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Die Ordnung des Diskurses war das Thema der von Michel Foucault am 2 Dezember 1970 gehaltenen Antrittsvorlesung zu seiner Berufung auf den eigens fur ihn eingerichteten Lehrstuhl zur Geschichte der Denksysteme am College de France Die Vorlesung wurde in erweiterter Fassung 1971 als L ordre du discours in Paris bei Gallimard veroffentlicht In diesem Vortrag zeigt Foucault Mechanismen auf die den Diskurs kontrollieren Auf dieser Grundlage skizziert er welche Probleme er im College de France zu behandeln gedenkt Der hier von ihm verwendete Diskursbegriff markiert einen Ubergang zwischen seiner Archaologie des Wissens und den spateren machtanalytischen Arbeiten Inhaltsverzeichnis 1 Die Ordnung des Diskurses 1 1 Ausschliessungssysteme 1 1 1 Das Verbot 1 1 2 Die Unterscheidung zwischen Wahnsinn und Vernunft 1 1 3 Der Wille zur Wahrheit 1 2 Interne Prozeduren 1 2 1 Der Kommentar 1 2 2 Der Autor 1 2 3 Die Disziplin 1 3 Verknappung der sprechenden Subjekte 1 3 1 Das Ritual 1 3 2 Die Diskursgesellschaften 1 3 3 Die Doktrin 1 4 Die gesellschaftliche Aneignung der Diskurse 1 5 Methodische Grundsatze 1 6 Kritik und Genealogie 2 Stellenwert im Gesamtwerk 3 Einzelnachweise 4 LiteraturDie Ordnung des Diskurses Bearbeiten Ich setze voraus dass in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert selektiert organisiert und kanalisiert wird und zwar durch gewisse Prozeduren deren Aufgabe es ist die Krafte und die Gefahren des Diskurses zu bandigen sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen seine schwere und bedrohliche Materialitat zu umgehen 1 Foucault teilt die Prozeduren durch die das geschieht in drei Klassen ein Ausschliessungssysteme die von aussen wirken und den Diskurs in seinem Zusammenspiel mit der Macht und dem Begehren 2 betreffen also seine Krafte zu kontrollieren suchen Interne Prozeduren mit denen Diskurse sich selbst durch Klassifikations Anordnungs und Verteilungsprinzipien 2 kontrollieren um die Zufalligkeit von Ereignissen zu bandigen 2 ihre Entstehung und ihren Inhalt beherrschbar zu machen Die Verknappung der sprechenden Subjekte die uber Bedingungen fur die Teilnahme an Diskursen und an Regeln denen der spezielle Diskurs unterliegt gebunden ist Ausschliessungssysteme Bearbeiten Das Verbot Bearbeiten Nach Foucault gibt es drei Arten von Verboten Man weiss dass man nicht das Recht hat alles zu sagen dass man nicht bei jeder Gelegenheit von allem sprechen kann dass schliesslich nicht jeder beliebige uber alles beliebige reden kann 3 Er nennt diese drei Grundformen Tabu des Gegenstandes Ritual der Umstande und bevorzugtes oder ausschliessliches Recht des sprechenden Subjekts Die Unterscheidung zwischen Wahnsinn und Vernunft Bearbeiten Das nachste Ausschliessungssystem ist kein direktes Verbot sondern eine Grenzziehung und eine Verwerfung 3 Durch die Unterscheidung in Vernunft und Wahnsinn werden Teile des Diskurses verworfen und konnen nicht zirkulieren Entweder gilt das Wort des Wahnsinnigen fur null und nichtig es hat weder Wahrheit noch Bedeutung 4 oder man traut ihm eigenartige Krafte 4 wie das Voraussagen der Zukunft oder das Aussprechen verborgener Wahrheiten zu Daraus ergibt sich ein Spannungsverhaltnis zwischen dem Zuhorenden der einen Diskurs verfolgt ihm aber willkurlich Relevanz zugestehen oder aberkennen kann und dem Belauschten und seinem vom Zuhorer belauschten Diskurs Der belauschte Diskurs wird durch das Begehren des Zuhorers durchdrungen und funktionalisiert Der Wille zur Wahrheit Bearbeiten Schliesslich nennt Foucault den Willen zur Wahrheit einen von Friedrich Nietzsche ubernommenen Begriff als drittes Ausschliessungssystem Er fuhrt an dass es eine grundlegende Verwerfung in der Diskursgeschichte gab An deren Anfang existierte nur ein wahrer Diskurs bei dem man Achtung und Ehrfurcht vor denen hatte die dazu legitimiert waren ihn nach bestimmten Ritualen zu fuhren Seit