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Die Leichensynode auch Kadaversynode oder lateinisch Synodus horrenda die im Januar 897 in Rom stattfand war ein kirchlicher Schauprozess zu dem Papst Stephan VI die Leiche seines Vorgangers Formosus exhumieren liess um ihn wegen angeblicher Missbrauche wahrend seines Pontifikats aburteilen zu lassen Gemalde von Jean Paul Laurens 1870 Musee des Beaux Arts de Nantes Inhaltsverzeichnis 1 Vorgeschichte 2 Stephan VI und die Leichensynode 2 1 Die Anklage 2 2 Prozess und Urteil 3 Nachgeschichte 4 Forschung 5 Quellen 6 Literatur 7 AnmerkungenVorgeschichte BearbeitenDie Herrscher des zerfallenden Karolingerreichs verloren in der zweiten Halfte des 9 Jahrhunderts zunehmend an Einfluss im italienischen Reichsteil Nach der Absetzung Kaiser Karls III durch den Reichstag von Tribur bei Frankfurt am Main im Jahr 887 konkurrierten Markgraf Berengar I von Friaul und Herzog Wido II von Spoleto um die Macht in Italien Zugleich hielt auch Karls Neffe der neue ostfrankische Konig Arnulf von Karnten seinen Herrschaftsanspruch aufrecht Im Jahr 889 besiegte Wido den im Jahr zuvor zum Konig von Italien gekronten Berengar und liess sich in Pavia selbst die Krone aufsetzen Der damalige Papst Stephan V unterstutzte das Haus Spoleto widerwillig da Widos Herzogtum in unmittelbarer Nachbarschaft zu Rom lag und der neue Konig auch in der Stadt selbst grossen Einfluss ausubte 891 kronte der Papst Wido gar zum Kaiser Formosus folgte Stephan V noch im gleichen Jahr auf den Papstthron Er behielt die vorsichtige Politik seines Vorgangers bei wiederholte 892 Widos Kronung und erhob dessen Sohn Lambert von Spoleto zum Mitkaiser Gleichzeitig erneuerte er insgeheim ein Hilfsersuchen seines Vorgangers an Konig Arnulf Dieser folgte dem Ruf 894 kam nach Italien und besiegte Wido der kurz darauf starb Am 22 Februar 896 kronte Formosus schliesslich Arnulf von Karnten zum Kaiser obwohl damals die Witwe Widos Herzogin Ageltrude uber Rom herrschte Kurze Zeit nachdem Arnulf Rom verlassen hatte nur sechs Wochen nach der Kaiserkronung starb Papst Formosus etwa 80 jahrig am 4 April 896 Dies hat ihn wohl davor bewahrt noch zu Lebzeiten Ziel der Rachegeluste der Spoletiner zu werden Stephan VI und die Leichensynode BearbeitenFormosus Nachfolger Bonifatius VI starb bereits nach nur 14 tagigem Pontifikat Der im Mai 896 gewahlte Stephan VI 1 erkannte zunachst ebenfalls Arnulf als Kaiser an wechselte aber die Seite nachdem Widos Sohn Lambert seine Machtposition in Rom wieder gefestigt hatte Ob dieser die nachfolgende Leichensynode initiiert oder nur geduldet hat ist in der Forschung umstritten Fur eine blosse Duldung spricht dass Lambert auf die Gultigkeit seiner Erhebung zum Mitkaiser durch Formosus bedacht sein musste und dass er spater an dessen Rehabilitierung beteiligt war Die Anklage Bearbeiten Ein wichtiger Grund fur den Schauprozess durften Zweifel an der Rechtmassigkeit der Papstwahl Stephans VI gewesen sein Seit dem Ersten Konzil von Nicaa im Jahr 325 war es geltendes Kirchenrecht dass ein Kleriker wie er der bereits in einer Diozese zum Bischof gewahlt worden war nicht Bischof einer anderen Diozese werden durfte Wegen dieses sogenannten Translationsverbots war Stephan nach Marinus I und Formosus erst der dritte Papst der zuvor Bischof einer anderen Stadt gewesen war Wie alle Bischofe entstammten vor der Wahl Marinus auch die Papste in der Regel den Reihen der Diakone und Priester ihres Bistums Wenn also ein Bischof zum Papst gewahlt wurde bedeutete dies dass er seinen fruheren Diozesansitz gegen den der Stadt Rom eintauschen musste Eine solche Translation war nach damaligem kanonischen Recht nur in Fallen von Notwendigkeit necessitas oder Nutzlichkeit utilitas gestattet Verboten war sie jedoch wenn sie nur dem Ehrgeiz des Amtstragers diente Genau das aber warf Stephan