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Konsensuale Herrschaft bezeichnet in der Geschichtswissenschaft das Zusammenwirken von Konig und Fursten als ein wesentliches Merkmal mittelalterlicher Herrschaft Im 19 Jahrhundert ging die Forschung noch von einem Gegensatz von Konig und Fursten aus Die nationalliberalen Historiker konzentrierten sich auf den Anteil der Fursten am Niedergang der Konigsgewalt In der jungeren Forschung wird die Teilhabe der Fursten an der Konigsherrschaft als zum selbstverstandlich praktizierten konsensualen Entscheidungsgefuge gehorend betrachtet 1 Konigliches Handeln war auf die Zustimmung der betroffenen Grossen ausgerichtet In mundlich personlichen Beratungen oft genug vorbereitet durch vertrauliche Vorerklarungen wurde die konsensuale Bindung von Herrschaft hergestellt 2 Versammlungen und Beratungen zur Herstellung von Konsens avancierten dadurch zu einem wichtigen mediavistischen Untersuchungsgegenstand 3 Bei der Konsensherstellung und Beratung war die Bitte eine haufig eingesetzte Verhaltensform 4 Hinter der Bitte stand eine massive Forderung die praktisch den Konsens erzwang Der Zwang wurde jedoch durch dieses Mittel verschleiert Angesichts der Bedeutung von Ehre und Prestige gab die Bitte dem Gebetenen die Moglichkeit des grosszugigen Gewahrens 5 Durch Rituale wurde konsensuale Herrschaft offentlich in Szene gesetzt 6 Dadurch waren alle Teilnehmer starker an die Konsensentscheidung gebunden da ihr Prestige von der Einhaltung des offentlich Bekundeten abhing 7 Diese Herrschaftspraxis wurde von Bernd Schneidmuller als konsensuale Herrschaft bezeichnet 8 Steffen Patzold erweiterte das Konzept der konsensualen Herrschaft um den Faktor der Konkurrenz der Grossen um den Zugang zum Kreis der tonangebenden Ratgeber des Konigs 9 Die konsensuale Herrschaftspraxis verlangte nicht den Konsens mit allen Grossen sondern mit jenen die angesichts ihres Rangs und ihrer Prasenz am Hof tonangebend waren Die Grossen die sich besonders zuruckgesetzt fuhlten bestanden nachdrucklich auf consensus und consilium 10 Konsensuale Herrschaft umfasst alle Einflussmoglichkeiten uber Intrige und Manipulation Begunstigung und Vorteilsnahme und ist nicht mit steter Harmonie gleichzusetzen 11 Der Konsens konnte regelrecht erzwungen werden auch mit Gewalt 12 Durch die Beratung mit den geistlichen und weltlichen Grossen wurde das politische Gewicht von Adel und Kirche gestarkt 13 Im 10 und 11 Jahrhundert ubernahmen in Notsituationen in denen etwa die Herrschaft gefahrdet war offentliche Beratungen eine wichtige Funktion fur die konsensuale Herrschaftsordnung Dadurch wurde aber auch vom Veroffentlichen der im Geheimen gefassten Beschlusse durch symbolische Kommunikation abgewichen 14 Im 10 Jahrhundert verstarkte sich deutlich die Verpflichtung des Konigs im Konsens mit seinen Getreuen zu entscheiden 15 Im 11 Jahrhundert geriet die Herrschaft Heinrichs IV vor allem deshalb in eine Krise weil er anstehende Probleme mit den falschen Leuten beraten habe Aus den Fehlern seines Vaters schien Heinrich V zunachst gelernt zu haben da er uber mehrere Jahre im Konsens mit den Grossen herrschte Nach seiner Kaiserkronung 1111 wandte er sich aber von einer gemeinsamen Herrschaft mit den Fursten ab und ging zu fruheren autokratischen Herrschaftsformen der Salier uber 16 Nach Amalie Fossel liegt im Konsens der Grossen des Reiches wohl letztlich die eigentliche Legitimation fur Regentschaften wie fur