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Die Verwandtschaftsethnologie ist ein Fachgebiet der Ethnologie das sich seit seiner Entstehung im 19 Jahrhundert vor allem mit den Regeln von Verwandtschaftsbeziehungen Verwandtschaftssystemen und Verwandtschaftsterminologien in verschiedenen Kulturen beschaftigt Neuere Trends etwa die New Kinship Studies interpretieren klassische Felder der Verwandtschaftsethnologie wie Heirat Deszendenz und Filiation neu und gehen der Frage nach wie Verwandtschaft gemacht wird wie sie ausgehandelt symbolisch erzeugt und durch Alltagshandeln bestatigt wird 1 Inhaltsverzeichnis 1 Geschichte 1 1 Anfange im 19 Jahrhundert 1 1 1 Erste Veroffentlichungen 1 1 2 Lewis Henry Morgan 1 2 Entwicklungen Anfang bis Mitte des 20 Jahrhunderts 1 2 1 Funktionalismus 1 2 2 Strukturfunktionalismus 1 2 3 Strukturalismus 1 3 Die Krise in den 1970er Jahren 2 Neue Konzepte New Kinship Studies 2 1 Themen der New Kinship Studies 2 2 Kritik 3 Siehe auch 4 Literatur 5 EinzelnachweiseGeschichte BearbeitenAnfange im 19 Jahrhundert Bearbeiten Die Anfange der Verwandtschaftsethnologie lassen sich auf die zweite Halfte des 19 Jahrhunderts zuruckfuhren In den 1860ern wurden gleich mehrere Arbeiten veroffentlicht die sich mit Verwandtschaftsbeziehungen in verschiedenen Kulturen auseinandersetzen Durch den Positivismus jener Zeit gepragt gingen Wissenschaftler wie Herbert Spencer Henry Sumner Maine Johann Jakob Bachofen John Ferguson McLennan Lewis Henry Morgan James Frazer und Edward Tylor von einer sozialen kulturellen und mentalen Evolution von Gesellschaften aus die sich vom Einfachen Primitiven zum Komplexen Fortschrittlichen entwickelten 2 Einige Wissenschaftler versuchten die unilineare Evolution von Gesellschaften anhand der Entwicklung von Verwandtschaftsbeziehungen aufzuzeigen Basierend auf der Annahme dass jede Gesellschaft gewisse Regelungen uber den Transfer von Eigentum und sozialer Position nach dem Tod festlegt und sich diese Regelungen von Gesellschaft zu Gesellschaft deutlich voneinander unterscheiden untersuchten zunachst Juristen verschiedene Systeme von Familienrecht 3 Die Grundlage fur ihre Untersuchungen bildeten die Berichte von Missionaren Botanikern Geografen Museumssammlern oder Reisenden Als sogenannte armchair anthropologists gingen sie Morgan ausgenommen nicht selbst ins Feld sondern bildeten ihre Theorien mithilfe der bereits vorliegenden Daten und der vergleichenden Methode Den Anfang machten die beiden Juristen und Gelehrten der fruhen indoeuropaischen Geschichte Johann Bachofen und Henry Maine die ihre Werke im selben Jahr 1861 veroffentlichten Erste Veroffentlichungen Bearbeiten Der Brite Sir Henry Sumner Maine war auf Basis seiner Untersuchungen zu indoeuropaischen Institutionen davon uberzeugt dass die ursprungliche Form der Familie patriarchalisch war In seinem Werk Ancient Law vertritt er die These dass die fruhesten Staatsformen unter der Annahme aufgebaut wurden dass alle Mitglieder Nachfahren einer primordialen Familie waren In der weiteren Entwicklung wachst diese Familie zunachst zu einer Sippe gens an um sich dann von einem Stamm zu einem Staatenbund oder Staat zu entwickeln Dementsprechend verwendet er auch die romischen Begriffe agnatisch und kognatisch fur die zwei Hauptformen der Verwandtschaft als agnatisch bezeichnet er altertumliche Verwandtschaftssysteme die ihre Verbindungen nur von den mannlichen Mitgliedern ableiten wohingegen in modernen Gesellschaften eine kognatische d h gleichberechtigte Erbfolge praktiziert wird 4 Im Gegensatz zu Maine argumentiert der