Formosus vor der vor seiner Wahl zum Papst Bischof von Porto gewesen war Das war sogar der Hauptanklagepunkt obwohl besser gesagt weil Stephan selbst sich der Translation schuldig gemacht hatte Er war vor seinem Wechsel auf den Stuhl Petri Bischof von Anagni gewesen ein Amt das niemand anderer als Formosus ihm ubertragen hatte Wenn dieser nun nachtraglich verurteilt und seine Weihen fur ungultig erklart wurden loste sich Stephans VI Translationsproblem von selbst Denn nach einer ungultigen Weihe ware er de jure nie Bischof gewesen und hatte sich somit auch nicht des Wechsels in ein anderes Bistum schuldig machen konnen Um die gewunschte Verurteilung zu erreichen wurde Formosus daruber hinaus angeklagt er habe einen Eid gebrochen den er Papst Johannes VIII 878 auf der Synode von Troyes geleistet hatte Diesem Eid zufolge hatte er nie wieder nach Rom zuruckkehren durfen Weiterhin wurde er beschuldigt seine Ruckversetzung in den Laienstand durch Papst Johannes missachtet zu haben Gegen diese Anklagepunkte sprach aber dass Johannes Nachfolger Papst Marinus I Formosus schon 883 wieder als Bischof eingesetzt und von seinem Eid entbunden hatte Prozess und Urteil Bearbeiten Dennoch liess Stephan neun Monate nach dem Tod von Formosus dessen schon verwesende Leiche aus der Gruft holen in papstliche Gewander kleiden und auf den Thron setzen Dann wurde Formosus der durch einen Diakon vertreten wurde in einer dreitagigen Prozedur formlich angeklagt und verurteilt Das Urteil stand von Beginn an fest Formosus wurde fur abgesetzt sowie alle seine Amtshandlungen und von ihm gespendeten Weihen fur ungultig erklart Nach seiner Verurteilung wurde Formosus wieder der papstlichen Gewander entkleidet Wegen des angeblichen Eidbruchs hackte man ihm ausserdem die zwei Schwurfinger der rechten Hand ab Seine Leiche liess Stephan VI zunachst auf dem Begrabnisplatz der Fremden in Rom verscharren Kurz darauf wurde Formosus erneut exhumiert und in den Tiber geworfen Ein Monch behauptete spater Formosus sei ihm im Traum erschienen woraufhin er ihn aus dem Fluss gezogen und heimlich erneut bestattet habe Nach dem Konzept der Spiegelstrafe entsprach die Verurteilung einem umgekehrten Abbild der gegen Formosus erhobenen Vorwurfe Statt auf der cathedra beati Petri inthronisiert zu bleiben wurde der Tote vom papstlichen Stuhl gerissen An die Stelle der feierlichen Einkleidung des Elekten vor der Weihe im Petersdom trat die Entblossung bis auf das letzte Hemd Statt ins papstliche Ornat wurde er in die Tracht des Volkes gehullt Der Verlust der Finger verwies auf den Vorwurf des Meineids vielleicht auch auf den Verlust der Segenskraft des Papstes Die Enthauptung gemahnte an die vormalige Stellung des Toten als Haupt der Kirche Das Herauszerren des Toten uber die Schwelle der Kirche und das Verscharren des Leichnams auf dem Fremdenfriedhof beraubten Formosus seiner irdischen Heimat Er verlor den Schutz der Kirche und die Sicherheit seiner Heimatstadt Die Ehre der Beisetzung wurde ihm ebenfalls verweigert Das Ausgraben der Leiche auf dem Friedhof war ein Gegenbild zur feierlichen Erhebung heiliger Gebeine Die Auffindung inventio Erhebung elevatio und Uberfuhrung von Reliquien an den eigentlichen Ort ihrer Verehrung translatio adventus occursio bildeten bis ins Hochmittelalter hinein wesentliche Elemente fur einen neuen Heiligenkult Die Leiche des Formosus wurde stattdessen in einem Umkehrritual aus dem eigenen Grab verbannt Die Versenkung im Tiber vollendete die Tilgung des Toten aus dem Gedachtnis der Lebenden damnatio memoriae Einzelne Quellenhinweise lassen sich sogar dahingehend deuten dass auch die Heiligkeit des papstlichen Amtes gewahrt bleiben sollte Nachgeschichte BearbeitenStephan VI konnte sich seines Triumphes nicht lange erfreuen Noch im August 897 wurde er gesturzt in den Kerker geworfen und dort erwurgt Als