Die Glosa (koine-griech. γλώσσα: Sprache, Zunge; span. la glosa: die Glosse, Randbemerkung) ist ein künstlerisches Konstruktionsschema, bei dem das jeweilige Ausgangsmaterial (Text, Melodie) wiederverwendet und kommentiert wird. Im Spanischen heißt der Verfasser einer Glosa glosador. In der deutschen Dichtung wird die Glosa auch Glosse genannt.
Herkunft und Grundgedanke
Zum einen ist die Glosa eine Gedichtform, deren Grundform in der spanischen Hofdichtung des späten 14. Jahrhunderts aufkam und bis ins 18. Jahrhundert weitergeführt wurde. Sie ist mit den Cantiga de amigo verwandt. Ihr Konstruktionschema wurde aber, ausgehend von Spanien und inspiriert von der Lyrik, seit dem 16. Jahrhundert auch in Musikwerken angewendet – und dabei ebenfalls Glosa genannt.
Der zentrale Gedanke der Glosa ist es, sich im Schaffensprozess mit den formalen und inhaltlichen Vorgaben anderer Künstler auseinanderzusetzen. Dabei geht es um die systematische Wiederverwendung und Erweiterung des Ausgangsmaterials. Dies wird im Sinne einer Hommage oder einer konstruktiven Aneignung bzw. kreativen Verarbeitung verstanden. Schon deshalb ist bis heute üblich, dass der Urheber des Ausgangsmaterials genannt wird.
Die Glosa fand vereinzelt auch in andere Sprachräume Eingang, etwa in den Angelsächsischen, Portugiesischen und Rumänischen. In den deutschen Staaten wurde die Gedichtform durch die Theoretiker der Frühromantik August Wilhelm und Friedrich Schlegel bekannt gemacht. Sie sahen darin eine „besonders passende Ausdrucksform ihrer Kunstintention“,:62 weil das Ausgangsgedicht durch den Kommentar potenziert wurde. Die Dichter der Romantik verwendeten die Glosse aber auch mit parodistischer Absicht. Moderne Dichter wie Fernando Pessoa setzten die Glosa ein, um etwa die romantische Idee der Originalität zu problematisieren.:13 In freien Formen ist die Glosa in der Postmoderne weiterhin im Gebrauch.
Aufbau der lyrischen Glosa
In ihrer Grundform war die spanische Glosa aus einer vierzeiligen Eingangsstrophe (span. la cabeza: Kopf) und vier Glossenstrophen (Glosse) aufgebaut:
- Der Text der Eingangsstrophe (auch Motto) wurde üblicherweise von einem anderen Dichter übernommen, etwa eine Quartine oder auch eine Strophe aus längeren Gedichten. In der spanischen Dichtung des 16. und 17. Jahrhunderts handelte es sich bei der Eingangsstrophe meist um eine Redondilla mayor. Die Eingangsstrophe setzte das Thema der Glosa und gab einen Teil der folgenden Reime sowie die Metrik vor.
- Jede Glossenstrophe bestand aus achtsilbigen Dezimen. Die letzte Zeile der Glossenstrophe war jeweils eine unverändert übernommene Zeile aus der Eingangsstrophe. Je nach Reimschema bezogen sich zwei oder mehrere Endreime der Glossenstrophe auf die einmontierte zehnte Zeile, etwa:
Bei der englischen Variante der Glosa war der jambische Pentameter üblich. Die Endreime der sechsten und neunten Zeile bezogen sich auf die einmontierte zehnte Zeile, z. B.:
[ABCD xxxxxaxxaA xxxxxbxxbB xxxxxcxxcC xxxxxdxxdD].
In einer Doppelglosa tauchten die Cabezazeile zweimal in den Glossenstrophen auf, z. B. [xxxxAaxxaA].
