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Unter Dreckapotheke versteht man die Verwendung menschlicher und tierischer Exkremente und Sekrete sowie von Bestandteilen von deren Korpern Animalia als Arzneimittel Neben Kot und Urin wurden auch innere Organe Speichel Nasenschleim Schweiss Sperma Ohrenschmalz Menstrualblut Spinnweben und Spulwurmer als Bestandteil von Arzneimitteln verwendet Die Zutaten wurden sowohl innerlich als auch ausserlich angewendet Apothekengefasse fur Menschenfett 17 oder 18 Jahrhundert Inhaltsverzeichnis 1 Konzept der Dreckapotheke und verwendete Zutaten 2 Historische Entwicklung 3 Beurteilung durch die moderne Medizin 4 Siehe auch 5 Historische Literatur Auswahl 6 EinzelnachweiseKonzept der Dreckapotheke und verwendete Zutaten BearbeitenHinter der Verwendung der oft ekelerregenden und abstossenden Zutaten und Rezepturen der Dreckapotheke stehen verschiedene historische heilkundliche Grundprinzipien Auch wenn die Empfehlungen aus heutiger Sicht abstrus und manchmal amusant erscheinen so lasst sich dahinter doch ein in sich durchdachtes Konzept erkennen das sowohl magisch religiose als auch empirisch rationale Elemente enthalt 1 Das Analogie Prinzip similia similibus curentur Ahnliches kann mit Ahnlichem behandelt werden ist in der traditionellen Heilkunde vieler Kulturen zu finden Danach greift man auf Substanzen zuruck die der zu behandelnden Erkrankung in bestimmten Eigenschaften ahneln oder in ihrer Benennung eine Ahnlichkeit aufweisen Man ging dabei davon aus dass ahnliche Dinge Wirkungen aufeinander ausuben und sich daruber gegenseitig beeinflussen Auf dem Analogie Prinzip beruhte zum Beispiel die aus dem Alten Agypten bekannte Behandlung von Knochenbruchen mit Strausseneierschalen oder die Anwendung einer gekochten grauen Maus gegen das Ergrauen der Haare 1 Ein weiteres heilkundliches Grundprinzip fuhrte dagegen zur Verwendung von Antisymphatiemitteln die in ihrer Beschaffenheit kontrar zu dem Leiden standen das behandelt werden sollte und denen dadurch eine Art Gegenwirkung zugeschrieben wurde Danach glaubte man zum Beispiel dass man durch das Blut eines schwarzhaarigen Tieres die schwarze Farbe der eigenen Haare erhalten konne Eine bedeutende Rolle spielte ausserdem das Prinzip der Singularitatsmagie nach dem besonders ausgefallene merkwurdige seltene oder teure Zutaten besonders wirksam seien was massgeblich zu einer breiten Verwendung von Mitteln der Dreckapotheke beitrug 1 Der Dominikaner und Arzt Nikolaus von Polen lehnte um 1275 in seinem Werk Anthippocras die mittelalterliche Schulmedizin ab also die Scholastik und insbesondere die auf der Humoralpathologie aufgebaute Lehre von Galen Er propagierte ein alternativmedizinisch naturheilkundliches Konzept und empfahl statt der teuren Arzneimittel besser aus verabscheuten Tieren wie Schlangen Kroten Schnecken oder Maulwurfen zubereitete therotherapeutische von griechisch ther Tier Heilmittel zu verwenden da auch Gott das Niedrige mehr liebe als das Erhabene 2 nbsp Apothekerdose aus dem 18 Jahrhundert fur MumiaIm Volksglauben vieler Kulturen war die Vorstellung verankert dass in einer Leiche ein Teil der Lebenskraft zuruckbleibt der dann durch die Anwendung von Teilen des toten Korpers auf einen lebenden Menschen ubertragen werden kann wodurch dieser von Leiden kuriert wird Prinzipiell wurde der Mensch in der Materia medica zu den Tieren gezahlt so dass aus Menschen gewonnene Arzneimittel zu den Animalia zahlten Allerdings wurde den Heilmitteln menschlichen Ursprungs eine besondere Heilwirkung zugesprochen da der Mensch als das vollkommenste unter den Tieren und als Ebenbild Gottes angesehen wurde Fur Arzneimittel menschlichen Ursprungs wurden vor allem