeiten Uber offentlich rechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art entscheiden die Verwaltungsgerichte 40 VwGO Soweit die VwGO keine eigenen Bestimmungen uber das Verfahren enthalt ist die Zivilprozessordnung entsprechend anzuwenden wenn die grundsatzlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten dies nicht ausschliessen 173 VwGO Denn im Verwaltungsprozess dominiert der Untersuchungsgrundsatz er weist aber auch Elemente des Beibringungsgrundsatzes auf zum Beispiel bei der Zuruckweisung verspateten Vorbringens gemass 87b VwGO 15 Nach 104 Abs 1 VwGO hat der Vorsitzende die Streitsache mit den Beteiligten tatsachlich und rechtlich zu erortern Diese Erorterung muss sich auf das Ergebnis einer eventuellen Beweisaufnahme erstrecken 108 Abs 2 VwGO Der Umfang der Erorterung im Einzelfall hat sich jedoch an der jeweiligen konkreten Sachlage auszurichten 16 In der Regel bleiben namlich die Beweiswurdigung das daraus folgende Beweisergebnis und die hieraus zu ziehenden Schlussfolgerungen der richterlichen Schlussberatung vorbehalten und entziehen sich deshalb einer vorherigen Erorterung mit den Beteiligten 17 Nach 86 Abs 3 VwGO hat der Vorsitzende darauf hinzuwirken dass Formfehler beseitigt unklare Antrage erlautert sachdienliche Antrage gestellt ungenugende tatsachliche Angaben erganzt ferner alle fur die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklarungen abgegeben werden Die Hinweispflicht dient wie im Zivilprozess der Wahrung rechtlichen Gehors soll insbesondere verhindern dass die Beteiligten durch die Entscheidung des Gerichts uberrascht werden 16 Insoweit enthalt die VwGO eigene Bestimmungen uber das Verfahren Es besteht daher kein Bedurfnis etwa 139 ZPO entsprechend anzuwenden 18 155 FGO und 202 SGG enthalten fur die besondere Verwaltungsgerichtsbarkeit dem 173 VwGO entsprechende Regelungen 19 Die Hinweis und Aufklarungspflicht hat nicht nur den Zweck die sachgemasse Durchfuhrung des Verfahrens zu erleichtern und zu verhindern dass die Verwirklichung der den Beteiligten zur Verfugung stehenden formellen Verfahrensrechte und materiellen Anspruche an deren Unerfahrenheit Unbeholfenheit oder mangelnden Rechtskenntnis scheitert 20 Sie soll vor allem auch zu einer richtigen dem Gesetz entsprechenden Entscheidung des Gerichts beitragen 21 Im Ubrigen gilt das zu 139 II ZPO Gesagte sinngemass 19 Strafprozess Bearbeiten Im Strafprozess findet der Untersuchungsgrundsatz uneingeschrankt Anwendung 22 Die richterlichen Hinweis und Aufklarungspflichten sind fur das Strafverfahren in der StPO abschliessend geregelt Zentrale Vorschrift fur die Hauptverhandlung ist 265 StPO Nur die in der Anklage 151 200 StPO bzw Nachtragsanklage 266 StPO zugelassene Tat im strafprozessualen Sinn ist Gegenstand der Hauptverhandlung und der Urteilsfindung Immutabilitatsprinzip 264 StPO Auf eine Veranderung der rechtlichen Gesichtspunkte oder der Sachlage hat das Gericht deshalb besonders hinzuweisen 265 StPO in der seit dem 25 Juli 2015 geltenden Fassung 23 Die Hinweispflicht dient dem schutzwurdigen Verteidigungsinteresse des Angeklagten vor einer Uberraschungsentscheidung 24 Auch der Verteidiger soll Gelegenheit haben seine Verteidigung etwa gegen neu vorbrachte Tatsachen zum Taterverhalten angemessen vorzubereiten 25 Gegebenenfalls ist die Hauptverhandlung dafur auszusetzen 265 Abs 3 und Abs 4 StPO Art und Umfang der Hinweispflicht insbesondere die Frage ob und inwieweit sich die Hinweispflicht