www.wikidata.de-de.nina.az
Als Industriedorf werden in der geschichtswissenschaftlichen Forschung Ortschaften bezeichnet die aufgrund eines erhohten und beschleunigten Wachstums Urbanisierung wahrend des Industrialisierungsprozesses einen rasanten soziokulturellen und soziookonomischen Wandel durchlaufen haben und noch wenige Jahrzehnte zuvor eine uber Jahrhunderte andauernde Existenz als reine Bauerndorfer vorweisen konnten Es handelt sich um ein Phanomen des 19 und fruhen 20 Jahrhunderts Inhaltsverzeichnis 1 Charakter 2 Rezeption 3 Beispiele 4 Weblinks 5 Siehe auch 6 Literatur 7 EinzelnachweiseCharakter BearbeitenIndustriedorfer entstanden bereits wahrend der okonomischen Verdichtung europaischer Regionen der Fruh und Protoindustrialisierung beispielsweise in Sachsen Oberschlesien an Rhein und Ruhr im Bergischen Land oder im deutschen Sudwesten aber auch in England und Wales in Flandern und Brabant Sie waren gekennzeichnet durch eine Erfassung grosser Bevolkerungsanteile durch eine bestimmte Produktionsart eines bestimmten Massen und Verbrauchsprodukts wie etwa im Verlagssystem der Weber der Spinner und Garnhersteller des Metall verarbeitenden Gewerbes oder des Bergbaus Entscheidend waren die Vergangenheiten und historischen Ausgangslagen der jeweiligen Produktionsorte die nur ein oder zwei Generationen zuvor ausschliesslich oder uberwiegend durch Agrarproduktion fur den lokalen oder regionalen Abnehmermarkt bestimmt waren deren Bewohner nun aber uberwiegend fur einen uberregionalen Markt in industrieller oder protoindustrieller Weise massenhaft produzierten Die demografische Entwicklung verlief parallel durch Binnenzuwanderung oder Immigration explosionsartig von einigen Hundert Einwohnern steigerten sich die Einwohnerzahlen auf mehrere 10 000 Menschen Hinzu kamen die notigen Anbindungen an die Infrastruktur Eisenbahn Hafen Fernstrassen das Investment beteiligter Konsortien oder Aktiengesellschaften sowie der Ausbau der Produktionsmittel Dieser Gesamtprozess ist nur teilweise als erfolgreiche Modernisierung oder Urbanisierung zu bezeichnen da konventionelle urbane Strukturen sich nur verlangsamt oder gar nicht herausbildeten und soziale Spannungen kaum ausblieben Charakteristisch ist auch das langlebige Nebeneinander von Industrieproduktion Emissionen Larm Verkehr und Hektik einerseits und dorflicher Atmosphare alter Bausubstanz der Ortskerne und Resten einer vormodernen Gemutlichkeit andererseits Detlef Vonde definiert das Industriedorf mit folgenden Merkmalen Qualitativ druckte sich der Urbanisierungsprozess dort wo wahllos Arbeitskrafte und Produktionsanlagen zusammengezogen worden waren aus durch fragmentarische Infrastruktur chronische Unterversorgung der Bevolkerung okologische Verwustung urbane Defizite 1 Fur diese Definition ist es nicht relevant ob die Industriedorfer zuvor Stadtrechte hatten oder nicht Entscheidend ist der ehemals landlich agrarische Charakter des Ortes der durch den Urbanisierungsprozess verschwand oder vollstandig marginalisiert wurde Vonde schreibt weiter die Riesendorfer an der Emscher wie Altenessen Borbeck Bottrop Hamborn Meiderich Osterfeld Schalke Sterkrade Wanne oder Eickel um nur die bekannteren zu nennen seien zu stadtahnlichen Gebilden aufgeblahte Zusammenballungen von industriellen Werken Gemengelagen aus Arbeitersiedlungen Halden Brachen Schienenwegen mit mehr oder weniger provisorischen Bahnhofen und ungepflasterten Verkehrswegen geworden Die ehemaligen agrarischen Ortschaften zeichneten sich aus durch historisch geringe Bedeutung keine reichsstadtische oder landesherrlich herausragende Stellung keine uberregionale Zentralinstanz der vormodernen Grundherrschaft kein Verwaltungszentrum geringe Einwohnerzahl mit traditionaler Sozialstruktur relativ homogene