www.wikidata.de-de.nina.az
Das Erfundene Mittelalter auch Phantomzeit Theorie oder Phantomzeit These ist eine pseudohistorische Verschworungstheorie gemass der fast 300 Jahre des Mittelalters erfunden wurden So soll auf das Jahr 614 in Wahrheit direkt das Jahr 911 gefolgt sein Der deutsche Publizist Germanist und Verleger Heribert Illig stellte 1991 die These auf man konne durch die Entfernung erfundener Jahre die seines Erachtens falsche Chronologie des Mittelalters korrigieren Der Ingenieur und Technikhistoriker Hans Ulrich Niemitz der sich dieser Vorstellung anschloss nannte den Zeitraum dann Phantomzeit weil das Frankische Reich nach Chlothar II ein Produkt der Fantasie und der Tauschung gewesen sei Insbesondere hatten laut dieser These Personen wie Karl der Grosse und die anderen Karolinger vor Karl III dem Einfaltigen in Wahrheit entweder uberhaupt nicht existiert oder sie seien vor 614 beziehungsweise nach 911 einzuordnen In der breiteren Offentlichkeit hat diese These ein gewisses Interesse gefunden bis heute veroffentlichen ihre Verfechter insbesondere im Internet immer neue Erganzungen und Zusatzargumente Von Geschichtswissenschaftlern und Mediavisten wird sie hingegen fast einhellig als Pseudowissenschaft zuruckgewiesen da die Hypothese auf nachgewiesenen Irrtumern und methodischen Fehlern beruhe Teils wird sie als Verschworungstheorie bezeichnet Inhaltsverzeichnis 1 Grundlagen der These und Gegenbelege 1 1 Kalenderkunde 1 2 Diplomatik 1 3 Archaologie 1 4 Astronomie 2 Mogliche Urheber und Motive 3 Weitere chronologiekritische Thesen 4 Verschworungstheorie 5 Literatur 6 Weblinks 7 EinzelnachweiseGrundlagen der These und Gegenbelege BearbeitenDie These des erfundenen Mittelalters gehort zum Themenkomplex der Chronologiekritik und betrifft Kalenderkunde Astronomie Numismatik Diplomatik Textuberlieferung Archaologie Architekturgeschichte und historische Geographie Illig geht davon aus dass innerhalb der Chronologie der Historischen Wissenschaften eine Zirkelreferenz vorliege Moderne absolute Datierungen wie die Radiokarbonmethode oder die Dendrochronologie seien an der als korrekt angenommenen Chronologie ausgerichtet und durften daher nicht als Beleg fur deren Richtigkeit angesehen werden Eine neue Chronologie wurde vielmehr zu einer Neufestlegung absoluter Datierungen und dadurch zu einer Neujustierung dieser Datierungsmethoden fuhren Kalenderkunde Bearbeiten nbsp Lange des Tropischen Jahres nach unterschiedlichen DefinitionenHeribert Illig nimmt an dass die bei der Kalenderreform durch Papst Gregor XIII im Jahr 1582 vorgenommene Berichtigung des julianischen Kalenders mittlere Jahreslange 365 25 Tage von zehn Tagen um drei Tage zu kurz ausgefallen sei Die tatsachliche Jahreslange betragt ca 365 2422 Tage Die Gesamtabweichung seit Einfuhrung des julianischen Kalenders im Jahr 46 v Chr hatte sich bis 1582 auf insgesamt 12 70 Tage 0 0078 Tage 1628 summiert Aufgrund der Tatsache dass 1582 diese drei Tage nicht korrigiert werden mussten leitete Illig die fehlenden drei Jahrhunderte ab die er in der Ausgabe Zeitensprunge Heft 3 1993 auf genau 297 Jahre berechnete und den in Frage kommenden Zeitraum auf September 614 bis August 