Platon lag die hochste Wahrheit nicht mehr in dem was der Diskurs war oder in dem was er tat sie lag in dem was er sagte 5 Trager des Wahrheitsanspruches ist nicht mehr der Diskurs selbst sondern die einzelne Aussage die sich uber ihren Sinn ihre Form ihren Gegenstand und ihren referentiellen Bezug legitimiert und als wahr oder falsch erweist Seit dem 17 Jahrhundert wird diese platonische Grenzziehung erganzt durch den Willen ein bestimmtes technisches Niveau fur die Verifizierung von Erkenntnissen vorzuschreiben Wille zum Wissen Heute kommen immer weiter perfektionierte institutionelle Mechanismen der Absicherung von Wissen hinzu Der Wille zur Wahrheit wird durch erkenntnistheoretische Fundierung sowie durch die selektive Bewertung Sortierung und Verwendung von Wissen durch Institutionen etwa in der Rechtsprechung zementiert Foucault hebt dabei den dialektischen Charakter von Wahrheit in ihrer Bedeutung als Reichtum auf der einen als Ausschliessungsmechanismus auf der anderen Seite hervor Der Wille zur Wahrheit beinhaltet notwendig wahrheitsfremde Elemente namlich das Begehren und die Macht er ist somit immer auch eine Ausschliessungsmaschinerie Interne Prozeduren Bearbeiten Der Kommentar Bearbeiten Der Diskurs wird durch den Kommentar in Primar und Sekundartexte gestuft Einerseits ermoglicht der Kommentar das immer neue Konstituieren von neuen Diskursen andererseits erhebt er den Anspruch das zu sagen was immer schon implizit gesagt war Er muss zum ersten Mal das sagen was doch schon gesagt worden ist und muss unablassig das wiederholen was eigentlich niemals gesagt worden ist 6 Die Zufalligkeit des Diskurses wird mit Hilfe des Kommentars beherrscht er erlaubt zwar etwas anderes als den Text selbst zu sagen aber unter der Voraussetzung dass der Text selbst gesagt und in gewisser Weise durch den Kommentar HvdL vollendet werde 7 Der Autor Bearbeiten Eine andere diskursregulierende Institution ist der Autor als konstruiertes Prinzip der Gruppierung von Diskursen als Einheit und Ursprung ihrer Bedeutungen als Mittelpunkt ihres Zusammenhalts 7 Durch das Prinzip des Autors wird der potenziellen Endlosigkeit und Grenzenlosigkeit moglicher Bedeutungen eine Referenz auf den legitimen Sinngehalt bestimmter Diskursbeitrage beigefugt Die Disziplin Bearbeiten Die Disziplin stellt eine Konstruktionsanleitung zur Teilnahme an einem bestimmten Teil des Diskurses dar es konnen endlos neue Satze gebildet werden aber nach ganz bestimmten Spielregeln 8 Um zu einer Disziplin zu gehoren muss ein Satz bestimmten Bedingungen genugen Der Satz muss sich auf eine definierte Gegenstandsebene beziehen und sich in einen bestimmten theoretischen Horizont einfugen Foucault betont dass man immer irgendwo die Wahrheit sagen kann aber gleichzeitig innerhalb eines Diskurses ausserhalb des Wahren sein kann Die Grenzen der Disziplin werden durch ihre Identitat geschaffen die die Form einer permanenten Reaktualisierung ihrer Regeln hat 9 Verknappung der sprechenden Subjekte Bearbeiten Das Ritual Bearbeiten Das Ritual beschrankt den Zugang zu Diskursen uber drei Instrumente Die Qualifikation das Zeichensystem und die Grenzen der Bedeutung die eine innerhalb eines Rituals gemachte Ausserung hat Unter diesen Bedingungen ist keine voraussetzungslose Teilhabe am Diskurs moglich und Akteure oder Gruppen von Akteuren werden ausgeschlossen Die Diskursgesellschaften Bearbeiten Diskursgesellschaften sind so organisiert dass Diskurse produziert und aufbewahrt werden und in geschlossenen Raumen nach bestimmten Regeln organisiert und verteilt werden Die Disziplin setzt dieser Produktion Grenzen sie diszipliniert sie und aktualisiert fortwahrend ihre Regeln Massgebliches Kriterium ist dass die Inhaber nicht das Eigentum am Diskurs verlieren Die Rollen des Horenden und Sprechenden in Diskursgesellschaften sind nicht tauschbar Die Doktrin Bearbeiten Die Doktrin arbeitet mit dem Ziel nur bestimmte Aussagetypen