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Die bikamerale Psyche ist in der Psychologie eine hypothetische Vorstufe des menschlichen Bewusstseins die 1976 von Julian Jaynes in seinem Werk The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind postuliert wird Er unternimmt darin den Versuch Ursprung und Entwicklung des menschlichen Bewusstseins im Verlauf der Menschheitsgeschichte anhand einer zentralen im Titel angezeigten These zu rekonstruieren Die Entstehung des Bewusstseins aus einer Struktur deren Spuren er dabei u a bei Homer und im Alten Testament aber auch in Phanomenen wie Hypnose oder Schizophrenie findet Die Hauptthese von Julian Jaynes die er selbst preposterous absonderlich nennt besagt Bewusstsein hat sich in historisch nachweisbarem Ausmass erst in dem Jahrtausend vor der klassisch griechischen Hochkultur entwickelt etwa zwischen 1300 und 700 v Chr Die Menschen vor dieser Zeit hatten kein Bewusstsein das heisst im Sinne Jaynes kein autonomes exekutives Selbst Inhaltsverzeichnis 1 Bewusstsein vs Reaktionsvermogen 2 Die Eigenschaften des Bewusstseins 3 Die bikamerale Psyche 4 Konsequenzen 5 Weblinks 6 EinzelnachweiseBewusstsein vs Reaktionsvermogen BearbeitenEntsprechend der Eigenheit von Jaynes Bewusstseinsbegriff sowie der Tatsache dass er diesen Begriff in einem speziellen recht engen Sinne als Selbstbewusstsein verwendet und ihn von seinen Lesern so verstanden wissen will behandelt ein grosser Teil seines Buches die Frage was Bewusstsein gemass dieser Auffassung alles nicht ist Jaynes glaubt zeigen zu konnen dass Bewusstsein entgegen der traditionellen Auffassung kein Abbild unseres Erlebens Speichertheorie nicht Voraussetzung fur Lernfahigkeit und nicht Grundlage fur Begriffsbildung Denken und Vernunfttatigkeit ist Tatsachlich verdanken sich letztere Fahigkeiten dem was Jaynes das Reaktionsvermogen nennt der naturwissenschaftlich neurophysiologisch und durch Verhaltensforschung nachweisbaren Grundkompetenz des organischen Lebens zu Lern und Gedachtnisleistungen Um zu erlautern warum das Bewusstsein die Illusion umfassender Erkenntnis produziert benutzt Jaynes das Bild der Taschenlampe die in einem dunklen Raum nach einem Gegenstand sucht Uberall wohin die Taschenlampe gerichtet ist ist es hell daher kann sie kein Objekt im nicht erleuchteten Raum identifizieren Weil wir kein Bewusstsein davon haben wovon wir kein Bewusstsein haben sagt Jaynes entsteht der Fehlschluss vollstandiger Erschliessung der Welt Dies gelte insbesondere fur die Selbsterfassung des Seelenlebens des bewussten Individuums sowie der Vorstellung von Kontinuitat und Identitat des Selbst Im praktischen alltaglichen Verhalten und Funktionieren des Individuums spiele das Bewusstsein eine Nebenrolle tatsachlich erweise es sich eher als Storquelle einmal eingeubten und den Routinen des Nicht Bewussten uberlassenen Tuns Ein Pianist etwa wurde vollig aus dem Konzept geraten beim Versuch die erlernten komplexen Bewegungsablaufe seines Spiels der Kontrolle des Bewusstseins zu unterstellen die allerdings beim Erlernen des Klavierspiels ursprunglich notwendig gewesen ist Dass Bewusstsein jedoch in Krisensituationen der Storung ansonsten quasi automatisch gelingender Funktionen auf den Plan tritt zeige die allgemeine Erfahrung das Zuschalten einer selbstreflexiven Instanz verewigt dann typischerweise das Scheitern der ursprunglichen Intention sofern das Bewusstsein sich in dem Versuch erschopft durch Kontrolle das Aussetzen zu kompensieren Jaynes verweist auf den Tennisspieler der nach dem ersten misslungenen Aufschlag prompt nur noch Doppelfehler produziert anders der Tanzer Vaslav Nijinsky der nicht versucht habe seine Bewegungen zu kontrollieren sondern sich selbst aus der Zuschauerloge beim Tanz zugesehen habe Er war sich also nicht jeder einzelnen seiner Bewegungen bewusst sondern des Bildes das er fur die anderen abgab 1 Die Speichertheorie des Bewusstseins die davon ausgeht dass Bewusstsein wie eine Kamera Erlebnisse unmittelbar abbildet erweist sich dabei als ebenso fragwurdig und fehlerhaft Jaynes empfiehlt sich vorzustellen wie man das letzte Mal in einem See geschwommen ist er weist darauf hin dass die meisten Menschen sich dann wie Nijinsky von aussen betrachten und nicht aus der ursprunglich erlebten Perspektive Das Bewusstsein kopiert hier nicht das Erlebnis sondern stellt es aus anderer erweiterter Perspektive dar die zudem so Jaynes durch die