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Der Titel dieses Artikels ist mehrdeutig Zur Zeitschrift fur hermeneutische Sozialforschung siehe Sozialersinn Das Werk Sozialer Sinn Kritik der theoretischen Vernunft ist ein 1980 erstmals erschienenes Werk des franzosischen Soziologen Pierre Bourdieu Er entwickelte und vertiefte darin zahlreiche seiner theoretischen Konzepte wie Habitus die Logik der Praxis und die Theorie der Kapitalsorten Mit diesem Buch wendet sich der Ethnologe Bourdieu verstarkt der Soziologie zu Sozialer Sinn war ursprunglich als einleitender Theorieteil zu Die feinen Unterschiede konzipiert tatsachlich erschien es aber erst ein Jahr spater als eigenstandige Monographie 1 Sozialer Sinn zahlt wie Die feinen Unterschiede zu den Hauptwerken Bourdieus Inhaltsverzeichnis 1 Aufbau Entstehung und Kontext 2 Inhalt 2 1 Wissenschaftskritik Kritik der Sozialwissenschaften 2 2 Habitus 2 3 Soziales Feld 2 4 Logik der Praxis 2 5 Die Wirkung der Zeit 3 Einordnung in Bourdieus Biographie 4 Literatur 5 EinzelnachweiseAufbau Entstehung und Kontext BearbeitenDer franzosische Originaltitel Le sens pratique wurde 1980 in Paris veroffentlicht Die deutsche Ubersetzung der Monographie erschien erstmals 1987 im Suhrkamp Verlag in zwei Buchern Im ersten Buch Kritik der theoretischen Vernunft entwickelt Bourdieu seine theoretischen Konzepte wie Habitus die Logik der Praxis und die Theorie der Kapitalsorten Im zweiten Buch Praktische Logikformen werden die theoretischen Ausfuhrungen anhand von ethnologischem Material erlautert Vom Aufbau stellt es eine Umkehrung des fruheren Werkes Entwurf einer Theorie der Praxis dar 1 Das empirische Material stammt uberwiegend aus der bereits im Entwurf einer Theorie der Praxis veroffentlichten ethnologischen Feldforschung die Bourdieu 1958 bis 1960 in der Kabylei im nordlichen Algerien durchfuhrte Inhalt BearbeitenWissenschaftskritik Kritik der Sozialwissenschaften Bearbeiten In den Kapiteln des Ersten Buches 1 Die Objektivierung objektivieren und 2 Die imaginare Anthropologie des Subjektivismus grenzt sich Bourdieu gegen die modernen soziologischen Theorien seiner Zeit ab Dabei beschaftigt er sich mit der Frage nach dem Verhaltnis von Theorie und Praxis und den Bedingungen der Moglichkeiten von wissenschaftlicher Erkenntnis Mit Praxis meint Bourdieu das Handeln in der konkreten Situation Laut Bourdieu unterscheidet die Sozialwissenschaften zwischen den beiden Erkenntnisweisen Subjektivismus und Objektivismus Bourdieus primares Anliegen ist es nun hier diesen Gegensatz zu uberwinden und dennoch die Errungenschaften beider zu bewahren Von allen Gegensatzen die die Sozialwissenschaften kunstlich spalten ist der grundlegendste und verderblichste der zwischen Subjektivismus und Objektivismus Pierre Bourdieu Sozialer Sinn S 49 Der Fortschritt der Erkenntnis setzt bei den Sozialwissenschaften einen Fortschritt im Erkennen der Bedingungen der Erkenntnis voraus Pierre Bourdieu Sozialer Sinn S 7 Bourdieu beschaftigt sich dazu mit den zugrunde liegenden Bedingungen der Erkenntnis von Subjektivismus und Objektivismus Er analysiert sie in diesen einleitenden Kapiteln Er stellt fest dass Subjektivismus und Objektivismus in ihrer eigenen Theoriebildung jeweils ausgeklammert werden 2 Bourdieu sieht im Strukturalismus von Claude Levi Strauss und Ferdinand de Saussure eine rein objektivistische Erkenntnisweise Gegen diese Erkenntnisweise wendet er sich da die Bedingungen der Moglichkeit objektiver Erkenntnis nicht hinterfragt wurden Seine Kritik druckt er auch mit der absichtlich etwas sperrigen Kapiteluberschrift Die Objektivierung objektivieren aus Andererseits bricht Bourdieu mit dem rein subjektivistischen Ansatz Er setzt eine Objektivierung voraus Dies sei deshalb der Fall da Soziologie nicht lediglich Projektion eines Gemutszustandes sein will 3 Denn w eil die Handelnden nie ganz genau wissen was sie tun hat ihr Tun mehr Sinn als sie selber wissen 4 Bourdieu grenzt sich bei seiner Kritik gegen den frei schwebenden Geist jeder Art von