Schweizer Johann Jakob Bachofen in seinem Werk Das Mutterrecht anhand einer Reihe vereinzelter Hinweise bei sogenannten primitiven Stammen fur eine universale niedrige Entwicklungsstufe in der das Matriarchat die Grundlage der Gesellschaft bildet Um seine Theorie zu bekraftigen postulierte auch er eine stufenweise Entwicklung die mit einer promiskuitiven Periode beginnt in der die Verwandtschaftsbeziehungen uber die Mutter abgeleitet werden da die Vater durch das zwanglose Sexualverhalten zumeist unbekannt waren Im weiteren Verlauf wird nach Maine dieses zunachst vorherrschende Matriarchat durch ein Patriarchat abgelost da die voranschreitende Entwicklung der Gesellschaft eine Starkung der mannlichen Rolle erfordere 5 Auch der schottische Rechtsanwalt John Ferguson McLennan veroffentlichte 1865 in seinem Werk Primitive Marriage eine evolutionistische Theorie der Familie Ausgangspunkt fur seine Uberlegungen war der weitverbreitete Brauch des symbolischen Brautraubes den er als Uberbleibsel einer fruheren tribalen Entwicklungsstufe betrachtete in der Brautraub tatsachlich und nicht nur symbolisch stattfand Seine Theorie besagt demnach dass jede Gesellschaft eine Serie von Entwicklungsstufen durchlaufen muss begonnen mit einer promiskuitiven Gesellschaftsform die in ein matrilineares Verwandtschaftssystem ubergeht das wiederum von einem patrilinearen System abgelost wird Der Hohepunkt der Entwicklung ist nach McLennan mit der Monogamie erreicht in der die Verwandtschaft sowohl vom Mann als auch von der Frau abgeleitet wird Zudem pragte er die Begriffe Exogamie und Endogamie indem er Heiratsregeln aufzeigte die entweder die Eheschliessung mit Frauen von ausserhalb Exogamie oder mit Frauen innerhalb der eigenen sozialen Gruppe Endogamie vorschreiben 6 Lewis Henry Morgan Bearbeiten Hauptartikel Lewis Henry Morgan Der amerikanische Ethnologe Lewis Henry Morgan verfolgte ebenfalls die Idee von einer ansteigenden Gesellschaftsentwicklung in drei Stufen Wildheit Barbarei Zivilisation Durch seine Feldforschungen bei den Irokesen stellte er fest dass sich ihre Art der Benennung von Verwandten von der unseren unterscheidet Beispielsweise wurde mit dem Begriff Vater nicht lediglich der direkte mannliche Verwandte bezeichnet sondern gleich mehrere mannliche Verwandte Morgan begann auf der Suche nach einer Erklarung Verwandtschaftsterminologien von uberall auf der Welt und der antiken Klassik zu sammeln und zu vergleichen Er fand heraus dass viele in Zeit und Raum weit voneinander entfernte Volker ahnliche Arten von Verwandtschaftsbenennungen verwendeten und es einige wenige Standardtypen solcher Benennungen gab 7 So erstellte er einen umfassenden Katalog den er 1871 in seinem 600 Seiten Werk The Systems of Consanquinity and Affinity of the human Family veroffentlichte Das Buch enthalt auf uber 200 Seiten drei Ubersichtstabellen mit Begriffen die Verwandtschaftsbeziehungen oder systems of consanguinity aus drei verschiedenen linguistischen Gruppen beschreiben Table I Semitic Aryan and Uralian families Table II Ganowanian family Table III Turanian and Malyan families Annahernd konnte man hier auch sagen dass sich Morgan mit der ersten Gruppe auf die Volker Europas und Westasiens mit der zweiten auf die amerikanischen Indianer und mit der dritten Gruppe auf die Volker Sud und Ostasiens und Teilen Ozeaniens bezog Diese drei Ubersichtstabellen unterteilte er wiederum in mehrere Tabellen insgesamt 139 Tabellen Die Textabschnitte des Buches fungieren als eine Art Kommentar zu den Tabellen und teilen das Buch so in drei Teile 8 Die