Urheber der Absetzung gilt die romische Stadtbevolkerung Sie sah wohl im Einsturz der Lateranbasilika der sich wahrend des Pontifikats Stephans VI ereignet hatte ein Zeichen fur den Zorn Gottes gegen die Initiatoren der Leichensynode Stephans zweiter Nachfolger Theodor II der nur zwanzig Tage lang auf dem Papstthron sass liess im Dezember 897 die Leiche von Formosus die von dessen Anhangern aus dem Tiber geborgen worden war ehrenvoll bestatten und hob samtliche Beschlusse der Leichensynode auf Einen umfassenden Rehabilitationsversuch unternahm Papst Johannes IX der zusammen mit Kaiser Lambert auf der Synode in Ravenna 898 unter anderem die Beschlusse der Synode verurteilte und das Pontifikat sowie die Ordinationen des Formosus fur gultig erklarte Die Machtkampfe zwischen den verschiedenen Adelsparteien nahmen in den nachsten Jahren an Heftigkeit und Grausamkeit noch zu Mit Sergius III nach dem Zeugnis des Geschichtsschreibers und Bischofs Liutprand von Cremona ein Morder auf dem Papstthron kam 904 wieder ein Parteiganger Stephans VI an die Macht Er verfolgte die Partei des Formosus erneut und erklarte alle Kleriker die durch ihn oder durch einen von ihm ernannten Bischof die Weihe empfangen hatten zu Laien Sergius liess die Leiche des toten Papstes ein zweites Mal exhumieren und nach der Abtrennung der ubrigen Finger der Schwurhand wiederum in den Tiber werfen Sie soll sich jedoch im Netz eines Fischers verfangen haben und wurde spater in die Peterskirche zuruckgebracht um dort zum dritten Mal bestattet zu werden In dieser Zeit entstand eine Anzahl von Streitschriften von Anhangern des Formosus Ihre Autoren Auxilius Vulgarius sowie ein Unbekannter waren Priester die von Formosus geweiht und unter Sergius III in den Laienstand versetzt worden waren Anhand von Prazedenzfallen die sie aus dem Kirchenrecht und den Konzilstexten gesammelt hatten hofften sie die Gultigkeit ihrer Weihen beweisen zu konnen Forschung BearbeitenIn der historischen Forschung spielt die Leichensynode heute vor allem in vier Themenbereichen eine Rolle Da ist zum einen die mit dem Fall Formosus verbundene Weiheproblematik die Ernst Dummler naher beleuchtet hat Harald Zimmermann sieht in dem Vorgang ein Gerichtsverfahren das gegen Formosus angestrengt wurde Johannes Laudage erkennt in der Abhandlung des Auxilius eine wichtige Brucke zwischen altkirchlichen Vorstellungen uber die Gultigkeit der Sakramente und der Simoniedebatte des 11 Jahrhunderts Sebastian Scholz wiederum befasst sich mit der Frage der Translation und dem Wandel der Kirchenverfassung der am Bistumswechsel von Bischofen deutlich wird Quellen BearbeitenAlbert Bauer Reinhold Rau Bearb Quellen zur Geschichte der sachsischen Kaiserzeit Ausgewahlte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters Freiherr vom Stein Gedachtnisausgabe Bd 8 Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1971 S 260 f Literatur BearbeitenWilfried Hartmann Die Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien Schoningh Paderborn u a 1989 ISBN 3 506 74688 X Marie Luise Heckmann Der Fall Formosus ungerechtfertigte Anklage gegen einen Toten Leichenfrevel oder inszenierte Entheiligung des Sakralen In Stefan Weinfurter Hrsg Papstliche Herrschaft im Mittelalter Funktionsweisen Strategien Darstellungsformen Mittelalter Forschungen Bd 38 Thorbecke Ostfildern 2012 ISBN 978 3 7995 4289 0 S 223 238 online Harald Zimmermann Papstabsetzungen des Mittelalters Bohlau Graz u a 1968 Jochen Johrendt Ein toter Papst vor Gericht in Damals Heft 4 2020 S 72 76 Geschichten aus der Geschichte Podcast Die Leichensynode von 897Anmerkungen Bearbeiten Stephan VI In Salvador Miranda The Cardinals of the Holy Roman Church Website der Florida International University englisch abgerufen am 18 Marz 2012 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Leichensynode amp oldid 235741580