Intellektualismus ab Er meint damit z B Sartres Subjektivismus oder Saussures objektivistische Linguistik Intellektualismus ist Intellektualozentrismus Die Ubertragung eines nicht objektivierten theoretischen Verhaltnisses auf die Praxis die man objektivieren will ist Ursache einer ganzen Reihe wissenschaftlicher Fehler die alle miteinander zusammenhangen Pierre Bourdieu Sozialer Sinn S 56 Bei Sartre herrsche die Illusion eines tragheitslosen Bewusstseins ohne Vergangenheit und Ausserlichkeit als eine imaginare Welt auswechselbarer Moglichkeiten 5 vor Diese imaginare Welt werde erlebt von einem reinen bindungs und wurzellosen Subjekt 6 Sartres ausschliesslich imaginare Welt halte dem Abgleich mit der tatsachlichen und nicht nur er und durchdachten Realitat nicht stand 7 Bei Saussures konstruiertem Sprachverstandnis hingegen kritisiert Bourdieu dass Sprache zum Objekt der Analyse gemacht werde und nicht mehr ihren praktischen Sinn erfulle Vor diesem Hintergrund fuhrt Bourdieu die praxeologische Erkenntnisweise ein Diese soll die komplementaren Einseitigkeiten von Subjektivismus und Objektivismus vermeiden 2 Um dem Gegensatz von Subjektivismus und Objektivismus zu uberwinden musse man mit beiden Erkenntnisweisen brechen Er fuhrt dazu die Begriffe theoretische Erkenntnis Praxis und praktische Erkenntnis Praxis ein Zentral ist die Einsicht dass zwischen theoretischer und praktischer Erkenntnis Praxis ein fundamentaler Unterschied bestehe 8 Jede soziale Praxis unterliege einer spezifisch praktischen Logik Fur ein genaueres Verstandnis dieser sozialen Praxis entwickelt Bourdieu das Konzept des Habitus Habitus Bearbeiten Hauptartikel Habitus Soziologie Im dritten Kapitel Strukturen Habitusformen Praktiken fuhrt Bourdieu das Habituskonzept ein Zuerst grenzt er sich erneut eindeutig vom Objektivismus und vom Strukturalismus ab Er schlagt stattdessen die Begriffe opus operatum und modus operandi vor welche als eine Art von Kreislauf zu verstehen ist Wahrend das modus operandi Praxisformen generiert und als eine nicht bewusst beherrschte Art des Handelns verstanden werden kann gilt das opus operatum als empirisch analysierbare Wahrnehmungs Denk und Bewertungsschemata die vom modus operandi generiert werden Dieser Vorgang erzeuge die Habitusformen 9 bzw regiere die Struktur uber den Habitus 10 Bourdieu selbst erklarte den Habitus an einer anderen Stelle sehr anschaulich Er sei ein System aus Grenzen und wenn man den Habitus einer Person kenne wusste man ziemlich genau welche Handlungsweisen oder welches Verhalten bei der Person undenkbar seien 11 Weiterhin sei der Habitus inkorporiert man wisse also instinktiv was man tun oder lassen durfe Das bedeutet dass sich die Handlungspraxen auch in Bewegungen Ernahrungsgewohnheiten und Sprachgebrauch widerspiegeln konnen Sie verlaufen regelmassig und sind kollektiv aufeinander abgestimmt 12 Deshalb sei es somit moglich Menschen aufgrund ihrer sozialen Position von anderen Klassen zu unterscheiden 13 Genauso helfe es Personen sich untereinander zu erkennen Menschen mit einem ahnlichen Habitus identifizieren sich untereinander durch gemeinsame Codes was ein ahnlicher Geschmack sein kann und konnen somit ihre Praktiken aufeinander abstimmen 14 Dabei lasst sich auch von einem Klassen oder Gruppenhabitus sprechen Die Gruppen bzw Klassen haben ebenso eine grossere Chance die gleichen Erfahrungen zu machen in ihrem Leben was nach Bourdieu an der Wirksamkeit der herrschenden Strukturen liegt 15 Da er ein erworbenes System von Erzeugungsschemata ist konnen mit dem Habitus alle Gedanken Wahrnehmungen und Handlungen und nur diese frei hervorgebracht werden die innerhalb der Grenzen der besonderen Bedingungen seiner eigenen Hervorbringung liegen Pierre Bourdieu Sozialer Sinn 10 Mit dieser Aussage unterstreicht er dass den Akteuren durch ihren Habitus auch eine negative Freiheit auferlegt ist die ihren Handlungsraum durchaus begrenzt Versucht eine Person ihre Grenzen zu uberschreiten dann werden alle moglichen Zuwiderstosse ohne Gewalt List oder