Bedeutung von Morgans Werk bleibt bis heute unbestritten nicht zuletzt da er und Sir Edward Tylor durch ihre Veroffentlichungen im Jahr 1871 als Begrunder der Ethnologie gelten Fur einige Zeit beschaftigten sich vor allem Verwandtschaftsethnologen in Amerika hauptsachlich mit Verwandtschaftsterminologien siehe beispielsweise Alfred Kroeber 1909 oder George P Murdock 1949 9 Dennoch wird Morgan mittlerweile vorgeworfen er habe die Bedeutungen hinter seinen Terminologien nicht verstanden und sei ebenfalls den Fehlern der Evolutionstheorie aufgelaufen 7 Entwicklungen Anfang bis Mitte des 20 Jahrhunderts Bearbeiten Anfang des 20 Jahrhunderts wurden die evolutionistischen Theorien durch neue Theorien z B Diffusionismus und Ethnologen wie Franz Boas uberholt Verwandtschaft blieb zwar fur die nachfolgenden Ethnologen u a Bronislaw Malinowski Alfred Radcliffe Brown Edward E Evans Pritchard und Meyer Fortes der zentrale Bestandteil ihrer Arbeiten der Fokus anderte sich jedoch Ihr Hauptaugenmerk lag nicht mehr auf Verwandtschaftsterminologien und das Aufzeigen von gesellschaftlicher Evolution Ihr Hauptinteresse galt der Frage nach dem Fundament von Gesellschaften die trotz Abwesenheit von Staatlichkeit funktionierten Ihrer Erkenntnis nach bestimmten vor allem Verwandtschaftsbeziehungen die politischen Strukturen und sicherten den Fortbestand staatenloser Gesellschaften Folglich konzentrierten sich die Ethnologen jener Zeit auf die Regeln der Verwandtschaftszuordnung Heirat Filiation Deszendenz den sozialen Kontext der Kernfamilie die Untersuchungen von Lineages und die Variabilitat verwandtschaftlicher Institutionen in verschiedenen Kulturen 10 Funktionalismus Bearbeiten Hauptartikel Funktionalismus Sozialwissenschaften Bronislaw Malinowski brachte durch seine langen Feldforschungsaufenthalte in Melanesien frischen Wind in die Verwandtschafts Ethnologie Er war weder an Terminologien noch an evolutionistischen Spekulationen interessiert Vielmehr versuchte er die Brauche der Trobriander im Kontext ihrer eigenen Kultur und anhand der Funktionen ihrer Institutionen zu erklaren 11 Im Sinne des Funktionalismus stellte die Kernfamilie fur ihn eine universale soziale Institution dar deren Funktion es war die Gemeinschaft mit Mitgliedern zu versorgen 12 Dabei interessierten ihn insbesondere einheimische Familienkonstellationen und die Beziehung zwischen Eltern und Kindern letztere zum Teil aufgrund der Beeinflussung durch die freudsche Psychologie 10 Strukturfunktionalismus Bearbeiten Hauptartikel Strukturfunktionalismus Der ehemalige Schuler Malinowskis Edward Evan Evans Pritchard grenzte sich bald in seinen Arbeiten vom reinen Funktionalismus seines fruheren Lehrers ab und orientierte sich mehr an strukturfunktionalistischen Stromungen Fur Vertreter dieser Richtung standen nicht mehr die Betrachtung der Rolle einzelner Institutionen und deren Funktion im Vordergrund sondern die Geschichte Struktur und Verknupfungen innerhalb einer Gesellschaft Erst durch das Aufdecken der inneren Struktur und des Zusammenhangs der Institutionen einer Gesellschaft ist demnach eine funktionale Interpretation moglich 13 In The Nuer A Description of the Modes of Livelihood and Political Institutions of a Nilotic People 1940 legte er seinen Fokus auf die Struktur der Nuer Gesellschaft indem er ihre Aufteilung in politische Gruppen und Abstammungsgruppen aufzeigt und die Prinzipien beleuchtet die dieser Struktur zugrunde liegen 1951 folgte der zweite Teil seiner Monographie Kinship and Marriage among the Nuer in dem er an seine vorherigen Uberlegungen anknupft