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Der Begriff der naiven Mengenlehre entstand am Anfang des 20 Jahrhunderts fur die Mengenlehre des 19 Jahrhunderts in der eine ungeregelte oder unbeschrankte Mengenbildung praktiziert wurde 1 Wegen Widerspruchen die sich in ihr ergeben wurde sie spater abgelost durch die axiomatische Mengenlehre in der die Mengenbildung uber Axiome geregelt wird Naive Mengenlehre bezeichnet daher primar diese fruhe Form der ungeregelten Mengenlehre und ist als Kontrastbegriff zur axiomatischen Mengenlehre zu verstehen Nicht selten wird aber in der mathematischen Literatur nach 1960 auch eine anschauliche Mengenlehre als naiv bezeichnet daher kann mit diesem Namen auch eine unformalisierte axiomatische Mengenlehre bezeichnet werden 2 oder eine axiomatische Mengenlehre ohne metalogische Betrachtungen 3 Problematik BearbeitenFur die Intention der unbeschrankten naiven Mengenbildung wird oft die Mengendefinition von Georg Cantor zitiert Unter einer Menge verstehen wir jede Zusammenfassung M von bestimmten wohlunterschiedenen Objekten m unserer Anschauung oder unseres Denkens welche die Elemente von M genannt werden zu einem Ganzen 4 Bei genauer Betrachtung ist dies aber nicht stichhaltig siehe unten Eine Mengenlehre mit einer unbeschrankten Mengenbildung findet man aber bei anderen Mathematikern des ausgehenden 19 Jahrhunderts bei Richard Dedekind und Gottlob Frege Sie ist daher durchaus typisch fur die fruhe Mengenlehre Aus der Sicht der Mathematiker des 20 Jahrhunderts wurde sie als naive Mengenlehre bezeichnet da sie bei gewissen extremen Mengenbildungen zu Widerspruchen fuhrt Bekannte Antinomien die auch als logische Paradoxien bezeichnet werden sind in der naiven Mengenlehre zum Beispiel die folgenden Die Menge aller Ordinalzahlen fuhrt zum Burali Forti Paradoxon von 1897 erste publizierte Antinomie Die Menge aller Kardinalzahlen erzeugt die erste Cantorsche Antinomie von 1897 Die Menge aller Dinge oder Mengen erzeugt die zweite Cantorsche Antinomie von 1899 Die Menge aller Mengen die sich nicht selbst als Elemente enthalten ergibt die Russellsche Antinomie von 1902 Solche echten logischen Widerspruche sind erst dann beweisbar wenn naiv angenommene Axiome die Existenz aller Mengen zu beliebigen Eigenschaften festschreiben Das gilt etwa fur die Mengenlehre die Dedekind seiner Arithmetik 1888 zugrunde legte da er dort alle Systeme Klassen zu Dingen und Elementen erklarte 5 Bekannter wurde der jungere widerspruchliche mengentheoretische Kalkul aus Freges Arithmetik von 1893 6 da in ihm Russell 1902 die Russellsche Antinomie nachwies 7 Diese fruhen Mengen Kalkule sind daher sicher als naive Mengenlehren einzustufen obwohl gerade sie die ersten Versuche sind die Mengenlehre axiomatisch zu prazisieren Dass Cantors Mengenlehre widerspruchlich ist ist dagegen nicht beweisbar da seine Mengendefinition allein keinen Widerspruch erzeugt Sein Mengenbegriff ist ohne klare Axiome allerdings zu offen und nicht genugend griffig Ihn kann man sinnvoll oder sinnlos interpretieren Erst die sinnlose Interpretation erzeugt hier Antinomien oder Paradoxien darunter auch sogenannte semantische Paradoxien bei denen die unklare Aussagen Syntax zu unzulassigen Mengenbildungen ausgenutzt wird bekannte Beispiele sind Die Menge aller endlich definierbaren Dezimalzahlen ergibt das Richards Paradox von 1905 Die Menge aller endlich definierbaren naturlichen Zahlen ergibt das Berry Paradoxon von 1908 Die