hingerichtete im Krieg gefallene oder durch Unfalle ums Leben gekommene Menschen verwendet da man glaubte dass in diesen im vollen Vorhandensein ihrer Lebenskraft Verstorbenen noch mehr von dieser enthalten sei als in den Korpern von Alten oder nach langerem Siechtum Verstorbener 3 nbsp Apothekergefass fur Cranium humanumDer deutsche Gelehrte Johann Joachim Becher fuhrt 1663 in seinem Parnassus medicinalis illustratus in einem Vers 24 verschiedene Teile des menschlichen Korpers auf die sich zur Verwendung in der Heilkunde eignen Der Mensch das Ebenbild welchs Gott ist angenehm hat Vier und Zwantzig Stuck zur Artzeney bequem Bein Marck die Hirnschal auch sampt ihrem Mos ist gut das Fleisch und Fett die Haut Haar Harn Hirn Hertz und Blut die Gall die Milch der Koth der Schweiss und auch der Stein das gelbe Schmaltz so in den Ohren pflegt zu seyn die Nagel Speichel auch die Nachgeburt ist gut der Helm der Samen und das Menstrualisch Blut Johann Joachim Becher Parnassus medicinalis illustratus 1663 S 5 dd dd dd dd Als besonders wirksam galten die Hande da diese als Symbol einer noch bestehenden Handlungsfahigkeit galten Als Totenhand waren sie deshalb bei Apothekern ein gesuchtes Handelsgut Auch dem Kopf als dem vornehmsten Korperteil wurde besondere Heilwirkung zugesprochen weshalb aus menschlichen Kopfen das in vielen Arzneibuchern des 16 bis 18 Jahrhunderts beschriebene Arzneimittel Cranium humanum hergestellt wurde Oft wurden die der Dreckapotheke zuzuordnenden Zutaten nach bestimmten Rezepten miteinander vermischt Durch die Zugabe von Wein Honig Pflanzenol verschiedenen Krautern Gewurzen und Fruchten sollte zum einen der therapeutische Effekt verbessert werden zum anderen dienten diese Zutaten wohl auch der geschmacklichen Verbesserung der Mixturen 4 Historische Entwicklung BearbeitenDie Verwendung von Arzneien die der Dreckapotheke zugeordnet werden konnen lassen sich bis in die Antike zuruckverfolgen So finden sich bereits in mesopotamischen Arzneibuchern Harn Stuhl Sperma Blut Knochen Eierschalen Schlangenhaut Froschleber und Eidechsenkot als Rezepturbestandteile 5 In der Heilkunst des Alten Agyptens finden sich zahlreiche Elemente der Dreckapotheke So sind Rezepturen mit Zutaten wie dem Haar eines Ermordeten Sperma Blut oder Korn aus dem Grab eines gewaltsam ums Leben Gekommenen uberliefert Vor allem Kot und Urin fanden breite Anwendung Zur Wundheilung wurden Waschungen mit Urin eingesetzt bei inneren Krankheiten wurde er auch innerlich angewendet Getrockneter Kot wurde zur Wundheilung verabreicht Augenverletzungen wurden mit dem Kot von Sauglingen sog Kindspech behandelt 1 Neben menschlichem Ausscheidungen wurden auch Exkremente von Tieren verwendet so sind Rezepturen mit Fliegenkot gegen entzundliche Geschwulste und Brustentzundungen Nilpferdkot gegen oberflachliche Entzundungen und Kot eines Katers eines Krokodils oder einer Schwalbe als Rauchermittel gegen Storungen des Gehors bekannt Zur Empfangnisverhutung wurden mit Krokodildung bestrichene Leinenfasern die als eine Art Diaphragma eingesetzt wurden empfohlen 1 Der romische Gelehrte Plinius der Altere trug in der Enzyklopadie Naturalis historia das gesammelte Wissen seiner Epoche zusammen Im Band V Buch 28 dieses Werkes geht er ausfuhrlich auf Heilmittel aus den Lebewesen ein und widmet sich unter der Uberschrift Ex homine remedia auch explizit den Arzneimitteln menschlichen Ursprungs deren Verwendung er allerdings rigoros als uble Praktiken ablehnt da der Mensch dadurch selbst zum wilden Tier wurde In den folgenden Buchern beschreibt er dann Zubereitungen unter der Verwendung von Blut Eingeweiden und Kot von Eseln Schweinen Ziegen und Tauben 5 Auch in der mittelalterlichen Materia