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Ludus tonalis lateinisch fur tonales Spiel ist ein Klavierzyklus von Paul Hindemith aus dem Jahre 1942 der aus zwolf Fugen elf Interludien Zwischenspielen sowie einem eroffnenden Praeludium 1 Vorspiel und einem abschliessenden Postludium Nachspiel besteht Das Werk gilt als modernes Gegenstuck zum Wohltemperierten Klavier von J S Bach Wahrend das Wohltemperierte Klavier als Anwendungsbeispiel fur die Errungenschaft der Wohltemperierten Stimmung gedacht war ist Hindemiths Ludus tonalis ein musikalisches Exempel fur die von ihm selbst gefundene tonale Struktur der chromatischen Tonleiter Bach ordnet seine Praludien und Fugen in chromatisch aufsteigender Reihenfolge an und demonstriert so die damals neue Moglichkeit in allen Tonarten sauber spielen zu konnen Hindemith folgt in der Anordnung seiner Stucke der so genannten Reihe 1 2 die als eines der Ergebnisse seiner theoretischen Untersuchungen ein neues System von Tonverwandtschaften etabliert das nach Hindemiths Auffassung den traditionellen Quintenzirkel ersetzen konnte Inhaltsverzeichnis 1 Theoretischer Hintergrund 1 1 Reihe 1 1 2 Freie Tonalitat 2 Erlauterungen zur Werkstruktur 2 1 Praeludium und Postludium 2 2 Die Interludien 2 3 Die Fugen 2 4 Die Harmonik 3 Liste der Einzelstucke 4 Literatur 5 AnmerkungenTheoretischer Hintergrund Bearbeiten Hauptartikel Unterweisung im Tonsatz Reihe 1 Bearbeiten Im 1940 erschienenen theoretischen Teil seiner Unterweisung im Tonsatz beschaftigt sich Hindemith detailliert mit den grundlegenden Eigenschaften des musikalischen Materials Dabei geht er von der Erkenntnis aus dass den bisherigen Wegen zur Tonleiterbildung etwas aus seiner Sicht Unbefriedigendes anhaftet So sieht er z B in der gleichstufigen chromatischen Skala also der Einteilung der Oktave in zwolf gleiche Intervalle ein unnaturliches Kunstprodukt Diesem stellt er einen neuen Vorschlag gegenuber und entwickelt eine Methode die chromatische Skala auf organische Weise aus dem naturgegebenen Ausgangsmaterial der Obertonreihe abzuzuleiten Dieses etwas komplizierte Verfahren kann hier nicht im Detail beschrieben werden Hindemith braucht dafur immerhin uber 10 Seiten Im Prinzip handelt es sich um eine Art Entdeckungsreise im Reich der Obertone Die Reihenfolge in der hierbei die einzelnen Tone entdeckt werden ergibt die Reihe 1 die bezogen auf den Ausgangston C 3 folgendermassen aussieht C G F A E Es As D B Des H Fis Ges Diese Reihe beschreibt den abnehmenden Verwandtschaftsgrad der Tone in Bezug auf den Grundton C In Hindemiths System der freien Tonalitat lost sie gewissermassen den traditionellen Quintenzirkel ab Freie Tonalitat Bearbeiten Entsprechend der Reihe 1 erscheint die chromatische Tonleiter nicht mehr als eine Erweiterung der diatonischen Dur bzw Molltonleiter sondern ist ein von den Tongeschlechtern unabhangiges autonomes Gebilde mit abgestuften Verwandtschaftsgraden die nicht unbedingt immer mit den traditionell angenommenen Verwandtschaftsbeziehungen der Tonarten ubereinstimmen Die Emanzipation von der Dur Moll Tonalitat fuhrt konsequent zur so genannten freien Tonalitat deren Grundlage die ganze zwolftonige chromatische Tonleiter ist Trotz oberflachlicher Ahnlichkeiten legt Hindemith jedoch grossten Wert auf eine scharfe Abgrenzung gegenuber der atonalen Zwolftonmusik Schonbergs und der Wiener Schule Hindemith behauptet sogar schlankweg dass eine Atonalitat im strengen Sinne unmoglich sei weil sich immer ein Ton gegenuber den anderen