jegliche Herrschaft im mittelalterlichen Reich begrundet 17 Bereits 1979 hat Jurgen Hannig in einer Untersuchung uber die merowingisch karolingische Zeit gezeigt dass Herrschaft uber Freie seit dem 9 Jahrhundert nicht ohne die Herstellung von Konsens zwischen Herrschenden und Beherrschten moglich war 18 Hannig sah aber die Einbindung der Grossen in die Herrschaft des Konigs weniger als ein allgemeines Merkmal von mittelalterlicher Konigsherrschaft an sondern als Ausdruck der Herrschaftsideologie in der Karolingerzeit Die Ausfuhrungen von Bernd Schneidmuller zur konsensualen Herrschaft wurden von der Mittelalterforschung vielfach aufgegriffen 19 Stefan Weinfurter erganzte Schneidmullers Ausfuhrungen fur die Zeit seit dem 11 Jahrhundert um die Idee der Gesamtheit des Reiches Der Konig sollte nicht der Herrscher der einzelnen singulorum sondern der Herrscher der Gesamtheit rex universorum sein Die Fursten verstanden sich zusammen mit dem Konig als universitas der gemeinschaftlich fur das Reich Verantwortlichen 20 Mittelalterliche Herrschaft war somit weniger Befehl und Gehorsam sondern basierte vorrangig auf Konsensherstellung in Beratungen Die Einsicht in konsensuale Herrschaftsformen im Mittelalter gilt in der Mediavistik als eine der wichtigsten Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte Literatur BearbeitenThomas Ertl Konsensuale Herrschaft als interkulturelles Konzept In Matthias Becher Stephan Conermann Linda Dohmen Hrsg Macht und Herrschaft transkulturell Vormoderne Konfigurationen und Perspektiven der Forschung Macht und Herrschaft Bd 1 V amp R unipress Gottingen 2018 ISBN 978 3 8471 0881 8 S 123 143 Bernd Schneidmuller Konsensuale Herrschaft Ein Essay uber Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter In Paul Joachim Heinig Sigrid Jahns Hans Joachim Schmidt Rainer Christoph Schwinges Sabine Wefers Hrsg Reich Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit Festschrift fur Peter Moraw Historische Forschungen Bd 67 Duncker amp Humblot Berlin 2000 S 53 87 online Verena Epp Christoph H F Meyer Recht und Konsens im fruhen Mittelalter Vortrage und Forschungen Bd 82 Thorbecke Ostfildern 2017 ISBN 978 3 7995 6882 1 online Anmerkungen Bearbeiten Bernd Schneidmuller Konsensuale Herrschaft Ein Essay uber Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter In Paul Joachim Heinig Sigrid Jahns Hans Joachim Schmidt Rainer Christoph Schwinges Sabine Wefers Hrsg Reich Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit Festschrift fur Peter Moraw Berlin 2000 S 53 87 hier S 75 online Grundlegend Gerd Althoff Colloquium familiare colloquium secretum colloquium publicum Beratung im politischen Leben des fruheren Mittelalters In Fruhmittelalterliche Studien Bd 24 1990 S 145 167 Vgl dazu umfassend nun Gerd Althoff Kontrolle der Macht Formen und Regeln politischer Beratung im Mittelalter Darmstadt 2016 Vgl dazu Claudia Garnier Die Kultur der Bitte Herrschaft und Kommunikation im mittelalterlichen Reich Darmstadt 2008 Gerd Althoff Kontrolle der Macht Formen und Regeln politischer Beratung im Mittelalter Darmstadt 2016 S 26 Hagen Keller Ritual Symbolik und Visualisierung in der Kultur des ottonischen Reiches In Fruhmittelalterliche Studien Bd 35 2001 S 23 59 hier S 57 Das Zitat Gerd Althoff Colloquium familiare colloquium secretum colloquium publicum Beratung im politischen Leben des Fruhmittelalters In Fruhmittelalterliche Studien Bd 24 1990 S 145 167 hier 146 Vgl ausserdem Sarah