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Dieser Artikel behandelt sozialstrukturellen Begriff Zum Begriff in der offentlichen Verwaltung siehe Lebenslage E Administration Lebenslage bezeichnet einen Zustand in der Lebenswelt mit den allgemeinen Umstanden und dem Rahmen der Moglichkeiten unter dem einzelne Personen oder Gruppen in der Gesellschaft leben einschliesslich der dabei eingenommenen sozialen Position Lebenslagen umfassen unterschiedliche Aspekte und Dimensionen beispielsweise die Familiensituation die Arbeitssituation die Einkommens und Vermogenssituation den Gesundheitszustand die Wohnverhaltnisse oder die Bildung Das soziologische Verstandnis von Lebenslage unterscheidet sich von dem umgangssprachlichen Gehalt der Bezeichnung und ihrer Verwendung im Rahmen der Organisation kommunaler Aufgabenstrukturen siehe Lebenslagenprinzip Verwendung findet er vorrangig in der soziologischen Armutsforschung und als soziale Lage in der Sozialstrukturanalyse Davon ausgehend wurde der Begriff im Rahmen des Relationalen Konstruktivismus nicht mehr als Teil sondern als Gegenuber zum Begriff der Lebenswelt bestimmt Verwendung findet dieses Begriffsverstandnis grundlegend in dem Entwurf einer Systemisch konstruktivistischen Lebensweltorientierung sowie dem Entwurf einer Relationalen Sozialen Arbeit Inhaltsverzeichnis 1 Begriffsgeschichte 2 Soziologische Armutsforschung 3 Lebenslage als relationale Bedingungen der Lebenswelt 4 Siehe auch 5 Literatur 6 Weblinks 7 EinzelnachweiseBegriffsgeschichte BearbeitenEine fruhe Verwendung fand die Bezeichnung Lebenslage bei Karl Marx und Friedrich Engels in ihrer Beschreibung der Situation des Proletariats 1 Seine erste theoretische Ausformulierung in den Sozialwissenschaften erhielt der Begriff durch den Philosophen und Nationalokonomen Otto Neurath Dieser ausserte 1909 seine Kritik an den Arbeiten des Vereins fur Sozialpolitik da diese zu einseitig an den Zahlen der Geldrechnung ausgerichtet seien Vielmehr solle jedoch fur sozialpolitische Erwagungen die Gesamtlage einer Menschengruppe berucksichtigt werden also lebenswichtige Teilaspekte deren Zusammenschau Neurath Lebenslage nannte 2 Die Lebenslage ist der Inbegriff aller Umstande die verhaltnismassig unmittelbar die Verhaltensweisen eines Menschen seinen Schmerz seine Freude bedingen Wohnung Nahrung Kleidung Gesundheitspflege Bucher Theater freundliche menschliche Umgebung all das gehort zur Lebenslage Otto Neurath 1909 Dieser Gedankengang wurde in der Nachkriegszeit von Gerhard Weisser ubernommen der davon ausging dass uber das Wirtschaftssystem nicht lediglich Einkommen sondern Lebenslagen verteilt werden 3 Wie Neurath war er daran interessiert aufgrund gleicher objektiver Konstellationen von lebenslagenspezifischen Merkmalen Lebenslagentypen zu bilden deren Verteilung in der Gesellschaft zu betrachten und somit Erkenntnisgewinn uber die bestehende Sozialstruktur zu erhalten 4 Als Lebenslage gilt der Spielraum den die ausseren Umstande dem Menschen fur die Erfullung der Grundanliegen bieten die ihn bei der Gestaltung seines Lebens leiten oder bei moglichst freier und tiefer Selbstbesinnung zu konsequentem Handeln hinreichender Willensstarke leiten wurden Gerhard Weisser 1978 Aus der Verwendung der Spielraummetapher wird ersichtlich dass Weisser in der Lebenslage eher eine potentielle als eine realisierte Grosse sah Gemass seinem Bekenntnis zu freiheitlichem Sozialismus und somit einer vielgestaltigen Gesellschaft betrachtete er Lebenslagen als Lebensgesamtchancen deren Wert umso hoher sei je mehr Erfullungsmoglichkeiten fur sinnstiftende Grundanliegen in der individuellen Lebenssituation vorhanden sind Mit der Fokussierung auf die Verteilung von Chancen und Realisierungsmoglichkeiten fur Bedurfnisse und Interessen zur Analyse sozialer Ungleichheit nahm er somit einen Grossteil des popularen Befahigungsansatzes des Okonomen und Nobelpreistragers Amartya Sen vorweg Soziologische Armutsforschung BearbeitenBei der operationalen Umsetzung des Lebenslagenbegriffes im Rahmen der