als Grundton tonales Zentrum durchsetze Im letzten Kapitel seiner Unterweisung im Tonsatz das sich mit der analytischen Anwendung seiner Theorien auf Musikbeispiele befasst nimmt er sogar eine Zwolftonkomposition von Schonberg unter die Lupe und weist nach dass sich selbst hier tonale Zentren feststellen lassen 4 Erlauterungen zur Werkstruktur BearbeitenPraeludium und Postludium Bearbeiten Das Praeludium ist ein frei gestaltetes Stuck nach Art einer Fantasie die streckenweise auch toccatenhafte Zuge annimmt Charakteristisch sind die improvisatorisch anmutenden Passagen in freiem Tempo a piacere und die lockere Reihung mehrerer Teile unterschiedlicher Pragung Das Stuck beginnt einstimmig mit einem dreigestrichenen c3 der letzte angeschlagene Ton ist ein Kontra Fis1 Das Praeludium wird also vom Anfangs und Endton der Reihe 1 quasi eingerahmt Allerdings notiert Hindemith das bereits vorher angeschlagene grosse Cis so dass es langer als das Fis1 ausgehalten und somit zum eigentlichen Schlusston wird Diese zunachst merkwurdig erscheinende Tatsache findet ihre Erklarung im Postludium Dieses ist namlich eine exakte Krebsumkehrung des Praeludiums das heisst letzteres ist jetzt Ton fur Ton ruckwarts notiert bei gleichzeitiger Spiegelung Umkehrung Da als Spiegelachse die erste Hilfslinie uber dem Bassschlussel bzw damit bedeutungsgleich unter dem Violinschlussel System gewahlt wurde wird aus dem auf der zweiten Hilfslinie unter dem Basssystem notierten Cis ein auf der zweiten Hilfslinie uber dem Diskantsystem notiertes cis3 Damit ist die Ubereinstimmung zwischen dem letzten Ton des Praeludiums und dem ersten des Postludiums auch klanglicher und nicht nur optischer Natur wie beim Fis1 das in der Spiegelung zum gis3 wird Dem eigentlich letzten Ton des Postludiums der dem ersten des Praeludiums entspricht lasst Hindemith noch einen vollgriffigen C Dur Dreiklang folgen der den gesamten Zyklus mit einer Erinnerung an den reinen Obertonklang von dem ja die ganze Theorie ausging abschliesst Die Interludien Bearbeiten In den Interludien nutzt Hindemith die klanglichen Moglichkeiten des Klaviers vielfaltig aus Sie haben durchweg ein ausgesprochen spielfreudiges Wesen und zeichnen sich meist durch einen profilierten Charakter aus Hier ein zartes Pastorale dort ein seltsam irrealer Walzer dann eine merkwurdig ausgezackte Aria ein quirliges Perpetuum mobile ein spritziges Scherzino oder auch Stucke von stark virtuosem Charakter wie das Interludium das von D nach B uberleitet mit seinen ineinander greifenden Akkordketten der beiden Hande Naturlich darf auch die von Hindemith so bevorzugte Marcia nicht fehlen Die Fugen Bearbeiten Den klangfrohen Interludien stehen in bewusstem Gegensatz die Fugen gegenuber in denen keinerlei Rucksicht auf klangliche Wirkung genommen wird Der Komponist hat sie in dreistimmiger Nacktheit aufgezeichnet ohne klangliche Verdoppelung ohne Kadenzverbreiterung Dafur arbeitet er mit dem gesamten Arsenal kontrapunktischer Komplikationen als da sind Engfuhrungen Krebs Umkehrung Krebsumkehrung Augmentation und Diminution Man kann zwei Typen von Fugen unterscheiden Spielfreudige und uberwiegend konstruktive anders ausgedruckt weitmaschige und streng thematische Die konstruktiven Stucke stehen zu Beginn und am Schluss des Zyklus in dichter Folge wahrend die spielfrohen die Mitte ausmachen E Es As D Innerhalb der unbedingt konstruktiven Stucke ist eine Steigerung zu beobachten Man denkt zwar dass die Fuge in F deren zweite Halfte die exakte