911 eingrenzte Kritiker entgegnen Illig habe ubersehen dass das Datum der Tag und Nacht Gleiche zur Einfuhrung des julianischen Kalenders nicht uberliefert ist und der 21 Marz als Fruhlingsbeginn erst beim ersten Konzil in Nicaa im Jahr 325 fur die weiteren Berechnungen des Osterdatums festgelegt wurde Dieses Jahr und nicht die Einfuhrung des julianischen Kalenders musse daher der Ausgangspunkt der Chronologie sein Bis zur Kalenderreform im Jahre 1582 hatte sich in den folgenden 1257 Jahren der astronomische Fruhlingsbeginn vom 21 Marz um 9 73 Tage auf den 11 Marz verschoben 1 weshalb Papst Gregor XIII die Kalenderreform im Jahr 1582 in der massgeblichen papstlichen Bulle Inter gravissimas verfugte und den 11 Marz mit der zehntagigen Korrektur nach vorne auf den 21 Marz verlegte Somit widerspricht die Kalenderkorrektur um 10 Tage keineswegs der bestehenden Jahreszahlung 2 Diplomatik Bearbeiten Illig behauptet dass Originalurkunden aus dem besagten Zeitraum sehr sparlich seien und von Personen meist nur sehr unspezifisch sprachen Uberdies seien vom 10 Jahrhundert bis in die Zeit von Friedrich II Anfang 13 Jahrhundert anlasslich der Umstellung von Majuskelschrift auf Minuskelschrift zahlreiche Urkunden neu geschrieben und die alten Urkunden vernichtet worden Eine Verfalschung um rund 300 Jahre sei dabei moglich gewesen Nach dem Kenntnisstand der historischen Wissenschaften existieren jedoch aus dem fraglichen Zeitraum etwa 7000 Originaldokumente 3 Fur die monastische Literatur sei das 9 Jahrhundert an Autoren und Manuskripten sogar das reichste des gesamten fruhen Mittelalters Das Abschreiben war fur die mittelalterlichen Zeitgenossen die einzige Moglichkeit Texte zu kopieren Eine pauschale Abwertung der Texte des Fruhmittelalters als Falschungen wie sie bei Illig zu finden ist 4 ist wissenschaftlich nicht haltbar Archaologie Bearbeiten Die dritte Grundlage der Hypothese ist die Archaologiekritik Sie basiert auf der Behauptung dass es nur wenige archaologische Denkmaler aus dem Fruhmittelalter gebe und dass diese falsch in die Zeit zwischen dem 7 und 10 Jahrhundert n Chr datiert worden seien Hierzu wurden von Illig insbesondere Beispiele aus Bayern angefuhrt 5 Fachwissenschaftlichen Publikationen kann dagegen entnommen werden dass es fur die fragliche Epoche eine grosse Zahl von archaologischen Funden gibt In diversen Museen sind einige davon fur die Offentlichkeit zuganglich Die Schichten zur Karolingerzeit lassen sich etwa in Paderborn eindeutig nachweisen Auch die Ergebnisse der Dendrochronologie sprechen gegen Illigs Thesen 6 Astronomie Bearbeiten Obwohl sie nicht zu den Ursprungs und Kernelementen der These Illigs gehoren sind auch astronomische Kritikpunkte mittlerweile widerlegt unter anderem durch astronomische Untersuchungen selbst Als Gegenargument fuhrt Illig an dass seine Thesen durch astronomische Ruckrechnungen nicht streng widerlegbar seien weil diese seiner Meinung nach fur den betreffenden Zeitraum auf zu unsicheren Quellen beruhten Er erklart dass es zwar Belege in Form astronomischer Beobachtungen gegen seine These gebe beruft sich aber auf ein Zitat des Astronomen Dieter B Herrmann das sich nur auf Sonnenfinsternisse