Einbildungskraft ebenso plausibilisiert wie verfalscht wird Sie werden die Dinge nicht mehr so sehen horen empfinden wie Sie sie ursprunglich erlebt haben sondern sich mehr oder weniger wie eine fremde Person in einer Szene auftreten sehen Bei der erinnernden Ruckschau ist also eine gehorige Portion Erfindung mit im Spiel Man sieht sich so wie andere einen sehen Die Erinnerung ist das Medium des So muss es gewesen sein 1 Durch die Kritik des naiven Bewusstseinsbegriffs sucht Jaynes ein Vorverstandnis fur seine irritierende These dass auch Zivilisationen entstehen konnten ohne dass die Menschen dabei Bewusstsein gehabt haben mussten zu etablieren Ausgangspunkt seiner Uberlegungen sei die Vorstellung dass zu irgendeiner Zeit einmal Menschen gelebt haben die sprachen urteilten Schlusse zogen und Probleme losten ja die so gut wie alles was wir tun zu tun vermochten die aber nicht das geringste Bewusstsein besassen 1 Die Eigenschaften des Bewusstseins BearbeitenJaynes glaubte dass die Grundlage dieses Bewusstseins die Sprache ist und genauer gesagt die Fahigkeit diese Sprache durch Metaphern wachsen zu lassen Eine neue Metapher kann nicht nur subjektiv den Gegenstand der damit beleuchtet wird erhellen sondern sogar neue Konzepte schaffen Jaynes nennt in Analogie zur Mathematik den Gegenstand uber den etwas gesagt wird Metaphorand und den Ausdruck der die Sprache erweitert Metaphorator Die Assoziationen die der Metaphorator mit sich bringt nennt er Paraphoratoren die ihrerseits zu neuen Konzepten den Paraphoranden fuhren Die raumliche Qualitat der Aussenwelt wird als Ergebnis der Sprache die sie beschreibt durch standige Wiederholung zu einem Geistesraum mind space der die erste grundlegende Eigenschaft des Bewusstseins darstellt Die zweite Eigenschaft ist das analoge Ich in dem Jaynes einen Verwandten von Kants transzendentalem Ich sieht das entsteht um das mentale Sehen im Geistesraum zu ubernehmen Dieses analoge Ich ist nicht zu verwechseln mit dem Selbst das erst spater entsteht Es ist ohne Inhalt Weitere Eigenschaften des Bewusstseins sind unter anderem die Fahigkeit der Narratisation analoge Simulation von tatsachlichem Verhalten Konzentration die analoge Entsprechung von wahrnehmender Aufmerksamkeit und Consilience die analoge Entsprechung von wahrnehmender Assimilation Fur sehr viele Phanomene des tierischen oder vorbewussten Lebens existieren nach Jaynes also analoge Entsprechungen Das Bewusstsein nimmt darum in gewissem Sinne Verdoppelungen von Zustanden vor aus Scham wird Schuld aus Furcht Angst aus Wut Hass Aber auch aussere Phanomene wie der Schmerz haben ihre analoge Entsprechung Nur bewusste Menschen konnen neben dem sensitiven Schmerz auch bewussten Schmerz haben was zum Beispiel Placebo Wirkungen und Phantomschmerz erklart Die bikamerale Psyche BearbeitenDas Entstehen des Bewusstseins geht nach Jaynes mit dem Zusammenbruch des von ihm so genannten bikameralen Geistes einher Die Menschen in der vorhomerischen Zeit hatten und das ist die zweite Hauptthese von Jaynes einen Zwei Kammer Geist einen ausfuhrenden und einen befehlenden beide nicht bewusst In Krisenzeiten wenn eine Situation eine Entscheidung erforderte halluzinierte der ausfuhrende Geist die Stimme von Gottern die ihm sagte was zu tun sei Die Entstehung der bikameralen Zivilisation setzt Jaynes in die Zeit der Entstehung der ersten Stadte um das Jahr 9000 v Chr Zivilisation sei die Kunst in Stadten zu leben in denen nicht jeder jeden kennt Fur das Funktionieren dieser Gesellschaften seien die halluzinierten Stimmen von Konigen oder auch Gottern notwendig gewesen Der umfangreichste Teil des Buches versucht historische Belege fur diese zweite These zu liefern Jaynes verweist hierzu auf eine Reihe von Zivilisationskrisen in der Geschichte der Menschheit die seiner Ansicht nach jeweils durch das Verschwinden der Gotter verscharft oder sogar hervorgerufen wurden und angesichts derer die Menschen gezwungen waren ein Bewusstsein zu entwickeln Dies konne so Jaynes auch durch das Aufkommen der Schrift als einer Form fixierter Sprache und der damit einhergehenden neuen Moglichkeit des Festhaltens zuvor nur gehorter Gebote und Weisungen nun in Form von Gesetzen begunstigt worden sein denen sich ein Individuum anders als den bis dahin gewohnten unmittelbaren akustisch halluzinatorischen Eingebungen nun erstmals von sich aus stellen aber eben auch entziehen konnte 2 Das Bewusstsein hat evolutionstheoretisch