und seinen Fokus auf die Heirat bei den Nuer legt und deren fundamentale Bedeutung fur verwandtschaftliche Netzwerke aufzeigt The network of kinship ties within any Nuer community can ultimately be reduced to a series of marriage unions 14 Mit dem Erscheinen von African Political Systems das er gemeinsam mit Meyer Fortes ebenfalls 1940 veroffentlichte begrundete er zudem die Politikethnologie die sich im Laufe der Jahrzehnte fast ganzlich von ihrem eigentlichen Ursprung der Verwandtschaftsethnologie abgrenzte 15 Ahnlich wie Evans Pritchard zeigte auch der in Sudafrika geborene Sozialanthropologe Meyer Fortes in Dynamics of Clanship among the Tallensi 1945 auf welchen enormen Einfluss die Abstammungsgruppen der Tallensi auf die soziale und politische Struktur ihrer Gesellschaft hatte Er unterscheidet zwischen zwei Bereichen von Verwandtschaft domestic und politicojural Der erste Bereich bezieht sich auf die private Sphare der Kernfamilie also Mutter Vater und Kinder Letzterer umfasst die offentlichen Rollen oder Funktionen die von der weiteren Verwandtschaft der Lineage bestimmt werden Die Lineage wurde als das zentrale Hauptmerkmal verstanden auf deren Basis sich vor allem afrikanische Gesellschaften organisierten Eigentum war im Besitz der Verwandtschaftsgruppe die Abstammung der einzelnen Mitglieder wurde durch einen gemeinsamen Vorfahren bestimmt Nach Fortes konnen weder Politik noch Religion von Verwandtschaft getrennt werden sondern machen vielmehr den Zusammenhalt in jenen Gesellschaften aus In ihrem 1950 erschienenen Sammelband African Systems of Kinship and Marriage u a mit Beitragen von Max Gluckman Fortes und Evans Pritchard betonen Alfred Radcliffe Brown und Daryll Forde in ihrer Einleitung die Bedeutung von Verwandtschaft fur die Ethnologie For the understanding of any aspect of the social life of an African people economic political or religious it is essential to have a thorough knowledge of their system of kinship and marriage 16 Als Mitbegrunder des Strukturfunktionalismus behandelt Radcliffe Brown Verwandtschaftssysteme als ein Feld von Rechten und Pflichten und sieht sie als Teile der Gesellschaftsstruktur 17 Strukturalismus Bearbeiten Hauptartikel Strukturalismus Wahrend in England Heirat als Verstarkung der jeweiligen Verwandtschaftsgruppe diskutiert wurde und Heirat und daraus entspringende legitime Nachkommen als notwendig fur das Fortbestehen der Gruppe betrachtet wurden also Heirat Teil des Verwandtschaftssystems war und die Funktion der Aufrechterhaltung erfullte ging der Franzose Claude Levi Strauss in seiner Allianztheorie davon aus dass Verwandtschaftsgruppen Einheiten waren die in einem System von Allianzen hergestellt oder durch Heirat ausgedruckt wurden Der Unterschied von Verwandtschaftssystemen liegt demnach darin in welcher Art und Weise Frauen im jeweiligen System getauscht werden Diese so geschaffenen Allianzstrukturen wirken sich wiederum auf den sozialen politischen und religiosen Raum aus und strukturieren die Gesellschaft 18 Doch trotz des Perspektivenwechsels den Levi Strauss in Les structures elementaires de la parente 1949 vollzieht gewann sein Werk nur langsam an Bedeutung da es auf Franzosisch verfasst und extrem lang war 19 Die Krise in den 1970er Jahren Bearbeiten Bis in die 1960er Jahre galt die Verwandtschaftsethnologie als der zentrale Bestandteil der Ethnologie In den 1970er Jahren kam jedoch starke Kritik an den bisherigen Ansatzen der Verwandtschaftsethnologie auf Der Vorwurf lautete zum einen dass sie auf der Illusion des Universalismus beruhe Zum anderen sei