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Der Anachronistische Zug ist ein politisches Strassentheater das auf dem 1947 entstandenen gleichnamigen Gedicht von Bertolt Brecht basiert 1 Dieses wiederum lehnt sich an das 1819 20 entstandene Gedicht The Masque of Anarchy Written on the Occasion of the Massacre in Manchester von Percy Bysshe Shelley an Der Anachronistische Zug formierte sich 1980 auf Initiative von Thomas Schmitz Bender und des Arbeiterbundes fur den Wiederaufbau der KPD als Protestbewegung gegen den damaligen Kanzlerkandidaten der CDU CSU Franz Josef Strauss Die Autoren warfen Strauss eine Geistesverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus vor Einen ersten Ansatz gab es bereits 1979 bei einer Demonstration gegen die Wahl von Bundesprasident Karl Carstens dem man seine NSDAP Mitgliedschaft in den Jahren 1940 45 vorwarf 2 Ein weiteres Mal zog der Anachronistische Zug 1990 durch Deutschland diesmal innerhalb von 14 Tagen von Bonn nach Berlin Die politische Stossrichtung lag 1990 in der Warnung vor nationalistischen Tendenzen in Deutschland nach der Wiedervereinigung Bis heute gibt es noch sporadische Auftritte mit aktualisierten Wagen zu den traditionellen Beschilderungen Inhaltsverzeichnis 1 Der Zug von 1980 2 Juristische Auseinandersetzung 3 Literatur 4 EinzelnachweiseDer Zug von 1980 BearbeitenDas Strassentheater hiess nach der Anweisung des Regiebuchs ursprunglich Ein Zug zur Rettung des Vaterlandes oder Freiheit und Democracy In die Geschichte eingegangen ist es unter dem Namen Anachronistischer Zug weil es Idee und Teile seiner Inszenierung einem anderen Werk entlehnt hatte dem von Bertolt Brecht 1947 verfassten Gedicht Der Anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy einer satirischen Darstellung der im Nachkriegsdeutschland bluhenden Seilschaften alter NS Parteimitglieder und mitlaufer Auch das spatere einschlagige Urteil des Bundesverfassungsgerichts wurde unter dem Titel Anachronistischer Zug bekannt Dem Brecht schen Vorbild entsprechend bildeten die Veranstalter des Strassentheaters erklarte Gegner der Politik des damaligen Kanzlerkandidaten der CDU CSU Franz Josef Strauss einen Strassenzug aus Fussgangern und Fahrzeugen Ihm sollten unter anderem ein Kubelwagen mit einem General ein Militarlaster mit einer Rakete und einer Militarkapelle drei schwarze Limousinen mit Kennzeichen SIE MENS FLI CK THYS SEN ein Wagen mit Mitgliedern des Volksgerichtshofs und ein Wagen mit schwarz uniformierten Angehorigen eines privaten Sicherheitsdienstes folgen Die damalige Wahlkampfparole Freiheit statt Sozialismus parodierend fuhrten die Wagen Schilder wie Freiheit statt Butter Freiheit statt Politik und Ahnliches mit sich Der letzte Wagen des Zugs war dem Plagenwagen aus dem Brechtschen Vorbild nachempfunden In ihm wurden mechanisch bewegbare Puppen untergebracht die Unterdruckung Aussatz Betrug Dummheit Mord und Raub symbolisierten Sie alle waren mit Masken von ehemaligen Nazigrossen versehen Im gleichen Wagen fuhr ein Darsteller mit der eine weisse Gesichtsmaske mit den Zugen von Franz Josef Strauss trug Wahrend der Auffuhrungen rezitierte die Brecht Tochter Hanne Hiob das Brecht Gedicht darunter die sieben zu dem Plagenwagen gehorenden Strophen Knochenhand am Peitschenknauf Fahrt die Unterdruckung auf In nem Panzerkarr n fahrt sie Dem Geschenk der Industrie Gross begrusst in rostigem Tank Fahrt der Aussatz Er scheint krank Schamig zupft er sich im Winde Hoch zum Kinn die braune Binde Hinter ihm fahrt der Betrug Schwenkend einen grossen Krug Freibier Musst nur