Einwohnerstruktur kaum Migration Hauptwirtschaftliche Zweige Land und Forstwirtschaft Gewerbe fur den Eigenbedarf geringe okonomische Innovationsfahigkeit traditionaler Dorfaufbau Streusiedlung o a traditionale Architektur und Wohnkultur fehlende oder defizitare Anbindung an Verkehrswege oder Infrastruktur fehlende Urbanitat oder stadtische Kultur Die neuen Industriedorfer hingegen waren umfassend industrialisiert es wurden Guter fur uberregionale Markte produziert waren an Eisenbahnstrecken angebunden wurden in wirtschaftlicher Hinsicht uberregional bedeutend waren durch rasanten Bevolkerungszuwachs gekennzeichnet waren zersiedelt oder durch neue architektonische Formen gepragt Arbeitersiedlung Fabriken hatten eine heterogene und durch Arbeitsmigration gepragte Einwohnerschaft mit neuen Sozialmilieus Arbeiterbewegung Rezeption BearbeitenOrtsansassige burgerliche Geschichts Traditions und Heimatvereine haben die Existenz der Industriedorfer lange verleugnet und sich einzig auf die Uberlieferung zur alten agrarischen Dorfkultur konzentriert Schlote Forderturme oder Fabriken wurden beispielsweise aus Fotografien herausretuschiert da man sich damit schwer tat die sozialen und okonomischen Realitaten mit dem eigenen Heimat und Geschichtsbild zu vereinen Die ehemals dorfliche Volkskultur und die modernen Technologien passten scheinbar nicht zusammen 2 Erst die neuere Geschichtsbewegung Geschichte von unten der 1980er Jahre hat die Entwicklung zum Industriedorf thematisiert neue Fragestellungen an die Lokalgeschichte entwickelt und hierzu Themenbereiche wie Zeitzeugenerinnerungen Arbeit Alltagspraxis Arbeiterbewegung soziale und konfessionelle Milieus Faschismus Fest und Wohnkultur usw erschlossen Seit den 1990er Jahren haben Ausstellungen Fahrrad Routen zur Industriekultur Fachpublikationen und Fernsehbeitrage die Geschichte der Industriedorfer offentlichkeitswirksam dargestellt Wenn der rote Grossvater erzahlt 3 Beispiele BearbeitenEssen Rheinprovinz Ruhrgebiet hatte um 1840 etwa 6 000 zur Zeit der Reichsgrundung bereits mehr als 50 000 und 1907 schon 250 000 Einwohner Bis ins 19 Jahrhundert eher dorflich kleinstadtisch gepragt vor allem in den spater eingemeindeten Stadtteilen begann die Einwohnerschaft Essens durch starke Zuzuge im Verlauf der industriellen Entwicklung im Ruhrgebiet explosionsartig anzuwachsen Die Fabriken der Werke Krupp die Kohleminen und Kokereien benotigten Zehntausende Arbeitskrafte Die schon vor der Industrialisierung bedeutende Stadt Essen selbst gilt nicht als eigentliches Industriedorf wohl aber die zahlreichen Essener Stadtteile wie etwa Borbeck Steele oder Kray Ahnliches gilt fur Hamborn seit 1929 zu Duisburg gehorig Auch hier waren die einzelnen Stadtteile Industriedorfer die zusammen seit 1900 die Burgermeisterei Hamborn bildeten und deren Einwohnerzahlen sich von 2 710 1871 auf uber 110 000 1919 steigerten Die Orte aus denen sich Hamborn um 1900 zusammen setzte waren nur eine Generation zuvor reine Bauerndorfer gewesen Moers Niederrhein Der Beginn des 20 Jahrhunderts stand in Moers ganz im Zeichen des Bergbaus Lebten im Jahr 1900 noch 6 000 Menschen in der Stadt und weitere 6 000 in der Landburgermeisterei so vervielfachten sich die Zahlen in den folgenden Jahren Von 1904 bis 1913 wurde fur rund 10 000 Zuwanderer die Zechen und Arbeitersiedlung Meerbeck Hochstrass errichtet die heute nach einer umfangreichen Sanierung noch eine gesuchte Wohngegend ist Bocholt Provinz Westfalen hatte die Einwohnerzahlen von 4 000 1830 auf 21 278 1900 gesteigert Die Industrialisierung die in Bocholt 1852 mit der Aufstellung der ersten Dampfmaschine fur eine Spinnerei begann brachte vor allem ab 1871 einen kraftigen Wirtschaftsaufschwung Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden mindestens 114 Textilfirmen gegrundet Mit dem Aufstieg der Textilindustrie waren verbunden ein ebenso kraftiger Bevolkerungsanstieg Laichingen Wurttemberg ein seit dem 17 Jahrhundert zentraler Ort der Leineweberei von der grosse Bevolkerungsteile lebten 4 Lintorf Mossingen Schwabische Alb bekannt durch den Mossinger Generalstreik von 1933 Wallbach Bad Sackingen Bohrigen Landkreis Mittelsachsen hatte 1834 nur 93 Einwohner 1871 waren es uber 1 000 die zu erheblichen Teilen im Bergbau beschaftigt waren 5 Bytom deutsch Beuthen in Oberschlesien wo insbesondere seit dem Ende des 19 Jahrhunderts Bergbau Steinkohle Zink und Bleierzvorkommen betrieben wurde Hagen sudostliches Ruhrgebiet hatte als Kleinstadt 1804 erst 2 050 Einwohner 1900 waren es bereits mehr als 50 000 Sie wurde 1848 an das Netz der Bergisch Markischen Eisenbahngesellschaft angeschlossen und entwickelte sich zu einem wichtigen Eisenbahnknotenpunkt mit Hochofen und Stahlwerksanlagen Salzgitter Schwenningen Eisenhuttenstadt Wylam England Northumberland Weblinks BearbeitenBeitrag des SWR uber Eisenbach im Schwarzwald Beitrag uber Marienthal in Osterreich Beitrag uber den Raum um Stuttgart PDF 139 kB Siehe auch BearbeitenIndustrialisierung Urbanisierung Stadtgeschichte ArbeitersiedlungLiteratur BearbeitenWilhelm Brepohl Industrievolk im Wandel von der agraren zur industriellen Daseinsform dargestellt am Ruhrgebiet Soziale Forschung und Praxis 18 ISSN 0340 7217 Mohr Tubingen 1957 Flurin Condrau Die Industrialisierung in Deutschland Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2005 ISBN 3 534 15008 2 Helmuth Croon Die Einwirkungen der Industrialisierung auf die gesellschaftliche Schichtung der Bevolkerung im rheinisch westfalischen Industriegebiet In Rheinische Vierteljahrsblatter Bd 20 1955 S 301 316 Heinz Heineberg Grundriss Allgemeine Geographie Stadtgeographie UTB 2166 Schoningh Paderborn u a 2000 ISBN 3 8252 2166 0 Jurgen Reulecke Das Ruhrgebiet als stadtischer Lebensraum In Wolfgang Kollmann Hermann Korte Dietmar Petzina Wolfhard Weber Hrsg Das Ruhrgebiet im Industriezeitalter Geschichte und Entwicklung Band 1 Schwann im Patmos Verlag Dusseldorf 1990 ISBN 3 491 33206 0 S 67 120 Richard H Tilly Industrialisierung als historischer Prozess In Europaische Geschichte Online Institut fur Europaische Geschichte Mainz 2010 Zugriff am 30 Dezember 2016 Detlef Vonde Revier der grossen Dorfer Industrialisierung und Stadtentwicklung im Ruhrgebiet Klartext Verlag Essen 1989 ISBN 3 88474 123 3 Zugleich Hagen Fernuniversitat Dissertation 1987 Verhinderte Stadte Urbanisierung und Politik in den Industriedorfern des Ruhrgebiets 1870 1918 Detlef Vonde Von unformigen Giganten und barbarischen Steinhaufen Industriedorfer und die Unfahigkeit zur Stadtentwicklung im Ruhrgebiet Auf Portal Rheinische Geschichte Zugriff am 30 Dezember 2016 Einzelnachweise Bearbeiten Detlef Vonde Von unformigen Giganten und barbarischen Steinhaufen Industriedorfer und die Unfahigkeit zur Stadtentwicklung im Ruhrgebiet Auf Portal Rheinische Geschichte Zugriff am 30 Dezember 2016 Hermann Bausinger Volkskultur in der technischen Welt Kohlhammer Stuttgart 1961 Wenn der rote Grossvater von fruher erzahlt In NRZ vom 9 September 2008 Hans Medick Weben und Uberleben in Laichingen 1650 1900 Lokalgeschichte als allgemeine Geschichte Veroffentlichungen des Max Planck Instituts fur Geschichte Bd 126 Vandenhoeck amp Ruprecht Gottingen 1996 ISBN 3 525 35443 6 Zugleich Gottingen Universitat Habilitations Schrift 1992 1993 Eberhard Keil Lehmanns Dorf 1830 1869 Eine Industrie Geschichte aus Hainichen und Bohrigen bei Rosswein im Konigreich Sachsen Historische Reihe 4 BIK Keil Marbach a N 2001 ISBN 3 934136 03 6 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Industriedorf amp oldid 236868465