ihre bisherige Herangehensweise zu formal da sie keinen Raum fur den Unterschied zwischen Regeln und tatsachlichem Verhalten zuliesse 18 Insbesondere der amerikanische Ethnologe David Murray Schneider lehnte die abstrakten Studien uber Verwandtschaftsterminologien entschieden ab und stellte uberhaupt die Existenz von Verwandtschaft ausserhalb Europas und den USA in Frage 20 Seiner Meinung nach gehen Verwandtschaftsethnologen falschlicherweise davon aus dass es universal gultige Verwandtschaftskategorien gabe Nach ihm sollte der zentrale Kern der Verwandtschaftsethnologie weder aus der komparativen Analyse von Verwandtschaftsterminologien noch der Funktion von sozialen Gruppen bestehen Vielmehr sollte die zentrale Fragestellung sein wie kulturelle Bedeutungen geschaffen und ein symbolisches System wie Verwandtschaft im jeweiligen kulturellen Kontext verstanden werden kann siehe hierzu auch Clifford Geertz und die Interpretative Ethnologie 18 Dieser Ansatz beinhaltet sowohl eine Entfernung vom strukturfunktionalistischen Denken der Briten siehe oben Evans Pritchard Radcliffe Brown und Fortes als auch vom Strukturalismus Levi Strauss 21 In seinen beiden Werken American Kinship 1968 und A Critique of the Study of Kinship 1984 steht die Beziehung zwischen Natur und Kultur genauer zwischen den biologischen und sozialen Aspekten von Verwandtschaft und die Entwicklung von kulturellen Bedeutungen in diesem Kontext im Zentrum Indem er die seiner Meinung nach eurozentristische Annahme dass Verwandtschaftsbeziehungen vor allem auf Blut und Abstammung bzw sexueller Reproduktion zuruckzufuhren seien kritisiert und danach fragt was an Verwandtschaft biologisch und was kulturell ist ebnet er den Weg fur ein neues Feld in der Verwandtschaftsethnologie 22 Dennoch liess das Interesse an der Verwandtschaftsethnologie in den 1970er und 1980er Jahren zunachst stark nach Als Grunde werden neben Schneiders radikaler Kritik zum einen die feministische Ethnologie der 1980er aufgefuhrt in der Gender mehr an Bedeutung gewann und Verwandtschaft in den Hintergrund geriet Zum anderen schreckte der Formalismus der strukturorientierten Verwandtschaftsethnologie viele Ethnologen von einer Auseinandersetzung mit Verwandtschaft ab 15 Ende der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre erlebte die Verwandtschaftsethnologie dann eine Renaissance Die Entwicklung neuer Reproduktionstechnologien und die zwangslaufige Ruckbesinnung auf verwandtschaftsethnologische Erkenntnisse wenn es um soziale Institutionen wie Ehe Familienstrukturen usw geht warfen neue Fragen auf 23 Diese neueren Konzepte konnen auch unter dem Begriff der New Kinship Studies zusammengefasst werden 15 Neue Konzepte New Kinship Studies BearbeitenDer erneute Aufschwung in der Verwandtschaftsethnologie in den 1990er Jahren lasst sich vor allem durch einen Wandel der Konzeption von Verwandtschaft erklaren 15 Die neuen Stromungen auch New Kinship Studies beschaftigen sich mehr denn je in der Verwandtschaftsforschung mit der Frage wie Verwandtschaftsbeziehungen entstehen und hinterfragen wie schon Schneider die lange vorherrschende Pramisse dass Verwandtschaft vorwiegend auf genealogischen Verbindungen basiert Eine der Grundthesen der New Kinship Studies lautet d ass Verwandtschaft gemacht wird indem sie in realen sozialen Prozessen die sich bestandig andern gedacht vorgestellt und gelebt wird 24 Themen der New Kinship Studies Bearbeiten So beschaftigt sich Janet Carsten mit dem Zusammenhang von Sozialem und Biologischem deren Grenzen sie in vielen Fallen als unscharf wenn uberhaupt