soziologischen Armutsforschung wird in der Regel auf eine Weiterentwicklung des Begriffes von Ingeborg Nahnsen Bezug genommen die zwecks einer vereinfachten praktischen Verwertbarkeit den Weisser schen Gesamtspielraum in fiktive Einzelspielraume unterteilt die mittels Indikatoren gemessen werden konnen Armut wird dann als Unterschreiten von Mindeststandards bzw Unterversorgung in zentralen Lebenslagendimensionen verstanden Als zentrale Lebenslagendimensionen gelten z B Einkommen Erwerbslage Bildung Wohnsituation Gesundheit und soziale Einbindung und Partizipation Haufig wird der Lebenslagenansatz kontrar zum gangigen Ressourcenkonzept betrachtet wonach Armut in der Regel bei einem verfugbaren Einkommen unterhalb der Armutsgrenze angenommen wird und weniger messbare Faktoren wie z B Arbeitszufriedenheit oder Einbindung in soziale Netzwerke vernachlassigt werden Bei dem Konzept der Lebenslage werden neben okonomischen auch weitere Ressourcen insbesondere infrastrukturelle und soziale Ressourcen berucksichtigt In der Praxis lassen sich Ressourcen und Lebenslagenansatz jedoch nicht immer trennscharf voneinander abgrenzen da bis dato verwendete Lebenslagenmodelle in der Regel erweiterte Ressourcenansatze sind die neben der zentralen Ressource Einkommen die tatsachliche Versorgungslage anderer wichtiger materieller sowie immaterieller Ressourcen erheben Gemass dem ideellen Gehalt des Lebenslagenansatzes nach Weisser und Nahnsen ist jedoch nicht die tatsachliche Versorgungslage eines Individuums oder Haushalts fur den Wert der Lebenslage relevant sondern vielmehr dessen Chancen und Moglichkeiten zwischen verschiedenen Versorgungslagen gemass seinen Interessen zu wahlen Empirisch ist es jedoch problematisch Spielraume und Chancen uber geeignete Messinstrumente zu erfassen da diese potentielle und keine realisierten Grossen sind so dass allein schon aus praktischen Grunden Handlungschancen und Spielraume uber die tatsachliche Versorgungslage abgeschatzt werden mussen Schwerpunkte der empirischen Lebenslageforschung sind zum einen die Erforschung der sozialen Ungleichheit 5 sowie die Armutsforschung 6 Der Lebenslagenansatz bildet die Grundlage fur die periodisch erscheinende Armuts und Reichtumsberichterstattung der Bundesrepublik Deutschland mit dem Titel Lebenslagen in Deutschland siehe unten Weblinks Eine methodische Alternative bietet hier der Ansatz der Verwirklichungschancen von Amartya Sen der zwischen realisierten Verwirklichungschancen und potentiellen Verwirklichungschancen unterscheidet und nicht wie Weisser lediglich aussere sozialstrukturelle Umstande sondern auch individuelle Dispositionen in die Analyse des individuellen Entfaltungsspielraums miteinbezieht Sowohl der Lebenslagenansatz nach Weisser als auch der Capability Ansatz nach Sen haben gemeinsam dass Armut bzw extreme soziale Ungleichheit als ein Mangel an Verwirklichungschancen zu verstehen ist Der Lebenslagenansatz wurde 1999 durch Uta Enders Dragasser und Brigitte Sellach im Hinblick auf die Perspektive der Geschlechter erweitert Sie fuhrten in die Fachdiskussion neben den funf klassischen Lebenslagenspielraumen Versorgungs und Einkommensspielraum Lern und Erfahrungsspielraum Dispositions und Partizipationsspielraum Kontakt und Kooperationsspielraum Regenerations und Mussespielraum drei weitere Spielraume ein Sozialbindungsspielraum Geschlechtsrollenspielraum Schutz und Selbstbestimmungsspielraum Veronika Hammer und Ronald Lutz bestatigten im Jahr 2002 mit ihrem Sammelband Weibliche Lebenslagen und soziale Benachteiligung diese geschlechterspezifische Differenzierung auf der Basis theoretischer und empirischer Beitrage Die komplexe Lebensrealitat von Frauen wurde damit generell sichtbarer sowie der Blick fur frauenspezifische Lebenslagen gescharft dies gilt speziell auch fur die Familien und Lebensformen von allein erziehenden Frauen Lebenslage als relationale Bedingungen der Lebenswelt BearbeitenSowohl fur in der Systemisch konstruktivistischen Lebensweltorientierung als auch in einer Relationalen Sozialen