bezieht Das Zitat ist allerdings aus dem Zusammenhang gerissen Herrmann selbst verwahrt sich gegen die Benutzung seiner Worte durch Illig Astronomische Ereignisse der Vergangenheit sind zwar im Einzelfall nur schwer eindeutig einem Datum zuzuordnen die Betrachtung vieler historischer Beobachtungen ergibt aber ein konsistentes Bild Wie Dieter B Herrmann anfuhrt 7 sind die Berichte von Hydatius von Aquae Flaviae uber die zwei totale Sonnenfinsternisse vom 19 Juli 418 und 23 Dezember 447 die in Aquae Flaviae heute Portugal innerhalb eines Abstands von 29 5 Jahren auftraten 8 durch astronomische Berechnungen sehr genau Das Gleiche gilt fur eine Sonnenfinsternis im Jahr 59 n Chr und mehrere Beschreibungen des Halleyschen Kometen 9 Sie sind eindeutig einem Zeitpunkt zuzuordnen und widerlegen somit Illigs These Mogliche Urheber und Motive BearbeitenDa es sich nach Illig bei der Phantomzeit um eine bewusste Tauschung handelt stellt sich die Frage nach den Urhebern Nur ein kleiner Kreis bedeutender und gut zusammenarbeitender Machthaber habe eine Falschungsaktion dieses Umfangs inszenieren konnen Illig zog daher den Schluss dass es sich dabei nur um den romisch deutschen sowie den byzantinischen Kaiser und den Papst handeln konnte Im Jahr 2005 stellte er die These auf dass die Falscher Otto III Konstantin VII und Silvester II gewesen seien Nur in der kurzen Zeit zwischen 990 bis 1009 seien sich diese Herrscher einig genug gewesen um eine solche Tauschung zu entwerfen 10 Ihr Motiv sei das Bedurfnis gewesen selbst im Jahr 1000 zu leben Otto III habe sich uberdies in der Gestalt Karls des Grossen einen ruhmreichen Vorganger auf dem Thron ausgedacht Weitere chronologiekritische Thesen Bearbeiten Hauptartikel Thesen im Artikel Chronologiekritik Vorwurfe grossangelegter Urkundenfalschungen in Europa wurden immer wieder erhoben Wilhelm Kammeier beschrieb in den 1920er und 1930er Jahren angeblich gross angelegte Urkundenfalschungen die er zeitlich im 15 Jahrhundert ansiedelte Ihm ginge es aber weniger um Chronologiekritik sondern um Ideologiekritik Einzelne Aussagen und gar Quellenangaben von Illig lassen aber erkennen dass er sie offenbar von Kammeier ubernommen hat ohne dass dies den Lesern von Anfang an deutlich gemacht wurde 11 12 Verschworungstheorie BearbeitenIn der Offentlichkeit wurde die These vom erfundenen Mittelalter wiederholt als Verschworungstheorie bezeichnet 13 Der deutsche Philosoph Karl Hepfer fuhrt sie als Beispiel dafur dass typischerweise Verschworungstheoretiker grossen Wert auf die Zweckrationalitat der angenommenen Verschworer legen die Rationalitat der unterstellten Zwecke der Verschworung hier der Erfindung von 300 Jahren Mittelalter aber nicht hinterfragen 14 Literatur BearbeitenHeribert Illig Das erfundene Mittelalter Die grosste Zeitfalschung der Geschichte Ullstein Berlin 2005 ISBN 3 548 36429 2 Franz Krojer Die Prazision der Prazession Illigs mittelalterliche Phantomzeit aus astronomischer Sicht Differenz Verlag Munchen 2003 ISBN 3 00 009853 4 Ralf Molkenthin Die Phantomzeit und das Mittelalter oder Wie Heribert Illig eine Erfindung erfand Eine mediavistische Erlauterung In Ralf Molkenthin Bodo Gundelach Hrsg De