Streit gemassregelt man wisse aber instinktiv dass sich ein bestimmtes Verhalten nicht gehore 16 Soziales Feld Bearbeiten Dem Konzept des Sozialen Feldes widmet Bourdieu in Sozialer Sinn kein eigenstandiges Kapitel ebenso wenig fuhrt er das Konzept detailliert konkret aus Seine Ausfuhrungen zum Sozialen Feld finden sich hauptsachlich im 4 Kapitel Glaube und Leib Sie stellen einen wichtigen Grundbaustein seiner Theorie des sozialen Raumes dar In Sozialer Sinn werden die Ideen zur Theorie des sozialen Raums mit Bourdieus Ausfuhrungen zum Sozialen Feld in Grundzugen bereits grundlegend vorbereitet Als Soziales Feld bezeichnet Bourdieu selbstandige Teilbereiche der menschlichen Gesamtpraxis die nach bestimmten Regeln funktionieren und einer bestimmten Logik 17 unterworfen sind Beispiele sind Kunst Wissenschaft und Politik Diese Regeln und Logiken unterscheiden sich je nach Sozialem Feld 18 Soziale Felder sind keine aus sich selbst heraus entstandenen Bereiche Sie sind soziale Konstruktionen Bourdieu charakterisiert diese Sozialen Felder im Sinne von Sozialen Konstruktionen zum einen durch ihre Selbstandigkeit in Analogie zum Spiel Zum anderen charakterisiert Bourdieu Soziale Felder auch als willkurlich und kunstlich 18 Bourdieu geht davon aus dass die Akteure eines Sozialen Feldes eine Vorstellung des Funktionierens der Sozialen Felder entwickeln Diese Vorstellung fur das Funktionieren bezeichnet Bourdieu als Sinn fur das Spiel 19 So treffen zwei seiner Hauptkonzepte Habitus und Soziales Feld an der Stelle der Vorstellung des Funktionierens Sozialer Felder zusammen Als besonders exemplarische Form des praktischen Sinns als vorweggenommener Anpassung an die Erfordernisse eines Feldes vermittelt das was in der Sprache des Sports als Sinn fur das Spiel bezeichnet wird eine recht genaue Vorstellung von dem fast wundersamen Zusammentreffen von Habitus und Feld von einverleibter und objektivierter Geschichte das die fast perfekte Vorwegnahme der Zukunft in allen konkreten Spielsituationen ermoglicht Pierre Bourdieu Sozialer Sinn S 122 Bourdieu vergleicht diese Vorstellung vom Spiel mit wirklichen Spielen und zieht hier insbesondere Sportarten als Vergleich heran Wahrend in einem wirklichen Spiel alle Teilnehmer die klar definierten und explizit formulierten Regeln kennen sei dies bei sozialen Feldern nicht der Fall Soziale Felder funktionieren nach Bourdieu anders Dagegen entscheidet man sich in sozialen Feldern die im Ergebnis eines langwierigen und langsamen Verselbstandigungsprozesses sozusagen Spiele an sich und nicht langer Spiele fur sich selbst sind nicht bewusst zur Teilnahme sondern wird in das Spiel hineingeboren mit dem Spiel geboren und ist das Verhaltnis des Glaubens der illusio des Einsatzes um so totaler und bedingungsloser je weniger es als solches erkannt wird Pierre Bourdieu Sozialer Sinn S 123 Man wird dementsprechend also in bestimmte Soziale Felder hineingeboren Dadurch erlernen die Akteure die Spielregeln Sie werden mit dem fur das reibungslose Funktionieren dieser Felder erforderlichen Habitus ausgestattet 20 Auch ist die Zugehorigkeit zu bestimmten Feldern den Akteuren nicht zwingend unbewusst Bourdieu ist allerdings der Auffassung dass den Akteuren diese Zugehorigkeit um so weniger bewusst ist je unmerklicher und fruher man sich auf das Spiel und die damit zusammenhangenden Lernprozesse einlasst wobei man im Extrem naturlich in das Spiel hineingeboren mit ihm geboren wird 20 Soziale Felder funktionieren nach Bourdieu aufgrund des Glaubens der Akteure an das Spiel Diesen Glauben bezeichnet Bourdieu auch als Illusio 21 Dieser praktische Glaube 20 ist Bourdieus Auffassung nach das Eintrittsgeld das alle Felder stillschweigend fordern 20 Die dann im Feld als selbstverstandlich angesehenen Regeln Funktionsmechanismen und Formen des Wissens und Handelns bezeichnet Bourdieu als Doxa 22 Umfassende Erklarungskraft und Moglichkeit der Erkenntnisgewinnung erlangt das Konzept des Sozialen Feldes vor allem in Verbindung mit Bourdieus Kapitaltheorie Bourdieu