Menge aller heterologischen Worter sie nennen ein Merkmal das sie selbst nicht besitzen erzeugt die Grelling Nelson Antinomie von 1908 Cantor selbst trennte Mengen als konsistente Vielheiten deren Zusammengefasstwerden zu einem Ding moglich ist von inkonsistenten Vielheiten bei denen das nicht der Fall ist in Briefen in denen er seine Antinomien beschrieb 8 Er verstand offenbar den Begriff Vielheit im Sinn des heutigen allgemeineren Klassenbegriffs seine inkonsistenten Vielheiten entsprechen daher dem modernen Begriff der echten Klasse In jenen Briefen finden sich auch Cantors Mengenaxiome die er nicht publizierte aber seinen nicht naiven Standpunkt klar belegen Hauptlosung BearbeitenDer Ubergang von der naiven Mengenlehre zu einer allgemein anerkannten axiomatischen Mengenlehre war ein langerer historischer Prozess mit verschiedenen Losungsansatzen Ernst Zermelo publizierte 1908 erstmals eine axiomatische Mengenlehre mit dem Ziel beide Arten von Paradoxien zu verhindern diese Zermelo Mengenlehre lasst einerseits zur Mengenbildung nur definite Aussagen zu die aus der Gleichheit und dem Elementpradikat durch logische Verknupfung entstehen anderseits regelt sie die Mengenbildung durch Axiome die so eng sind dass die antinomischen Mengen nicht mehr gebildet werden konnen und so weit dass alle zur Ableitung von Cantors Mengenlehre notigen Mengen gebildet werden konnen 9 Dieses Ziel Zermelos erreichte aber erst die erweiterte pradikatenlogisch prazisierte Zermelo Fraenkel Mengenlehre ZFC Sie setzte sich im 20 Jahrhundert allmahlich durch und wurde zur weithin anerkannten Grundlage der modernen Mathematik Widerspruchliche naive Mengen konnten bisher in ZFC nicht mehr gebildet werden weil Zermelos Aussonderungsaxiom nur noch eine eingeschrankte Mengenbildung erlaubt Beweisbar ist die Widerspruchsfreiheit allerdings nur fur die Mengenlehre mit endlichen Mengen ZFC ohne Unendlichkeitsaxiom aber nicht mit unendlichen Mengen wegen des Godelschen Unvollstandigkeitssatzes Das gilt auch fur Erweiterungen der ZFC Mengenlehre zur Klassenlogik in der auch die Allklasse die Ordinalzahl Klasse oder die Russellsche Klasse als echte Klassen gebildet werden konnen aber nicht als Mengen Einzelnachweise Bearbeiten Felix Hausdorff Grundzuge der Mengenlehre Leipzig 1914 Seite 1f naiver Mengenbegriff z B Paul R Halmos Naive Mengenlehre Gottingen 1968 unformalisierte ZF Mengenlehre z B Walter Felscher Naive Mengen und abstrakte Zahlen I III Mannheim Wien Zurich 1978 1979 Beitrage zur Begrundung der transfiniten Mengenlehre Mathematische Annalen Bd 46 S 481 online Richard Dedekind Was sind und was sollen die Zahlen Braunschweig 1888 1 2 Gottlob Frege Grundgesetze der Arithmetik Band 1 Jena 1893 Nachdruck Hildesheim 1966 im Band 2 Jena 1903 Im Nachwort S 253 261 bespricht Frege die Antinomie Russells Brief an Frege vom 16 Juni 1902 in Gottlob Frege Briefwechsel mit D Hilbert E Husserl B Russell ed G Gabriel F Kambartel C Thiel Hamburg 1980 S 59f Brief von Cantor an Dedekind vom 3 August 1899 in Georg Cantor Briefe ed H Meschkowski und W Nilson Berlin Heidelberg New York 1999 S 407 Im Briefauszug S 440 sagte er dass er die Dinglichkeit der Mengen bereits in seiner Mengendefinition in der Zusammenfassung zu einem Ganzen berucksichtigt hatte Ernst Zermelo Untersuchungen uber die Grundlagen der Mengenlehre 1907 in Mathematische Annalen 65 1908 S 261 264 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Naive Mengenlehre amp oldid 235051740