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Der Begriff Genidentitat wurde 1922 von Kurt Lewin in seiner Habilitationsschrift Der Begriff der Genese in Physik Biologie und Entwicklungsgeschichte gepragt und ist heute vermutlich das letzte Indiz fur Lewins Einfluss auf die philosophische Wissenschaftstheorie Der ursprungliche Begriff wurde jedoch kaum analysiert sondern von Philosophen wie Rudolf Carnap Hans Hermes und Hans Reichenbach aus seinem Kontext extrahiert und in die jeweils eigenen Theorien ubernommen wie z B Reichenbachs Theorie zur Topologie der Raum Zeit oder Hermes Axiomatisierung der Mechanik Lewins Ursprungsidee war den Begriff Genidentitat innerhalb der verschiedenen Wissenschaften zu vergleichen um mit seiner Hilfe die charakteristische Struktur dieser Wissenschaften aufzudecken und sie somit neu zu klassifizieren Klassifizierung der Naturwissenschaften BearbeitenIn seiner Habilitationsschrift vergleicht Lewin Physik zu der er auch die Chemie zahlt und Biologie die er in organische Biologie und Entwicklungsgeschichte einteilt Ein Vergleich dieser Art setzt voraus dass es moglich sei aquivalente Begriffe in beiden Wissenschaften zu finden Lewin zufolge erfullt der Begriff der Genidentitat diese Voraussetzung Lewin definiert Genidentitat als Existentialbeziehung die der Genese eines Korpers von einem Moment zum nachsten zugrunde liegt Dieser Interpretation gemass besteht das was wir fur gewohnlich fur einen einzigen Gegenstand halten in Wirklichkeit aus einer Vielzahl von Entitaten gleichsam den Phasen eines Objektes zu verschiedenen Zeitpunkten Zwei Dinge sind daher nicht identisch weil sie dieselben Eigenschaften gemeinsam haben sondern weil eines aus dem anderen hervorgegangen ist Dabei unterscheidet Lewin zwischen partieller und totaler Genidentitat im originalen Wortlaut teilweise bzw restlos Dies ist bedingt durch die konzeptuelle Schwierigkeit die geteilte Gegenstande aufwerfen Zum Beispiel kann ein Gegenstand im Verlauf seiner Entwicklung in mehrere Teile zerfallen Wenn wir einem solchen Objekt in der Zeit folgen kann u U nur ein geringer Teil von diesem ubrigbleiben Lewin formuliert dass zwei Objekte die zu verschiedenen Zeitpunkten existieren partiell genidentisch sind wenn zumindest ein Teil des letzteren Objektes schon im fruheren enthalten war Im Gegensatz dazu sind zwei Objekte genau dann total genidentisch wenn es zu keinem beliebigen Zeitpunkt ein von beiden Gegenstanden verschiedenes Objekt gibt das mit einem der betroffenen Gegenstande partiell genidentisch ist Daruber hinaus entwickelt Lewin die Idee physikalische Korper als Glieder einer Entwicklungskette zu betrachten Diesem Ansatz zufolge gibt es zwischen zwei total genidentischen Korpern zu jedem beliebigen dazwischenliegenden Zeitpunkt ein Objekt das mit beiden total genidentisch ist Somit impliziert Genidentitat die Existenz einer unendlichen Reihe von dazwischenliegenden Punkten Hierin sieht Lewin eine Analogie zwischen physikalischen Korpern und reellen Zahlen bzw den sogenannten Dedekindschen Schnitten nach Richard Dedekind benannte Konstruktionsmethode die reellen Zahlen als Dedekindsche Schnitte rationaler Zahlen darzustellen Genidentitat verfugt so definiert uber verschiedene Eigenschaften wie z B Symmetrie Transitivitat Dichtigkeit und Stetigkeit Wird dies im Licht moderner logischer Standards betrachtet so wird schnell klar dass Lewin die richtige Intuition aufwies obwohl ihm noch nicht die Vorteile einer hochentwickelten Terminologie von Definitionstheorie und symbolischer Logik zur Verfugung standen Der Begriff Genidentitat als solcher wurde in den experimentellen Wissenschaften nicht explizit diskutiert sondern bildete vielmehr eine stillschweigend vorausgesetzte Hintergrundannahme Lewin ist es zu verdanken dass dieser Begriff zum ersten Mal genauer untersucht wurde was in Anbetracht seiner weitaus bekannteren Leistungen im Bereich Gestaltpsychologie mittlerweile in Vergessenheit geriet Literatur BearbeitenKurt Lewin Der Begriff der Genese in Physik Biologie und Entwicklungsgeschichte Original 1922 abgedruckt in Kurt Lewin Werkausgabe herausgegeben von Carl Friedrich Graumann Band 2 Wissenschaftstheorie II herausgegeben von Alexandre Metraux Bern und Stuttgart 1983 S 47 304 ISBN 3 12 935120 5 Martin Becker Zum Begriff der Genidentitat Eine Untersuchung der Wissenschaftstheoretischen Schriften von Kurt Lewin Magisterarbeit eingereicht an der Johann Wolfgang Goethe Universitat Frankfurt am Main Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften 1998 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Genidentitat amp oldid 199097250