draus zu saufen Eure Kinder ihm verkaufen Alt wie das Gebirge doch Unternehmend immer noch Fahrt die Dummheit mit im Zug Lasst kein Auge vom Betrug Hangend uberm Wagenbord Mit dem Arm fahrt vor der Mord Wohlig rakelt sich das Vieh Singt Sweet dream of liberty Zittrig noch vom gestrigen Schock Fahrt der Raub dann auf im Rock Eines Junkers Feldmarschall Auf dem Schoss einen Erdball Aber alle die sechs Grossen Eingesessnen Gnadelosen Alle nun verlangen sie Freiheit und Democracy Das Regiebuch sah vor dass sich die jeweiligen Plagen bei ihrer Nennung erheben und von der Person die Strauss darstellte wieder auf ihren Platz gedruckt werden sollten bis kurz vor Schluss des Gedichts alle sechs Figuren aufstehen und den Blick auf den Kanzlerkandidaten verstellen sodass nur das von ihm hochgehaltene Schild mit der Aufschrift Freiheit und Democracy sichtbar bleibt Am Vormittag des 15 September 1980 fuhr der Zug zu dem ihm vom Landratsamt zugewiesenen Platz in Sonthofen wo er den Regieanweisungen folgend Aufstellung nahm Bis zum 4 Oktober 1980 erreichte der Zug mehrere andere deutsche Stadte darunter am 25 September 1980 die Stadt Kassel In Sonthofen und in Kassel wurde das Verdeck des letzten Wagens abgenommen sodass die sechs Puppen sichtbar wurden Der Darsteller trug dabei die Strauss Maske Auf Aufforderung von Pressevertretern und Polizeibeamten stellte er sich mehrmals mit dem Gesicht zu den Puppen und hielt ein Schild mit der Aufschrift Hitler muss einmal tot sein hoch Wegen dieser Sachverhalte stellte Franz Josef Strauss gegen den Darsteller und die Veranstalter des Zugs Strafantrag wegen Beleidigung und schloss sich dem Strafverfahren als Nebenklager an Juristische Auseinandersetzung BearbeitenDas Amtsgericht Kempten verurteilte die Veranstalter des Strassentheaters und den Darsteller des Franz Josef Strauss wegen Beleidigung 3 und begrundete dies damit dass in mindestens zwei Fallen bei der Aufstellung des Zugs das Verdeck des Plagenwagens fur das Publikum geoffnet worden sei ohne dass dies im Kontext der eigentlichen Theaterauffuhrung gestanden habe Ausserhalb dieses Kontextes und ohne das Gedicht ergebe sich fur einen unvoreingenommenen Betrachter der Eindruck einer engsten Zusammengehorigkeit des Kanzlerkandidaten mit den Fuhrern des Dritten Reiches weil man sie zusammen in einem Boot sitzen sehe Die Revision der Verurteilten mit der insbesondere eine Verletzung der Kunstfreiheit des Art 5 Abs 3 Satz 1 GG gerugt wurde verwarf das Bayerische Oberste Landesgericht als offensichtlich unbegrundet 4 Die gegen diese Entscheidungen eingelegte Verfassungsbeschwerde war erfolgreich 5 Das Bundesverfassungsgericht rekurriert in seiner Entscheidung vom 17 Juli 1984 zunachst auf den Kunstbegriff den es mit der Mephisto Entscheidung erstmals entwickelt hat und betont wiederholt dass wesentlich fur die kunstlerische Betatigung die freie schopferische Gestaltung ist in der Eindrucke Erfahrungen Erlebnisse des Kunstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden Dass der Anachronistische Zug hierunter fallt steht fur das Bundesverfassungsgericht ausser Frage Zudem stellt es fest dass selbst wenn man einen formalistischen Kunstbegriff zugrunde legte es sich auch dann um Kunst handle Denn das der Auffuhrung zugrundeliegende Gedicht wie auch die Darbietung in Form eines Theaters mit Schauspielern Puppen Requisiten seien klassische Formen kunstlerischen Ausdrucks Dass es sich hierbei um Strassentheater handle sei irrelevant denn fest installierten Buhnen gebuhre kein Vorrang gegenuber Wanderbuhnen die schliesslich