sichtbar bezeichnet 25 Um sich von bisherigen Konzepten von Verwandtschaft und der willkurlichen Dichotomie von Natur und Kultur abzugrenzen fuhrt Carsten den Begriff der relatedness ein Relatedness beschreibt im weitesten Sinne the ways in which people create similarity or difference between themselves and others 26 Diese sehr offene Formulierung von Verwandtsein soll Raum fur die Vielfalt von Verwandtschaft geben und Verwandtsein als Zustandsbeschreibung und nicht per se als kulturelle oder biologische Tatsache verstehen In dem von Carsten herausgegebenen Sammelwerk Cultures of Relatedness verwenden die Autoren demnach den Begriff relatedness in order to signal an openness to indigenous idioms of being related rather than a reliance on pre given definitions or previous versions 27 Basierend auf dem Prinzip der relatedness von Carsten stellt Signe Howell in ihrem 2006 erschienenen Buch The Kinning of Foreigners ihr Konzept des Verwandt Machens kinning vor By kinning I mean the process by which a foetus or newborn child is brought into a significant and permanent relationship with a group of people and the connection is expressed in a conventional kin idiom Dieser weder triviale noch automatische Prozess bezieht sich nicht nur auf Neugeborene sondern auf jegliche Personen die z B durch Heirat eine verwandtschaftliche Verbindung mit einer Gruppe eingehen Verwandt Machen kann nach Howell durch drei Praktiken erfolgen 1 durch biologische oder als naturlich vorgestellte Zusammenhange kin by nature 2 durch soziales Teilen durch Nahrung oder Erziehung kin by nurture und 3 durch das Gesetz kin by law Das Gegenstuck zu kinning nennt Howell de kinning Damit beschreibt sie den rucklaufigen Prozess des Verwandt Machens das heisst eine Verwandtschaftsbeziehung mit einer Person wird aufgelost bzw kommt gar nicht erst zustande wie das bei Kindern der Fall ist die nach ihrer Geburt zur Adoption frei gegeben werden 28 Viele der neueren Forschungen zu Verwandtschaft konzentrierten sich zunachst hauptsachlich auf das soziale Teilen und wendeten sich somit von biologischen oder rechtlichen Zusammenhangen ab und einem Bereich der Verwandtschaftsethnologie zu der bis dahin fast ganzlich ausser Acht gelassen wurde Unter nurture als Form des Verwandtschaft Machens fallen das alltagliche Teilen von Substanzen Erfahrungen oder auch Raumen Zeiten und Orten 29 Geteilte Substanzen konnen sowohl Korpersubstanzen wie Blut Sperma Gene oder Muttermilch als auch Substanzen wie Nahrung sein siehe hierzu die Arbeiten von Carsten 1997 Notermans 2004 und Weismantel 1995 Ferner werden auch das Teilen von Erlebnissen Weston 1991 oder das Durchfuhren von Ritualen siehe hierzu Schareika 2010 als Bestandteile des Verwandt Machens in Betracht gezogen Im Gegensatz zu fruheren Arbeiten spielt bei derartigen Herangehensweise an Verwandtschaft die genealogische Abstammung zwar immer noch eine Rolle sie steht aber nicht mehr im Vordergrund Vielmehr gewinnt die gelebte Verwandtschaft wie sie im Alltag stattfindet an Bedeutung und die Prozesshaftigkeit und Flexibilitat von Verwandtschaft werden betont Ein weiterer Unterschied zu alteren Arbeiten uber Verwandtschaft ist dass Verwandtschaftsethnologen sich nicht mehr nur auf den aussereuropaischen Raum begrenzen sondern den Blick zunehmend auf euroamerikanische Gesellschaften richten oder Debatten aus ihrer eigenen Gesellschaft aufgreifen siehe hierzu beispielsweise Carstens Einleitung in After Kinship 2004 Diese regionale Ruckbesinnung liegt auch an Themen wie den neuen Reproduktionstechnologien oder Adoption