Arbeit ist der Begriff Lebenslage als relationales Gegenuber zu dem Begriff der Lebenswelt von fundamentaler Bedeutung Mit diesem Begriffspaar wird eine Trennung von individueller Wahrnehmung und den sozialen und materiellen Rahmenbedingungen des Wahrnehmenden vorgenommen Kraus nutzt dabei den Begriff der Lebenslage zur relational konstruktivistischen Bestimmung des Lebensweltbegriffs 7 Als Lebenslage gelten die materiellen und immateriellen Lebensbedingungen eines Menschen Als Lebenswelt gilt das subjektive Wirklichkeitskonstrukt eines Menschen welches dieser unter den Bedingungen seiner Lebenslage bildet 8 Insofern ist die Lebenswelt einerseits eine unhintergehbar subjektive Kategorie die allerdings andererseits auf Grund der strukturellen Koppelung den Bedingungen der Lebenslage unterliegt Konkret gehoren zur Lebenslage eines Menschen seine materielle und immaterielle Ausstattung Hierzu gehoren nicht nur die Rahmenbedingungen im Sinne von materieller Ausstattung Wohnraum Finanzmittel u A sondern auch die immateriellen Ausstattungen etwa das zur Verfugung stehende soziale Netzwerk Daruber hinaus gehort auch die Ausstattung seines Organismus zur Lebenslage etwa seine korperliche Verfasstheit ware auch eine Bedingung der Lebenslage Die Wahrnehmung dieser Bedingungen hingegen macht die Lebenswelt eines Menschen aus 8 Manfred Ferdinand hat die Lebensweltbegriffe bei Alfred Schutz Edmund Husserl Bjorn Kraus und Ludwig Wittgenstein verglichen und seine Bilanz verdeutlicht den Ertrag der relational konstruktivstischen Bestimmung des Begriffs der Lebenslage im Bezug zum Begriff der Lebenswelt Kraus Ausfuhrungen zu einem konstruktivistischen Verstandnis von Lebenswelten profiliert nun die von Invernizzi und Butterwege geforderte Integration mikro meso und makroskopischer Ansatze Diese Integration ist nicht nur notwendig um die subjektiven Perspektiven und die objektiven Rahmenbedingungen miteinander in Beziehung zu setzen sondern auch weil die objektiven Rahmenbedingungen erst in ihrer subjektiven Wahrnehmung und Bewertung ihre Relevanz zu den subjektiven Lebenswelten erhalten 9 Die aus dem Relationalen Konstruktivismus stammende Verwendung des Begriffs der Lebenslage als relationale Bedingungen menschlicher Lebenswelten wird neben der Sozialen Arbeit 10 11 auch in anderen Disziplinen verwendet So etwa in der Soziologie 12 in der Erziehungswissenschaft Bildungsarbeit Behindertenpadagogik und Gemeindepadagogik 13 oder in der praktischen Theologie 14 Siehe auch BearbeitenLebenswelt LebensweltorientierungLiteratur BearbeitenUta Enders Dragasser Brigitte Sellach Der Lebenslagen Ansatz aus der Perspektive der Frauenforschung In Zeitschrift fur Frauenforschung Nr 4 1999 S 56 66 Dietrich Engels Lebenslagen In Bernd Maelicke Hrsg Lexikon der Sozialwirtschaft Nomos Baden Baden 2008 S 643 646 PDF Datei 21 kB Wolfgang Glatzer Werner Hubinger Lebenslagen und Armut In Diether Doring Walter Hanesch Ernst Ulrich Huster Hrsg Armut im Wohlstand Suhrkamp Frankfurt 1990 Veronika Hammer Ronald Lutz Hrsg Weibliche Lebenslagen und soziale Benachteiligung Theoretische Ansatze und empirische Beispiele Campus Verlag Frankfurt New York 2002 Karl Bernhard Hillen Lebenslage Forschung in den Sozialwissenschaften insbesondere in der Sozialpolitik Universitat Bochum 1975 Doktorarbeit Bjorn Kraus The Life We Live and the Life We Experience Introducing the Epistemological Difference between Lifeworld Lebenswelt and Life Conditions Lebenslage In Social Work and Society International Online Journal http www socwork net sws article view 438 2015 Bjorn Kraus Pladoyer fur den Relationalen Konstruktivismus und eine Relationale Soziale Arbeit Forum Sozial 1 2017 http www pedocs de frontdoor php source opus 15381 2017 Bjorn Kraus Relationaler Konstruktivismus Relationale Soziale Arbeit Von der systemisch konstruktivistischen Lebensweltorientierung zu einer relationalen Theorie der Sozialen Arbeit Weinheim Munchen Beltz Juventa 2019 Ingeborg Nahnsen Lebenslagenvergleich In Heinrich Henkel Ulrich Merle Hrsg Magdeburger