Thieme So moge alles Volk wissen Funktionen offentlicher Beratung im 10 und 11 Jahrhundert In Fruhmittelalterliche Studien Bd 46 2012 S 157 189 hier S 161 Bernd Schneidmuller Konsensuale Herrschaft Ein Essay uber Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter In Paul Joachim Heinig Hrsg Reich Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit Festschrift fur Peter Moraw Berlin 2000 S 53 87 Steffen Patzold Konsens und Konkurrenz Uberlegungen zu einem aktuellen Forschungskonzept der Mediavistik In Fruhmittelalterliche Studien Bd 41 2007 S 75 103 hier S 78 Steffen Patzold Konsens und Konkurrenz Uberlegungen zu einem aktuellen Forschungskonzept der Mediavistik In Fruhmittelalterliche Studien Bd 41 2007 S 75 103 hier S 88 Gerd Althoff Funktionsweisen der Konigsherrschaft im Hochmittelalter In Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Jg 63 2012 H 9 10 S 536 550 hier S 544 Roman Deutinger Konigsherrschaft im Ostfrankischen Reich Eine pragmatische Verfassungsgeschichte der spaten Karolingerzeit Ostfildern 2006 S 254ff Gerd Althoff Hagen Keller Spatantike bis zum Ende des Mittelalters Die Zeit der spaten Karolinger und der Ottonen Krisen und Konsolidierungen 888 1024 Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte 10 vollig neu bearbeitete Auflage Stuttgart 2008 S 348 353 Vgl dazu Sarah Thieme So moge alles Volk wissen Funktionen offentlicher Beratung im 10 und 11 Jahrhundert In Fruhmittelalterliche Studien Bd 46 2012 S 157 189 Gerd Althoff Hagen Keller Spatantike bis zum Ende des Mittelalters Die Zeit der spaten Karolinger und der Ottonen Krisen und Konsolidierungen 888 1024 Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte 10 vollig neu bearbeitete Auflage Stuttgart 2008 S 354 Gerd Althoff Das ottonische Reich als regnum Francorum In Joachim Ehlers Hrsg Deutschland und der Westen Europas im Mittelalter Stuttgart 2002 S 235 261 Jurgen Dendorfer Heinrich V Konige und Grosse am Ende der Salierzeit In Tilman Struve Hrsg Die Salier das Reich und der Niederrhein Wien 2008 S 115 170 Amalie Fossel Die Konigin im mittelalterlichen Reich Herrschaftsausubung Herrschaftsrechte Handlungsspielraume Stuttgart 2000 S 331 Digitalisat Jurgen Hannig Consensus fidelium Fruhfeudale Interpretationen des Verhaltnisses von Konigtum und Adel am Beispiel des Frankenreiches Stuttgart 1982 Fur die Karolingerzeit vgl Roman Deutinger Konigsherrschaft im Ostfrankischen Reich Eine pragmatische Verfassungsgeschichte der spaten Karolingerzeit Ostfildern 2006 S 225 272 zum Hochmittelalter Jutta Schlick Konig Fursten und Reich 1056 1159 Herrschaftsverstandnis im Wandel Stuttgart 2001 Digitalisat Monika Suchan Furstliche Opposition gegen das Konigtum im 11 und 12 Jahrhundert als Gestalterin mittelalterlicher Staatlichkeit In Fruhmittelalterliche Studien Bd 37 2003 S 141 165 Jurgen Dendorfer Fidi milites Die Staufer und Kaiser Heinrich V In Hubertus Seibert Jurgen Dendorfer Hrsg Grafen Herzoge Konige Der Aufstieg der fruhen Staufer und das Reich Ostfildern 2005 S 213 265 Jurgen Dendorfer Autoritat auf Gegenseitigkeit Furstliche Partizipation im Reich des 13 Jahrhunderts In Hubertus Seibert Werner Bomm Verena Turck Hrsg Autoritat und Akzeptanz Das Reich im Europa des 13 Jahrhunderts Ostfildern 2013 S 27 41 Stefan Weinfurter Das Reich im Mittelalter Kleine deutsche Geschichte von 500 bis 1500 Munchen 2008 S 99 f Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Konsensuale Herrschaft amp oldid 235164651