zuzulassen diese Typen aber so zu vervielfaltigen dass der Diskurs von ihnen beherrscht wird Individuen werden vom Diskurs unterworfen der von der Gruppe der sprechenden Individuen unterworfen wird Die gesellschaftliche Aneignung der Diskurse Bearbeiten Schliesslich stellt die gesellschaftliche Aneignung der Diskurse eine Form der Verknappung dar Jedes Erziehungssystem ist eine politische Methode die Aneignung der Diskurse mitsamt ihrem Wissen und ihrer Macht aufrechtzuerhalten oder zu verandern 10 Methodische Grundsatze Bearbeiten Aus dieser Analyse von den Diskurs formenden Prinzipien folgert Foucault dass seine zukunftigen Analysen methodischen Grundsatzen folgen sollen die Umkehrung die Erfassung des Ausgeschlossenen und der Mechanismen der Verknappung und Ausschliessung z B der Sprechverbote Diskontinuitat die Bedeutung des Einzelereignisses in der zersplitterten Serie der Diskurse anstelle der Betonung einer imaginaren Kontinuitat Spezifitat der Verzicht auf die Annahme vorgangiger Bedeutungen und Ausserlichkeit die Fokussierung der ausseren Moglichkeitsbedingungen des Diskurses anstelle der Annahme einer Mitte des Denkens berucksichtigen Damit gibt Foucault den Grundsatz einer Kontinuitat der Vernunft und ihrer Vollendung auf Mit dem Versuch dem gespenstischen Schatten Hegels zu entrinnen erweist er am Ende seiner Vorlesung seinem Lehrer Jean Hyppolite eine explizite Referenz Kritik und Genealogie Bearbeiten Unter den Begriffen Kritik und Genealogie die Foucault in den folgenden Jahren weiter ausfuhrt vgl Literatur beschreibt er mogliche kritische und genealogische Forschungen zu Sexualitat und Wahnsinn die er fur zukunftige Arbeiten im College de France anvisiert Mit Kritik ist dabei die Erfassung der sich verandernden Formen der Ausschliessung und der dadurch ausgeubten Zwange gemeint Mit Genealogie bezeichnet er das Wachstum von Diskursserien und die dabei geltenden Normen und Veranderungsbedingungen Stellenwert im Gesamtwerk BearbeitenBeginnend mit der Ordnung des Diskurses ersetzen die methodischen Begriffe Kritik und Genealogie den von Foucault bis dahin fur sein Vorgehen verwendeten Begriff Archaologie vgl Archaologie des Wissens In der Vorlesung von 1970 finden sich bereits interessante Anklange an die Kritische Theorie die Foucault damals nach eigenen Angaben noch nicht kannte So bestimmen auch in Max Horkheimers Werk Mechanismen der Hemmung Disziplin und Verzicht die Praxis moderner Vernunftherrschaft 11 Der Originaltitel L ordre du discours bezeichnet im Franzosischen sowohl eine rein beschreibende Ordnung als auch eine normative Regel ja einen Befehl Diese Doppelbodigkeit durchzieht die Arbeit Auch im soziologischen Kultur und im Systembegriff sind sowohl deskriptive Elemente als auch normative Prozeduren der Ausschliessung angelegt Foucaults Diskursbegriff changiert zwischen beiden Einzelnachweise Bearbeiten Michel Foucault Die Ordnung des Diskurses Frankfurt 1991 S 10 f a b c vgl Foucault 1991 S 17 a b vgl Foucault 1991 S 11 a b vgl Foucault 1991 S 12 vgl Foucault 1991 S 14 vgl Foucault 1991 S 19 a b vgl Foucault 1991 S 20 vgl Foucault 1991 S 22 vgl Foucault 1991 S 25 vgl Foucault 1991 S 30 Ralf Konersmann Der Philosoph mit der Maske in Michel Foucault Die Ordnung des Diskurses erw Ausgabe Frankfurt 1991 S 87Literatur BearbeitenDidier Eribon Michel Foucault Eine Biographie Suhrkamp Frankfurt am Main 1991 ISBN 3 518 40335 4 Michel Foucault Von der Subversion des Wissens Fischer Frankfurt am Main 1987 enthalt Aufsatz zur Genealogie Michel Foucault Die Ordnung des Diskurses Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 1991 ISBN 3 596 10083 6 Michel Foucault Die Ordnung der Dinge Frankfurt am Main 1971 besonders S 72 ff Michel Foucault Was ist Kritik Merve Berlin 1992 Michel Foucault Archaologie des Wissens Suhrkamp Frankfurt am Main 2003 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Die Ordnung des Diskurses amp oldid 229731036