Erklarung Neue Aufgaben in der Wohnungswirtschaft Koln 1992 Otto Neurath Empirische Soziologie Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung In Gesammelte philosophische und methodologische Schriften Band 1 Wien 1981 S 423 527 Wien 1931 Amartya Sen Okonomie fur den Menschen dtv Munchen 2007 Gerhard Weisser Beitrage zur Gesellschaftspolitik Ausgewahlt und herausgegeben von Siegfried Katterle Wolfgang Mudra und Lothar F Neumann Schwartz Gottingen 1978 Weblinks BearbeitenMethoden und Grundlagen des Lebenslagenansatzes PDF Homepage Armuts und Reichtumsbericht der Bundesregierung Kernaussagen Dritter Armutsbericht PDF Homepage Gerhard Weisser Institut Einzelnachweise Bearbeiten Karl Marx Friedrich Engels Manifest der Kommunistischen Partei In Marx Engels Werke Band 4 S 459 493 hier S 470 Mit der Entwicklung der Industrie vermehrt sich nicht nur das Proletariat es wird in grosseren Massen zusammengedrangt seine Kraft wachst und es fuhlt sie mehr Die Interessen die Lebenslagen innerhalb des Proletariats gleichen sich immer mehr aus indem die Maschinerie mehr und mehr die Unterschiede der Arbeit verwischt und den Lohn fast uberall auf ein gleich niedriges Niveau herabdruckt Otto Neurath Empirische Soziologie In Gesammelte philosophische und methodologische Schriften Band 1 Wien 1981 S 423 527 hier S 512 Gerhard Weisser Beitrage zur Gesellschaftspolitik Schwartz Gottingen 1978 S 361 Weisser Beitrage zur Gesellschaftspolitik Schwartz Gottingen 1978 S 275 Stefan Hradil Sozialstrukturanalyse in einer fortgeschrittenen Gesellschaft Von Klassen und Schichten zu Lagen und Milieus Leske und Burich Opladen 1987 Otto G Schwenk Soziale Lagen in der Bundesrepublik Leske und Burich Opladen 1999 Diether Doring Walter Hanesch Ernst Ulrich Huster Hrsg Armut im Wohlstand Suhrkamp Frankfurt 1990 Walter Haensch Peter Krause Gerhard Becker Der neue Armutsbericht der Hans Bockler Stiftung des DGB und des Paritatischen Wohlfahrtsverbandes Reinbek 2000 Vgl Neurath 1931 Weisser 1956 in Bjorn Kraus Lebenswelt und Lebensweltorientierung eine begriffliche Revision als Angebot an eine systemisch konstruktivistische Sozialarbeitswissenschaft In Kontext Zeitschrift fur Systemische Therapie und Familientherapie Vandenhoeck amp Ruprecht Gottingen Heft 37 02 2006 S 116 129 Schon 2004 in Portal Sozialarbeitswissenschaft http www pedocs de frontdoor php source opus 12387 S 7 Siehe auch Bjorn Kraus 2013 S 143 ff a b Bjorn Kraus Erkennen und Entscheiden Grundlagen und Konsequenzen eines erkenntnistheoretischen Konstruktivismus fur die Soziale Arbeit Beltz Juventa Weinheim Basel 2013 S 153 Manfred Ferdinand Lebenswelten Lebensschnure Heidelberger Studien zur praktischen Theologie Lit Verlag Munster 2014 S 31 Peter Pantucek Professionalitat und Ambivalenz 2006 Quelle Matthias Nauert Diversitat verstehen Das erweiterte Mehr Ebenen Modell als Orientierungshilfe in der Sozialen Arbeit In Herbert Effinger u a Hrsg Diversitat und Soziale Ungleichheit Analytische Zugange und professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit Budrich Leverkusen 2012 S 56 67 Robert Nadler Should I stay or should I go International migrants in the rural town of Zittau Saxony and their potential impact on rural development In European Countryside Heft 04 01 2012 S 57 72 Quelle Holger Klose Lebenswelten Ein fotopadagogisches Projekt an einer internationalen Grundschule In Alfred Holzbrecher Hrsg Foto Text Handbuch fur die Bildungsarbeit VS Verlag Wiesbaden 2006 S 101 114 PDF Memento vom 17 April 2012 im Internet Archive Iris Beck Heinrich Greving Lebenslage und Lebensbewaltigung In Wolfgang Jantzen Hrsg Enzyklopadisches Handbuch der Behindertenpadagogik Band 5 Kohlhammer Stuttgart 2012 Dirk Oesselmann Einleitung zum Teil C Lebenswelten In Peter Bubmann u a Hrsg Gemeindepadagogik Walter de Gruyter Berlin Boston 2012 S 185 188 Manfred Ferdinand Lebenswelten Lebensschnure Heidelberger Studien zur praktischen Theologie Lit Verlag Munster 2014 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Lebenslage amp oldid 229209521