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Agrarismus von lateinisch ager der Acker ist eine agrarpolitische Ideologie in der die Landwirtschaft die entscheidende Produktionssphare und die Dorfgemeinschaft die Zelle der gesellschaftlichen und staatlichen Struktur darstellt Sie entstand in der zweiten Halfte des 19 Jahrhunderts in Deutschland 1 prosperierte aber besonders in den Agrargesellschaften des ostlichen Mitteleuropas und Sudosteuropas wobei sie vor allem die Wirtschaftskultur sowie die politischen Stromungen der Region pragte 2 In Deutschland war sie die weltanschauliche Grundlage der Agrarier vereinzelt bezeichnete der Begriff hier auch die Herrschaft des Agrariertums im Sinne der Gesamtheit der Grossgrundbesitzer 3 Begriffsbestimmung BearbeitenDer Begriff hat seinen Ursprung in den Landern der Bohmischen Krone und bezeichnete dort den Gesamtkomplex der Ideen die der agrarischen Bewegung zugrunde liegen 3 Hier wird er als die Lehre beschrieben nach der Boden und Landwirtschaft eine bedeutende Grundlage fur das Funktionieren der Wirtschaft und der gesamten Gesellschaft bilden und leitet davon den Fuhrungsanspruch des Bauernstandes ab Das stadtische Leben das sich von der Natur und naturlichem Leben entfremdet habe verliere Korpergesundheit und geistiges und moralisches Gleichgewicht Die Landwirtschaft wird als eine Quelle fur materiellen und spirituellen Fortschritt gesehen Das Leben des Bauern sei Ordnung in fester Disziplin in Bescheidenheit mit moralischem Gleichgewicht und beherberge sanfte Geister 4 Der Agrarismus entwickelte sich zum Ende des 19 Jahrhunderts aus den verspateten Modernisierungsprozessen in der Landwirtschaft Die Auseinandersetzungen um Zugang zum Markt pragten den Agrarismus dort wo eine Entwicklung hin zu kapitalistischen Verhaltnissen schon stattgefunden hatte besonders im ostlichen und sudostlichen Mitteleuropa 2 5 In den kaum industrialisierten Gesellschaften dieser Grossregion orientierten sich die Bewegungen eher an der Bewahrung der marktfernen bauerlichen Familienwirtschaft und der traditionellen Dorfgemeinschaften 2 nbsp Bauern zur Erntezeit in Rumanien 1920Agrarismus durchsetzte das geistige und kulturelle Leben der Bauerngesellschaften der Region und zeigte sich als Teil ihrer nationalen Identitat 6 Dabei bot er vornehmlich in der ersten Halfte des 20 Jahrhunderts den Agrargesellschaften die kaum Burgertum aufweisen konnten eine alternative Ideologie zu Kapitalismus und Kommunismus Genossenschaften und Selbstverwaltung pragten den Agrarismus jedoch zeigten sich vielfach theoretische und politische Eigenheiten die abhangig waren von den regionalen Machtverhaltnissen den Bodenbewirtschaftungssystemen und den lokalen Traditionen 6 Die Ideologie erlebte wahrend der Zwischenkriegszeit den Hohepunkt ihrer Entwicklung nachdem verschiedene Bauernparteien in Regierungen und Parlamente Einzug gehalten hatten 2 Diese organisierten sich auch international anfanglich noch mit panslawistischer Orientierung 7 Letztendlich schlossen sich zwischen 1920 und 1926 jedoch 16 dieser Parteien aus Bulgarien Kroatien Litauen den Niederlanden Osterreich Polen Rumanien der Schweiz Serbien und Ungarn zum Internationalen Agrarburo der Grunen Internationale mit Sitz in Prag zusammen und ermoglichten so einen transnationalen Ideentransfer 6 Die Tschechoslowakei nahm in dem Gefuge eine Fuhrungsrolle ein 8 Krestintern die internationale kommunistische Gegenbewegung versuchte ab 1923 zur Erschliessung revolutionaren Potenzials Einfluss uber die Bauern Ost und Sudosteuropas zu erlangen 9 10 Viele Fuhrungspersonen der ostmitteleuropaischen Bauernparteien wie Stjepan Radic Antonin Svehla Aleksandar Stambolijski Ion Mihalache oder Wincenty Witos entstammten dem bauerlichen Milieu jedoch wirkten auch Kunstler und Intellektuelle am Bauernmythos 6 so zum Beispiel Vertreter des Poporanismus und des Samanatorismus in Rumanien 11 Die Erringung des allgemeinen Wahlrechts in Verbindung mit