die die Verwandtschaftsethnologie in den letzten Jahrzehnten vermehrt beschaftigen und den Blick auf die eigene Gesellschaft lenken siehe hierzu Kahn 2004 oder Cil 2007 Aber auch die klassischen Themen der Verwandtschaftsethnologie wie Heirat Deszendenz und Filiation finden weiterhin Beachtung unter Verwandtschaftsethnologen und werden neu interpretiert In Bezug auf Heirat mogen sich zwar die Kriterien der Partnerwahl und Heiratsstrategien andern ihre Bedeutung in der jeweiligen Gesellschaft und damit auch fur die Ethnologie bleibt dennoch oftmals zentral Neuere Arbeiten konzentrieren sich daher u a auf den Einfluss von sozialem Wandel auf Heiratspraktiken oder auf interethnische Beziehungen die uber nationale ethnische der kulturelle Grenzen hinaus untersucht werden 30 siehe hierzu die Beitrage von Alex und Beer in selbigem oder Porter 2004 Auch die Frage nach der Filiation das heisst nach der Abstammung einer Person beschaftigt nach wie vor Verwandtschaftsethnologen allerdings unter dem Vorbehalt dass dabei nicht unbedingt die Beziehungen zwischen Kindern und ihren leiblichen Eltern gemeint sein mussen Hinzu kommen in diesem Zusammenhang Arbeiten zu Kindspflegschaft oder child fostering die klassische und neue Theorien der Verwandtschaftsethnologie verbinden und verschiedene Praktiken des Verwandt Machens aufzeigen siehe hierzu Alber u a 2013a Weniger Beachtung finden weiterhin Themen die sich mit den Verwandtschaftsbeziehungen der erweiterten Familie z B Geschwister oder Schwagerbeziehungen oder Beziehungen zwischen Grosseltern und ihren Enkeln auseinandersetzen siehe hierzu Notermans 2004 oder Alber u a 2013b Kritik Bearbeiten Doch trotz der Wiederbelebung der Verwandtschaftsethnologie die durch die Impulse der New Kinship Studies massgeblich ausgelost wurde gibt es auch Positionen die sich gegen die Neuorientierung der Verwandtschaftsethnologie richten Einer der Hauptkritikpunkte ist die Ignoranz gegenuber formalen Analysen von Verwandtschaft Auch Alber u a lenken ein dass bei einer Fokussierung nur auf die alltaglich gelebte Verwandtschaft die Gefahr bestehe dass der strukturelle Rahmen von Verwandtschaft ausser Acht gelassen werde Es sollte jedoch bedacht werden dass j edes Aushandeln und jede Schaffung von Verwandtschaft vor dem Hintergrund bestehender verwandtschaftlicher Strukturen stattfinden die wiederum in der Praxis ausgehandelt werden 31 Siehe auch Bearbeiten nbsp f Themenliste Ethnosoziologie Ubersicht im Portal EthnologieLiteratur BearbeitenErdmute Alber Verwandtschaft heute Positionen Ergebnisse und Forschungsperspektiven In Dieselbe Bettina Beer Julia Pauli Michael Schnegg Hrsg Verwandtschaft heute Positionen Ergebnisse und Perspektiven Reimer Berlin 2010 S 7 44 Erdmute Alber Jeanett Martin Catrien Notermans Hrsg Child Fostering in West Africa New Perspectives on Theory and Practices Brill Leiden 2013 englisch Erdmute Alber Cati Coe Tatjana Thelen Hrsg The Anthropology of Sibling Relations Shared Parentage Experience and Exchange Palgrave Mac Millan New York 2013 englisch Johann Jakob Bachofen Das Mutterrecht Schwalvenberg Dortmund 1947 1861 Bronislaw Malinowski Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur und andere Aufsatze Pan Zurich 1949 Janet Carsten The Heat of the Hearth The Process of Kinship in a Malay Fishing Community Claredon Press Oxford 1997 englisch Janet Carsten Cultures of relatedness New approaches to the study of kinship Cambridge University Press Cambridge New York 2000 englisch Janet Carsten After kinship Cambridge 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