eine Theaterform mit langer Tradition seien Auch dass es sich um politisches Theater handelt stehe der Anwendung des Art 5 Abs 3 GG nicht im Weg denn auch der Bereich der engagierten Kunst die aktuelle oder brisante Themen aufgreife ist geschutzt Die Kunstfreiheit hat allerdings auch Grenzen Zwar kann sie nicht durch einfaches Gesetz eingeschrankt werden und unterliegt somit auch nicht dem Gesetzesvorbehalt des Art 5 Abs 2 GG Rekurrierend auf seine Rechtsprechung zur Mephisto Entscheidung erklart das Bundesverfassungsgericht aber dass sich Schranken der Kunstfreiheit aus anderen Grundrechten ergeben konnen Die personliche Ehre ist Teil des allgemeinen Personlichkeitsrechts des Art 2 Abs 1 GG und somit uber dieses Grundrecht geschutzt Allerdings zieht die Kunstfreiheit ihrerseits dem Personlichkeitsrecht Grenzen Es geht nicht ohne Berucksichtigung der Kunstfreiheit eine Beeintrachtigung des Personlichkeitsrechts zu konstatieren und wegen Beleidigung zu verurteilen Es bedarf vielmehr der Klarung ob die Beeintrachtigung des Personlichkeitsrechts derart schwerwiegend ist dass die Freiheit der Kunst zurucktreten muss Abwagung der widerstreitenden Rechtsguter Kunst vs Personlichkeitsrecht Eine geringfugige Beeintrachtigung oder die blosse Moglichkeit einer schwerwiegenden Beeintrachtigung reichen angesichts der hohen Bedeutung der Kunstfreiheit nicht aus Beanstandet hat das Bundesverfassungsgericht im Besonderen dass das Amtsgericht bei seiner Beurteilung die Veranstaltung des Strassentheaters auseinandergerissen und die Vorbereitung der Veranstaltung Aufstellung des Zuges von dem eigentlichen Event getrennt hatte Kunstlerische Ausserungen sind nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts interpretationsfahig und interpretationsbedurftig unverzichtbar sei in diesem Kontext eine Gesamtschau des Werks Einzelne Teile eines Kunstwerks aus seinem Zusammenhang zu losen und gesondert darauf zu untersuchen ob sie als Straftat zu wurdigen sind ist deshalb nicht zulassig zumal Vorbereitung und Auffuhrung oft unlosbar miteinander verbunden sind denn die eine bedingt die andere Im Ubrigen sei zu berucksichtigen dass beim modernen Theater die Vorbereitung einer Auffuhrung vor den Augen des Publikums zum kunstlerischen Gesamtkonzept gehoren kann Das Verfahren wurde zur erneuten Verhandlung an das Amtsgericht Kempten zuruckverwiesen Dieses hob mit Urteil vom 4 Dezember 1984 die Verurteilung wegen Beleidigung auf und sprach die Angeklagten frei 6 Literatur BearbeitenGespenstische Kulisse In Der Spiegel Nr 39 1980 online Regiebuch von 1990 PDF 6 3 MB Online Archiv des Arbeiterbundes zum Zug Detaillierte Chronologie des Zugs 1980 In Konkret 11 1980 S 50 Hermann Gremliza Angela Kammrad Ute Schilde Willy Thomczyk Gunter Wallraff Hrsg Der anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy Mit Bertolt Brecht am 23 Mai 1979 in Bonn gegen Karl Carstens Verlag Kammrad Munchen 1979 ISBN 3922431003 Einzelnachweise Bearbeiten Bertolt Brecht Der anachronistische Zug oder FREIHEIT und DEMOCRACY 1947 Wohin zieht der Anachronistische Zug In junge Welt 30 Dezember 2000 AG Kempten Urteil vom 30 Oktober 1981 Ls 20 Js 12777 80 BayObLG Beschluss vom 30 April 1982 RReg 5 St 91 82 Bundesverfassungsgericht Beschluss des Ersten Senats vom 17 Juli 1984 1 BvR 816 82 BVerfGE 67 213 Anachronistischer Zug Urteil des AG Kempten vom 4 Dezember 1984 Ls 20 Js 12777 80 Kostenpflichtiger Abruf unter juris de Bitte den Hinweis zu Rechtsthemen beachten Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Anachronistischer Zug amp oldid 237434838