Medica Europas finden sich zahlreiche Rezepturen die der Dreckapotheke zuzuordnen sind So fuhrt das fruhmittelalterliche Lorscher Arzneibuch eine ganze Palette tradierter Animalia und organotherapeutischer Heilmittel Gegen verrenkte Knochel werden Asche aus Rube und Rinderblut empfohlen gegen Kopfschmerzen das Bestreichen mit aufgelosten Schwalbennestern Die bedeutendste Drogenliste des Hochmittelalters die im 13 Jahrhundert in der Schule von Salerno entstandene Alphita 6 zahlt neben Mineralien Chemikalien und Drogen pflanzlichen Ursprungs auch zahlreiche tierische Organe sowie menschliche Korperteile auf 5 Ab dem 17 Jahrhundert erreichte die medizinische Verwendung von Fakalien und Leichenteilen in Europa zunehmende Bedeutung 1641 veroffentlichte der Frankfurter Stadtarzt Johann Schroder den Artzney Schatz 1663 erschien mit dem Parnassus medicinalis illustratus des Gelehrten Johann Joachim Becher ein weiteres Arzneibuch in deutscher Sprache Beide Bucher empfehlen neben anderen Zutaten der Dreckapotheke besonders die Anwendung von Menschenfett gegen schmerzende Glieder Muskelschwund und Gicht Die Dresdner Apothekertaxe von 1652 ein amtliches Preisverzeichnis fur Medikamente fuhrte fast 50 verschiedene Fette tierischer Herkunft darunter Fisch Affen und auch Menschenfett Daneben wurden zum Beispiel auch Hasen und Huhnerhirn gelistet 4 nbsp Paulinis Heylsame Dreck ApothekeEine noch breitere Aufmerksamkeit wurde der Dreckapotheke schliesslich durch das 1696 von dem Eisenacher Gelehrten und Arzt Christian Franz Paullini veroffentlichte Buch Heylsame Dreck Apotheke wie nemlich mit Koth und Urin fast alle ja auch die schwerste gifftigste Kranckheiten und bezauberte Schaden vom Haupt bis zu den Fussen inn und eusserlich glucklich curirt worden durch und durch nit allerhand curieusen so nutzlich als ergetzlichen Historien und Anmerkungen auch andern feinen Denckwurdigkeiten bewahrt und erlautert zuteil das bis ins 21 Jahrhundert mehrmals nachgedruckt wurde 4 Wahrend sich die bisherigen medizinischen Werke vor allem an Leser richteten die den Heilberufen angehorten wollte Paullini mit seiner Sammlung einfacher Heilmittel vor allem der armeren Bevolkerungsschicht eine Anleitung geben wie sie sich durch Selbsthilfe mit preiswerten Arzneien versorgen konnte Durch zeitgenossische Arzte und Apotheker wurde die Publikation stark kritisiert da Paullini Einblicke in die arztliche Behandlungskunst gab 4 nbsp Steriles Humanol fur InjektionszweckeIn einigen Konzepten der Komplementarmedizin lassen sich noch heute Anleihen der Dreckapotheke finden So erfuhr die Eigenharnbehandlung bei der der eigene Urin innerlich oder ausserlich zur Behandlung verschiedener Krankheiten angewendet wird zu Beginn der 1990er Jahre in Deutschland eine relativ grosse Aufmerksamkeit 7 In der 1931 entwickelten und bis in die 1980er Jahre verbreiteten Frischzellentherapie wurden Injektionen von Zellaufschwemmungen von fetalen Kalbern vorgenommen Menschenfett wurde ab dem spaten 19 Jahrhundert unter dem Handelsnamen Humanol in steriler Zubereitung fur Injektionszwecke vertrieben und von 1909 bis 1920 zur Narbenbehandlung und Wunddesinfektion in der Chirurgie eingesetzt Anti Faltencremes verschiedener Hersteller z B Placentubex C und Placenta Serol enthielten bis in die 1980er Jahre menschliches Fett das aus Plazenten gewonnen wurde Als Argument fur die Verwendung dieser Zutaten wurde angefuhrt dass die menschlichen Fette besonders gut in die Haut eindringen wurden und ausserdem auch Hormone und Vitamine enthielten denen eine verjungende Wirkung zugeschrieben wurde Mit der Verwendung dieser Substanzen wurde offen geworben und sie war auch aus dem Namen der Produkte nachvollziehbar