gesehen Vorteile Die Fahigkeit der Narratisation etwa bedeutet dass Rachegeluste nur in der bewussten Vorstellung ausgelebt werden oder auf spater verschoben werden konnen wenn die Umstande gunstiger sind Das Bewusstsein ist aber kein Entwicklungsschritt der Evolution sondern eine kulturelle Leistung Ein heutiges Kind das in Agypten vor 3000 Jahren aufwuchse wurde einen bikameralen Geist entwickeln und umgekehrt ein vor 3000 Jahren geborenes Kind das heute aufwuchse einen bewussten Geist Die bikamerale Psyche kann bei einem Phantasma nicht zwischen von aussen kommender Eingebung und von innen heraus erzeugter Vorstellung unterscheiden Konsequenzen BearbeitenOhne die Fahigkeit zu eigenen und eigenstandigen Uberlegungen und Reflexionen insbesondere auf sich selbst sollen Menschen mit einer bikameralen Geistesstruktur auch innere Erlebnisse wie etwa Spontanerinnerungen oder Einfalle so erlebt haben wie wir Erlebnisse in der Aussenwelt um uns herum erleben genauso getrennt oder fremd und vor allem wie Jaynes unterstellt ebenso deutlich und klar wie diese Akustische Erinnerungen oder Einfalle waren danach beispielsweise wie halluzinatorisch klare innere Stimmen wahrgenommen worden die in etwa kommentierend oder befehlend erlebt worden sein konnten Auch fur das Reagieren und Verhalten von Menschen auf dieser vorreflexiven Entwicklungsstufe ergeben sich nach Jaynes Konsequenzen Ohne die Fahigkeit zu bewussten Uberlegungen und Entscheidungen ware ihnen nur ein spontanes Reagieren auf der Grundlage angeborener praformierter Reflexe oder durch Pragungslernen moglich gewesen beispielsweise ein emotionales Ergriffen und Beeindrucktsein von derartigen Stimmen und gleichsam automatenhaftes Reagieren auf sie denkbar etwa als Erinnerung an eine Anleitung oder Aufforderung von anderen insbesondere von Respektpersonen oder deren spatere Uberhohung zu verehrten Ahnen Ubermenschen oder Gottern die wie von aussen zu sprechen schienen Jaynes nimmt Uberlieferungen derartigen Verhaltens in der Ilias von Homer aber auch an Stellen des Alten Testaments und in zahlreichen anderen literarischen Zeugnissen ernst und versteht sie nicht als dichterische Fiktion oder metaphorische Redeweisen Handlungen werden nicht von bewussten Planungen Uberlegungen oder Motiven in Gang gebracht sondern durch das Reden der Gotter initiiert Seinen Nebenmenschen erscheint der Mensch als Verursacher seines eigenen Handelns Nicht so sich selber Als Achilleus gegen Ende des Trojanischen Krieges dem Agamemnon vorhalt wie dieser ihm seinerzeit die schone Beutegefangene raubte da erklart der Konig der Mannen Gebieter des Volkes Nicht ich habe die Handlung verursacht sondern Zeus Es tut ja alles die Gottin Und dass dies nicht eine hastig improvisierte Ausrede des Agamemnon ist mit der er die Verantwortung von sich abzuwalzen gedenkt erhellt aus dem Umstand dass Achill sich mit dieser Erklarung voll und ganz zufriedengibt denn auch Achill gehorcht seinen Gottern Wenn Grazisten in ihren Kommentaren zu der zitierten Textstelle anmerken Agamemnons Verhalten grenze hier an Selbstentfremdung so liegen sie damit weit weit ab vom Schuss Denn die Frage ist doch Wie war es mit der Psychologie der homerischen Helden in der Ilias bestellt Und ich sage Die Helden der Ilias hatten uberhaupt kein Selbst Weblinks BearbeitenJulian Jaynes Der Ursprung des Bewusstseins HTML kapitelweise Julian Jaynes Der Ursprung des Bewusstseins Memento vom 12 Juni 2013 im Internet Archive PDF 2 4 MB Julian Jaynes Der Ursprung des Bewusstseins PDF ohne Seitenkonkordanz mit dem Original 2 4 MB Ingo Wolf Kittel Julian Jaynes Ein moderner Blick auf die Mutation vom mythischen zum mentalen Bewusstsein In Erinnerung an sein vor 30 Jahren erschienenes Werk Kurzdarstellung der psychologischen Thesen von Julian Jaynes PDF Datei 152 kB Marcel Kuijsten Inhaltsverzeichnis von Reflections on the Dawn of Consciousness Autoren und kurze Auszuge aus Reflections on the Dawn of Consciousness des 2007 herausgegebenen Diskussionsbandes A E Cavanna M Trimble F Cinti F Monaco The bicameral mind 30 years on a critical reappraisal of Julian Jaynes hypothesisEinzelnachweise Bearbeiten a b c Julian Jaynes Der Ursprung des Bewusstseins Buch 1 Kapitel 1 The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind Houghton Mifflin Boston New York 1976 ISBN 0 395 20729 0 S 208 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Bikamerale Psyche amp oldid 238222594