Krebsgestalt der ersten ist bereits einen Gipfel kompositorischer Verdichtung darstellt Da kommt gleich als nachstes Stuck eine dreiteilige Doppel Fuge A Cis A in deren drittem Teil die in den beiden ersten Teilen zunachst getrennt durchgefuhrten Themen kontrapunktisch gegeneinander gestellt werden Und gegen Ende finden wir die Fuge in Des die Note fur Note umgekehrt wird und darauf die Fuge in H die als zweistimmiger Kanon uber einem wesenlosen Bass gestaltet ist Fur die kompositionstechnische Gestaltung der Fugen ist der Wegfall der sog tonalen Beantwortung kennzeichnend Diese war eine Konzession an die Tonika Dominant Spannung der Dur und Moll Tonalitat In der freien Tonalitat der zwolftonigen chromatischen Leiter ist sie uberflussig Die thematischen Beantwortungen erfolgen erst in der Quart dann in Terz und Sext erst von der Fuge in As ab in der Quint Die letzte Fuge Fis kehrt wieder zur Quartbeantwortung zuruck Der dritte Einsatz erfolgt stets in der Tonika Von der Doppelfuge in A mit zwei Themen abgesehen haben alle Fugen ein Thema Diesbezuglich eine Sonderstellung nimmt die erste Fuge in C ein sie hat drei Themen die aber nur in der Originalgestalt verwendet werden Die Harmonik Bearbeiten Die von Hindemith entwickelte Akkordlehre gibt das in der traditionellen Harmonielehre herrschende Grundprinzip der Terzenschichtung auf und unterscheidet nicht mehr zwischen eigentlichen Akkorden und Vorhaltsakkorden Ebenso wirft er das Prinzip der Umkehrbarkeit von Klangen uber Bord Dies bedeutet dass alle denkbaren Klange mit der gleichen Selbstverstandlichkeit musikalisch verwendbar sind Die hierin begrundete im Prinzip schrankenlose harmonische Freiheit erlaubt Hindemith in den Fugen eine geradezu gnadenlose Konsequenz der Kontrapunktik die keine Rucksicht auf klangliche Harten nimmt Die zum Teil ausserst herben Zusammenklange wirken jedoch stets durch die Logik der Stimmfuhrung begrundet und erscheinen nach einer gewissen Eingewohnungsphase nicht mehr storend Die fur Hindemith typische Harmonik unterscheidet sich von der in der Romantik vorherrschenden emotionstrachtigen Spannungsharmonik durch eine grossere Kuhle Herbheit ja Sprodigkeit Dies liegt unter anderem daran dass Hindemith eine gewisse Tendenz zur bevorzugten Verwendung tritonusfreier Dissonanzakkorde erkennen lasst Gegenuber dem fruhen Hindemith der sich mit seinen zum Teil brutal provokanten Klangen in den Ruf eines Burgerschrecks brachte erscheint der spatere Hindemith des Ludus tonalis neoklassizistisch gelautert Wahrend er fruher keine Hemmungen hatte etwa zum Abschluss des Shimmy in der Suite 1922 dem Horer einen funfstimmigen Dissonanzakkord con tutta forza um die Ohren zu knallen erscheint er im Ludus tonalis was Schlussklange anlangt geradezu puristisch abgeklart Mogen auch die vorangegangenen Klange noch so dissonant gewesen sein am Schluss der Stucke steht immer eine Konsonanz Von den 25 Stucken des Ludus tonalis enden acht mit einem Dur Dreiklang vier mit einer grossen Terz eines mit einer grossen Sext vier mit einer leeren Quint und sechs sogar nur mit einem Oktavklang oder Einzelton Der Molldreiklang kommt als Schlussklang nicht vor was die Frage aufwirft ob Hindemith moglicherweise die fruhbarocken Zweifel an der wirklichen Schlussfahigkeit des Mollakkords wieder aufleben lasst Immerhin erklart er in seiner Unterweisung im Tonsatz den Mollakkord als eine Trubung des in der Obertonreihe naturlich vorkommenden Durdreiklangs Obwohl Hindemith den in der Klassik als