auch auf Nebenstrafen Fahrverbot 44 StGB und Nebenfolgen Verlust der Amtsfahigkeit der Wahlbarkeit und des Stimmrechts 45 StGB erstreckt waren lange umstritten 26 Eine von dem Bundesministerium der Justiz und fur Verbraucherschutz im Jahr 2014 eingesetzte Expertenkommission hatte deshalb eine Erweiterung und Klarstellung der Hinweispflichten in 265 StPO befurwortet 27 Eine Grenze sah die Expertenkommission aber dort wo Verpflichtungen geschaffen wurden die das erkennende Gericht in seiner Uberzeugungsbildung behindern und damit den Prozess der Wahrheitsfindung gefahrden wurden Daher empfahl die Kommission nicht das Gericht zu Beginn der Hauptverhandlung etwa zur Abgabe vorlaufiger Einschatzungen zur Beweisaufnahme oder zur Durchfuhrung von Rechtsgesprachen zu verpflichten Das Gericht kann jedoch gem 257b StPO in der Hauptverhandlung den Stand des Verfahrens mit den Beteiligten erortern Die Hinweispflicht bezieht sich seit Juli 2015 auch auf Massregeln der Besserung und Sicherung 265 Abs 2 StPO Neben 265 StPO ergibt sich eine besondere Hinweispflicht aus 257c Abs 4 Satz 4 StPO wenn das Gericht die Voraussetzungen fur eine tatsachliche Verstandigung als nicht mehr gegeben ansieht 28 Beruht das Urteil auf einem fehlenden Hinweis hatten also Angeklagter oder Verteidiger sich bei ordnungsgemassem Hinweis anders und wirksamer als geschehen verteidigt kann das Urteil mit der Revision angefochten werden 29 Osterreich Liechtenstein BearbeitenIn Osterreich und Liechtenstein ist auch die Bezeichnung Manuduktionspflicht gebrauchlich Weblinks BearbeitenErnst Sarres Richterliche Prozessleitung und anwaltliches Fragerecht 1 Februar 2002Einzelnachweise Bearbeiten BVerfG Beschluss vom 29 Mai 1991 1 BvR 1383 90 BVerfGE 84 188 NJW 1991 2823 a b Ekkehart Reinelt 139 ZPO Die richterliche Prozessforderungspflicht in der Praxis Bayerischer AnwaltBrief November 2007 BGH Beschluss vom 17 September 2015 IX ZR 263 13 Gesetzentwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses BT Drucksache 14 4722 vom 24 November 2000 S 77 f a b c d e f g h i j k l m Zoller Kommentar zur ZPO 31 Auflage 2016 Rdnrn 5 ff zu 139 ZPO BGH NJW 2002 3317 Vgl Zoller ZPO Rn 3 zu 139 ZPO OLG Hamm NJW RR 2003 1651 OLG Munchen NJW RR 1997 1425 BGH NJW 1998 155 BGH NJW RR 2002 1071 BGHZ 24 278 Baumbach Lauterbach Hartmann Kommentar zur Zivilprozessordnung ZPO 2012 139 Rz 89 m w N BGH Beschluss vom 2 Oktober 2003 V ZB 22 03 Kopp Schenke Kommentar zur VwGO 21 Auflage 2015 Rdnrn 22 ff zu 86 VwGO a b BVerwG Beschluss vom 16 Juni 2003 7 B 106 02 BVerwG Beschluss vom 5 Februar 1999 9 B 797 98 Buchholz 310 108 Abs 2 VwGO Nr 4 So wirkt sich die ZPO Reform auf das verwaltungsgerichtliche Verfahren aus Memento vom 2 Januar 2016 im Internet Archive 1 November 2003 a b Schneider MDR 1977 881 BVerwG NVwZ 1985 36 BVerfGE 42 73 Meyer Gossner Schmitt Kommentar zur StPO 58 Auflage 2015 Rdnrn 10 ff zu 244 StPO Anderung 265 StPO vom 25 Juli 2015 buzer de BGH Beschluss vom 12 Januar 2011 1 StR 582 10 BGH StV 1993 179 Stuckenberg in Lowe Rosenberg StPO 26 Auflage 2013 265 Rn 72 ff Bericht der Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens Stand Oktober 2015 S 118 ff BGH NJW 2011 2377 Detlef Burhoff Verfahrenstipps und Hinweise fur Strafverteidiger I 2011 III 2 Rechtlicher Hinweis 265 StPO ZAP Heft 6 2011 S 673 ff Bitte den Hinweis zu Rechtsthemen beachten Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Gerichtliche Hinweispflicht Deutschland amp oldid 211824210