Beispieltexte
Im zweiten Teil von Miguel de Cervantes Roman Don Quijote trägt Don Lorenzo eine Glosa zu einer Quartine des Dichters Gregorio Silvestre Rodríguez de Mesa (1520–1569) vor; hier in deutscher Übertragung von Ludwig Tieck:
Über ein Motto Ludwig Tiecks sind in der Romantik mindestens sieben Glossen verschiedener Dichter entstanden, u. a. von August Wilhelm Schlegel und August von Platen-Hallermünde. Hier exemplarisch Der Rezensent von Ludwig Uhland:
Glosadores in der Dichtung (Auswahl)
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Literatur
- „Die Glosse“, in: Georg Friedrich Heinisch und J. L. Ludwig, Die Sprache Der Prosa, Poesie Und Beredsamkeit Theoretisch Erläutert, Und Mit Viele Beispielen Aus Den Schriften Der Besten Deutschen Klassiker Versehen: Ein Sprach- und Lesebuch für Höhere Lehranstalten Und Familien. Verlag der Buchner’schen Buchhandlung, 1852, S. 522–524.
- Hans Janner: „La glosa española. Estudio historica de su métrica y de sus temas“, in: Revista de Filologia Española 27 (1943).
- Hartmut Steinecke: „Die Schreibarten der Liebe. Poesie- und Liebesdiskurs in Hoffmanns Kater Murr“, in: Unterhaltsamkeit und Artistik: Neue Schreibarten in der deutschen Literatur von Hoffmann bis Heine. Erich Schmidt Verlag, 1998 ISBN 978-3503037957 S. 59–74.
- Jean Rahier: „Creativity, Spirituality, and Identity“, in: Isidore Okpewho et al. (Hrsg.), The African Diaspora: African Origins and New World Identities. Indiana University Press, 2001 ISBN 978-0253214942 S. 302–310.
- Darlene Joy Sadlier: „Old becomes New: The ‚Mote e Glosa‘“, in: An Introduction to Fernando Pessoa: Modernism and the Paradoxes of Authorship. University Press of Florida, 2009 ISBN 978-0813034492 S. 10–14.
Weblinks
- Deborah Bowen, How to honour dead poets: P.K. Page and the glosa form (2010) auf: cardus.ca, abgerufen am 18. September 2015 (englisch).
- James Harbeck, glosa (2012), auf: sesquiotic.wordpress.com, abgerufen am 18. September 2015 (englisch).
Siehe auch
Einzelnachweise
- „von den Lexikographen geliehen (...) bedeutete Glosa ursprünglich ‘aufklären, definieren, ein Wort oder eine Passage zu kommentieren’.“ John Milton Ward, The Vihuela de Mono and its Music (1536–1576). Unveröffentlichte Dissertation, New York University, 1953 S. 53.
- ↑ D. C. Clarke, "Glosa", in: Roland Greene et al. (Hrsg.), The Princeton Encyclopedia of Poetry and Poetics Princeton University Press, 2012 ISBN 9780691154916 S. 572.
- Deborah Lawrence, "Mudarra's Instrumental Glosas: Imitation and Homage in a Spanish Style", in: David Crawford und George Grayson Wagstaff (Hrsg.) Encomium Musicae: A Festschrift in Honor of Robert J. Snow. Pendragon Press, 2006 ISBN 978-0945193838 S. 305–319.
- ↑ Glosa or Retruécano, Cabeza, Mote, Text. Double Glosa (2. Juni 2009) auf: poetrymagnumopus.com, abgerufen am 18. September 2015 (englisch).
- Hartmut Steinecke, "Die Schreibarten der Liebe. Poesie- und Liebesdiskurs in Hoffmanns Kater Murr", in: Unterhaltsamkeit und Artistik: Neue Schreibarten in der deutschen Literatur von Hoffmann bis Heine. Erich Schmidt Verlag, 1998 ISBN 978-3503037957.
- Darlene Joy Sadlier, "Old becomes New: The “Mote e Glosa”", in: An Introduction to Fernando Pessoa: Modernism and the Paradoxes of Authorship. University Press of Florida, 2009 ISBN 978-0813034492 S. 10–14.
- Miguel de Cervantes, Don Quijote de la Mancha II (Edición del Instituto Cervantes, 1998) auf: cvc.cervantes.es, abgerufen am 18. September 2015 (spanisch).
- Miguel de Cervantes Saavedra, Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha. Berlin 1966.
- "§ 71 Die Glosse", in: A. Knüttell, Die Dichtkunst und ihre Gattungen. F. E. C. Leuckart Verlag, 1863 S. 327–328.