Schlussakkord vollig akzeptierten und gangigen Molldreiklang meidet verwendet er bei zwei Stucken einen Schlussakkord der als solcher in der Klassik undenkbar gewesen ware namlich die zweite Umkehrung des Durdreiklangs den Quartsextakkord Damit setzt er sich bewusst von der traditionellen Interpretation dieses Akkords ab die in ihm eher ein labiles auflosungsbedurftiges Gebilde sah und ihn in die Nahe eines Dissonanzklangs Auffassungsdissonanz ruckte Die dem Quartsextakkord innewohnende Spannung wurde in der Klassik als so stark empfunden dass man ihn sogar standardmassig in Instrumentalkonzerten als trommelwirbelartigen Spannungsstau vor der Solokadenz einsetzte Nach den Ergebnissen von Hindemiths akustisch theoretischen Uberlegungen ist der Quartsextakkord jedoch ein vollig unproblematischer Konsonanzklang dessen Wert gegenuber der Grundform des Durdreiklangs nur dadurch leicht abgeschwacht wird dass sein Grundton nicht der Basston ist Liste der Einzelstucke BearbeitenIm Folgenden sind die Titel und Vortragsbezeichnungen der einzelnen Stucke angegeben Die kursiv gekennzeichneten Angaben stehen nicht wie die anderen gross uber sondern klein in oder unter den Noten Die Tonalitatsbezeichnungen sind hier mit der deutschen Nomenklatur angegeben wahrend im Original die englischen Bezeichnungen verwendet werden Praeludium a piacere largamente Arioso tranquillo a piacere Lento Solenne largo Fuga prima in C Lento Interludium Moderato con energico Fuga secunda in G Allegro Interludium Pastorale moderato Fuga tertia in F Andante Interludium Scherzando Fuga quarta in A Con energica Lento grazioso Tempo primo Interludium Vivace Fuga quinta in E Vivace Interludium Moderato Fuga sexta in Es Tranquillo Interludium Marcia Fuga septima in As Moderato Interludium Molto largo Fuga octava in D Con forza Interludium Allegro molto Fuga nona in B Moderato scherzando Interludium Molto tranquillo Fuga decima in Des Allegro moderato grazioso Interludium Allegro pesante Fuga undecima in H Canon Lento Interludium Valse Fuga duodecima in Fis Molto tranquillo Postludium Solenne largo largamente Arioso tranquillo Moderato largamente a piacereLiteratur BearbeitenPaul Hindemith Unterweisung im Tonsatz Theoretischer Teil B Schotts Sohne Mainz 1940 Siglind Bruhn Ludus tonalis fur Klavier In Hindemiths grosse Instrumentalwerke Hindemith Trilogie Band 3 Edition Gorz Waldkirch 2012 ISBN 978 3 938095 15 7 S 46 56 Heinrich Strobel Paul Hindemith B Schotts Sohne Mainz 1948 Debra Torok Paul Hindemith s Ludus Tonalis Harmonic Fluctuation Analysis and Its Performance Implications UMI Ann Arbor 1993 Zugleich Philosophische Dissertation New York University 1993 Anmerkungen Bearbeiten Hindemith verwendet die Schreibweise Praeludium nicht Praludium Es gibt auch noch eine Reihe 2 welche sich auf den in absteigender Reihenfolge angeordneten Konsonanzgrad bzw Klangwert der Intervalle bezieht und fur Hindemiths Akkordlehre von grosser Wichtigkeit im vorliegenden Zusammenhang jedoch eher von sekundarer Bedeutung ist Naturlich konnte die Herleitung auch von jedem beliebigen anderen Grundton ausgehen und wurde dann eine entsprechend transponierte Variante der Reihe ergeben Das analytische Verfahren das Hindemith hier anwendet basiert vor allem auf den Erkenntnissen die sich aus der Reihe 2 ergeben Insbesondere die Tatsache dass Intervalle und Akkorde physikalisch nachweisbare Grundtone haben spielt hier eine Rolle Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Ludus tonalis amp oldid 236469131