Ludo Kegelorum Uber das Kegelspiel Beitrage zur Ernennung Dieter Schelers zum Honorar Professor Skriptorium Verlag Morschen 2008 ISBN 978 3 938199 16 9 S 19 35 Diethard Sawicki Lugenkaiser Karl der Grosse Ein kritischer Blick auf Heribert Illigs These vom erfundenen Mittelalter In Tillmann Bendikowski Arnd Hoffmann Diethard Sawicki Geschichtslugen Vom Lugen und Falschen im Umgang mit der Vergangenheit Westfalisches Dampfboot Munster 2001 ISBN 3 89691 499 5 S 75 104 Rudolf Schieffer Ein Mittelalter ohne Karl den Grossen oder Die Antworten sind jetzt einfach In Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48 1997 S 611 617 PDF Gerard Serrade Leere Zeiten oder das abstrakte Geschichtsbild Logos Berlin 1998 ISBN 3 89722 016 4 Amalie Fossel Karl der Fiktive genannt Karl der Grosse Zur Diskussion um die Eliminierung der Jahre 614 bis 911 aus der Geschichte In Das Mittelalter Perspektiven mediavistischer Forschung Zeitschrift des Mediavistenverbandes Jg 4 1999 S 65 74 Weblinks BearbeitenStephan Matthiesen Wurde das Mittelalter erfunden Kommentar zu Heribert Illig Ursprunglich erschienen in Skeptiker 2 2001 Einzelnachweise Bearbeiten Vgl Jean Meeus Astronomical Tables of the Sun Moon and Planets Willmann Bell Richmond 1995 ISBN 0 943396 45 X S 140 Marz Aquinoktium am 10 Marz 1582 23 57 54 Terrestrischer Zeit also im Gebiet der heutigen Mitteleuropaischen Zeitzone und ostlich davon am 11 Marz Karl Mutz Die Phantomzeit 614 bis 911 von Heribert Illig Kalendertechnische und kalenderhistorische Einwande In Zeitschrift fur Wurttembergische Landesgeschichte Band 60 2001 S 11 23 Arno Borst Die karolingische Kalenderreform Hannover 1998 S 15 Heribert Illig Wer hat an der Uhr gedreht Wie 300 Jahre Mittelalter erfunden wurden Munchen 2001 S 234 Heribert Illig Gerhard Anwander Bayern und die Phantomzeit Archaologie widerlegt Urkunden des fruhen Mittelalters Eine systematische Studie Mantis Verlag Grafelfing 2000 ISBN 3 928852 21 3 2 Bande Amalie Fossel Karl der Fiktive In Damals Nr 8 1999 S 20 f Dieter Herrmann Nochmals Gab es eine Phantomzeit in unserer Geschichte In Beitrage zur Astronomiegeschichte 3 2000 S 211 214 Sonnenfinsternis vom 19 Juli 418 und Sonnenfinsternis vom 23 Dezember 447 Dirk Lorenzen Phantom Zeitalter astronomisch widerlegt In Deutschlandfunk 14 Mai 2017 abgerufen am 15 Mai 2017 Heribert Illig The Invented Middle Ages Toronto 2005 Tilmann Chladek Dieter Lehmann Illig bleibt sich selber treu 2002 Hartmut Boockmann Editorial In Geschichte in Wissenschaft und Unterricht GWU 1997 Heft 10 Lukas Wiegelmann Wie man Karl den Grossen aus der Geschichte tilgt In Die Welt vom 16 November 2009 online Zugriff am 18 Mai 2016 Johannes Saltzwedel Gestrichene Jahrhunderte Die abstruse These vom erfundenen Mittelalter In Spiegel Geschichte 6 2012 online Zugriff am 18 Mai 2016 Tillmann Bendikowski Arnd Hoffmann und Diethard Sawicki Geschichtslugen Vom Lugen und Falschen im Umgang mit der Vergangenheit Westfalisches Dampfboot Munster 2003 S 92 95 Karl Hepfer Verschworungstheorien Eine philosophische Kritik der Unvernunft transcript Bielefeld 2015 S 107 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Erfundenes Mittelalter amp oldid 236078887