Beurteilung durch die moderne Medizin BearbeitenEin grosser Anteil an den durch die Arzte beobachteten Erfolgen von Arzneien der Dreckapotheke wird aus heutiger Sicht dem Placeboeffekt zugeschrieben Die fur die Anwendung meist notwendige Uberwindung von Ekel und Widerwillen konnte dabei zu einer Verstarkung dieses Effektes beigetragen haben 4 Allerdings kann mit dem heutigen medizinischen Kenntnisstand die Wirksamkeit einiger der Rezepturen biologisch und oder pharmakologisch zumindest teilweise erklart werden So enthalten Huhnereier Nasensekret und Muttermilch das antibakteriell wirkende Lysozym 4 Die in mehreren Werken empfohlene Behandlung von Geschwuren mit einer Auflage aus Schafdung Kaseschimmel und Honig fur zwanzig Tage kann aus heutiger Sicht durch die antibiotische Wirkung des Schimmels erklart werden wobei die lange Behandlungsdauer der Entstehung resistenter Bakterienstamme entgegenwirken konnte 8 Aus der Dreckapotheke gingen zum Teil indirekt pharmazeutische Wirkstoffe hervor die noch heute medizinische Anwendung finden So wurde 1773 der Harnstoff aus Urin isoliert der 1828 erstmals synthetisch hergestellt wurde 4 Harnstoff wird noch heute als Bestandteil von Salben bei trockenen Dermatosen wie z B Neurodermitis oder Schuppenflechte angewendet 1 1928 konnte im Urin schwangerer Frauen das Hormon HCG nachgewiesen werden das heute zur Behandlung der Amenorrhoe eingesetzt wird 4 Der Physiologe und Neurologe Charles Edouard Brown Sequard 1817 1894 injizierte sich einen aus den Meerschweinchenhoden gewonnenes Extrakt das sogenannte Liquide orchitique Er berichtete daruber sich danach deutlich verjungt zu fuhlen was ihm in wissenschaftlichen Kreisen jedoch vor allem Spott einbrachte Aus heutiger Sicht kann der Versuch als ein fruher Einsatz der Hormonsubstitutionstherapie mit Testosteron angesehen werden 4 Siehe auch BearbeitenKannibalismus Medizinischer Kannibalismus Europa Historische Literatur Auswahl BearbeitenJ Ruland Pharmacopoea nova in qua reposita sunt stercora et urinae Nurnberg 1644 Robert Muth Trager der Lebenskraft Ausscheidungen des Organismus im Volksglauben der Antike Wien 1954 Einzelnachweise Bearbeiten a b c d e f Brigitte Goede Die Dreckapotheke der Agypter Das Erwachen der Heilkunst im Alten Agypten In Antike Welt 6 1996 S 9 14 Gundolf Keil Der anatomei Begriff in der Paracelsischen Krankheitslehre Mit einem wirkungsgeschichtlichen Ausblick auf Samuel Hahnemann In Hartmut Boockmann Bernd Moeller Karl Stackmann Hrsg Lebenslehren und Weltentwurfe im Ubergang vom Mittelalter zur Neuzeit Politik Bildung Naturkunde Theologie Bericht uber Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spatmittelalters 1983 bis 1987 Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Gottingen philologisch historische Klasse Folge III Nr 179 Vandenhoeck amp Ruprecht Gottingen 1989 ISBN 3 525 82463 7 S 336 351 hier S 337 342 Adolf Wutke Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart Agentur des Rauhen Hauses Hamburg 1860 S 101 f a b c d e f g h i Barbara I Tshisuaka Dreckapotheke In Werner E Gerabek Bernhard D Haage Gundolf Keil Wolfgang Wegner Hrsg Enzyklopadie Medizingeschichte Walter de Gruyter Berlin New York 2005 ISBN 3 11 015714 4 S 322 323 a b c Gisela Stiehler Alegria Hatte die zootherapie agyptischer und babylonischer Pharmakopoen Einfluss auf die Dreck Apotheke des 17 Jahrhunderts In Isimu 10 2007 S 183 201 Alejandro Garcia Gonzales Hrsg Alphita Florenz 2007 Menschen die Urin trinken Spiegel online vom 16 Oktober 2013 abgerufen am 21 September 2018 Reinhard Wylegalla Arzneien aus dem Mittelalter In Deutsche Apotheker Zeitung 8 2010 S 88 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Dreckapotheke amp oldid 237467086