politischer Mobilisierung fur Landreformen begunstigte die Integration der landlichen Bevolkerung in die Nationalstaaten und fuhrte zu einem Demokratisierungsschub Jedoch hatte der Agrarismus keineswegs per se eine demokratische Ausrichtung denn der ihm oft eigene Nationalismus und Antikapitalismus begunstige Antisemitismus Nationalitatenkampfe und die Bildung von autoritaren Regimen wie die bulgarische Bauerndiktatur uber die stadtische Bourgeoisie 12 unter Aleksandar Stambolijski 6 Der Niedergang der Ideologie setzte ein als sich viele Bauern nach der Weltwirtschaftskrise rechtsautoritaren Stromungen zuwendeten Die endgultige Entmachtung der Bauernparteien in Ost und Sudosteuropa erfolgte mit der sozialistischen Transformation und der Einfuhrung stalinistischer Industrialisierung welche dort die Kollektivierung der Landwirtschaft nach sich zog 2 Literatur BearbeitenHelga Schultz Angela Harre Schlussbericht zum Projekt Agrarismus in Ostmitteleuropa 1880 1960 Europa Universitat Viadrina Frankfurt Oder 2011 urn nbn de kobv 521 opus 405 88 S Hans Schulz Otto Basler Gerhard Strauss Deutsches Fremdworterbuch a Prafix Antike Walter de Gruyter 1995 ISBN 3 11012 622 2 S 229 230 Eduard Kubu Torsten Lorenz Jiri Sousa Uwe Muller Agrarismus und Agrareliten in Ostmitteleuropa Berliner Wissenschaftsverlag Berlin 2013 Verlag Dokoran Prag 2013 ISBN 8 07363 502 X 686 S Angela Harre Wege in die Moderne Entwicklungsstrategien rumanischer Okonomen im 19 und 20 Jahrhundert Otto Harrassowitz Verlag 2009 ISBN 3 44706 003 4 S 105 152 Einzelnachweise Bearbeiten Tadeusz Janiki Stromungen des polnischen Agrarismus in den Jahren 1931 1939 In Michael G Muller Kai Struve Fragmentierte Republik Das politische Erbe der Teilungszeit in Polen 1918 1939 Band 2 von Phantomgrenzen im ostlichen Europa Wallstein Verlag 2017 ISBN 3 83532 857 3 S 160 a b c d e Helga Schultz Uwe Muller Andras Vari Agrarismus in Ostmitteleuropa 1880 1950 Frankfurt Oder 1 Mai 2007 bis 30 April 2010 In H Soz Kult vom 21 Mai 2007 a b Beitrage G Bauernbewegung 1928 S 53 In Hans Schulz Otto Basler Gerhard Strauss Deutsches Fremdworterbuch a Prafix Antike Walter de Gruyter 1995 ISBN 3 11012 622 2 S 229 230 Agrarismus In Sociologicka encyklopedie Soziologisches Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik Basierend auf Jaroslav Cesar Bohumil Cerny O ideologii ceskoslovenskeho agrarismu Cesky casopis historicky Band VII Historisches Institut der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften Prag 1959 S 263 285 Otokar Frankenberger Agrarismus Narodni hospodarstvi se stanoviska venkovskeho lidu Verlag fur Meinungen der Landbevolkerung Prag 1923 Angela Harre Wege in die Moderne Entwicklungsstrategien rumanischer Okonomen im 19 und 20 Jahrhundert Otto Harrassowitz Verlag 2009 ISBN 3 44706 003 4 S 105 152 a b c d e Helga Schultz Angela Harre Schlussbericht zum Projekt Agrarismus in Ostmitteleuropa 1880 1960 Europa Universitat Viadrina Frankfurt Oder 2011 S 6 Steffi Marung Katja Naumann Hrsg Vergessene Vielfalt Territorialitat und Internationalisierung in Ostmitteleuropa seit der Mitte des 19 Jahrhunderts Vandenhoeck amp Ruprecht Gottingen 2014 ISBN 978 3 525 30166 1 S 25 Heinz Gollwitzer Europaische Bauernparteien im 20 Jahrhundert Walter de Gruyter GmbH amp Co KG 2016 ISBN 3 11050 928 8 S 50 Roumen Daskalov Diana Mishkova Entangled Histories of the Balkans Band 2 Transfers of Political Ideologies and Institutions Balkan Studies Library Brill 2013 ISBN 9 00426 191 5 S 352 Saturnino M Borras Jr Marc Edelman Cristobal Kay Transnational Agrarian Movements Confronting Globalization John Wiley amp Sons 2009 ISBN 1 44430 720 7 S 355 Helga Schultz Angela Harre Schlussbericht zum Projekt Agrarismus in Ostmitteleuropa 1880 1960 Europa Universitat Viadrina Frankfurt Oder 2011 S 36 Herbert Luthy Franz Ebner Frits Kool Dokumente der Weltrevolution Band 3 Walter Verlag 1970 S 143 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Agrarismus amp oldid 223800447