deutet an dass das Funktionieren der Sozialen Felder vergleichbar ist mit einem kollektive n Unternehmen der Bildung symbolischen Kapitals das nur gelingen kann wenn unerkannt bleibt wie die Logik des Feldes uberhaupt funktioniert 22 Einzelne Felder funktionieren also nach voneinander unterschiedlichen Okonomien 22 In diesen Okonomien werden unterschiedliche Aspekte menschlichen Handelns unterschiedliche kulturelle Praktiken oder auch Objekte etc unterschiedlich bewertet So konnen verschiedene Aspekte in einem bestimmten Feld hohere Achtung erhalten als in anderen Feldern Logik der Praxis Bearbeiten Die Theorien der Sozialwissenschaften werden entwickelt um menschliches Handeln zu verstehen und zu erklaren Diese theoretischen Modelle wollen Handlungsmechanismen aufdecken und Verhalten vorhersagen Bourdieu kritisiert die Annahme dass praktisches Handeln nach theoretischen Modellen erfolge Denn die Modelle wurden doch erst zur Erklarung eben jener Praxis erdacht 23 Diese Kritik wendet sich insbesondere gegen zu jener Zeit prominente Rational Choice Ansatze die einen rational abwagenden Eigennutzakteur theoretisch modellieren Mit dieser Handlungstheorie liessen sich teilweise brauchbare Vorhersagen machen Doch nur weil die Vorhersagemodelle funktionieren heisse das nicht dass die Akteure in der Praxis tatsachlich nach der Logik des Modells handeln also tatsachlich immer komplexe Kosten Nutzen Erwagungen durchfuhren Die Ruckubertragung der wissenschaftlichen Theorie in den Akteur konstruiere ein Menschenbild in diesem Fall den Homo oeconomicus Mit grossem Aufwand tue man als Theoretiker so als erklare man das rationale Verhalten mit mathematischen Modellen wahrend man dieses Vernunftwesen Pflichtwesen einfuhrt zu dem ein Handelnder wird dessen gesamtes praktisches Handeln auf Vernunft gegrundet sein soll 24 Mit dem voraussetzungslosen Wirtschaftssubjekt schliesst man per Definition jede Frage nach den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen aus wie dieses Subjekt und sein Verhalten zustande kommt 24 Mit Praxis meint Bourdieu das Handeln in der konkreten Situation Die Praxis unterliege einer Situationslogik den Bedingungen begrenzter Ressourcen der Zeitlichkeit und Dringlichkeit Dazu zahle die Unumkehrbarkeit von Handlung 25 Die Praxis folge ausschliesslich pragmatischen Erwagungen Der praktische Sinn unterscheidet nur was in der jeweiligen Situation relevant und was irrelevant ist 26 Genau mit diesem praktischen Sinn der sich weder mit Regeln noch mit Grundsatzen belastet ausser im Falle des Scheiterns oder Versagens und noch weniger mit Berechnung oder Schlussfolgerungen die durch den Zeitdruck des Handelns das keinerlei Aufschub duldet ohnehin ausgeschlossen sind kann der Sinn der Situation auf der Stelle mit einem Blick und in der Hitze des Gefechts eingeschatzt und sogleich die passende Antwort gefunden werden Nur diese Art erworbene Meisterschaft die mit der automatischen Sicherheit eines Instinkts funktioniert gestattet es augenblicklich auf moglichen ungewissen Situationen und Mehrdeutigkeiten der Praxis zu reagieren Pierre Bourdieu Sozialer Sinn S 190 191 Darin unterscheidet sich die praktische Logik von der wissenschaftlichen Logik Der Wissenschaftler ist entlastet von der Dringlichkeit und dem Handlungsdruck dem die handelnde Akteure ublicherweise unterliegen Wissenschaft ist stark entzeitlicht 25 Theoretische Praxis meint das Beobachten und Reflektieren uber die Praxis Die wissenschaftliche Analyse das Gruppieren das Sortieren die Synopse erfolgt im Nachhinein und uberwindet die Begrenzung der Praxis und schliesst damit aber die vollstandige Erfassung und das vollstandige Verstehen des praktischen Sinns aus So entgeht dem wissenschaftlichen Beobachter leicht das Wesentliche einer Praxis denn die wissenschaftliche Erfassung verandert den Charakter der praktischen Logik 27 Wissenschaftliche Praxis kann keine unmittelbare Praxisrelevanz beanspruchen 28 Die Wirkung der Zeit Bearbeiten Im Kapitel Die Wirkung der Zeit widmet sich Bourdieu dem seiner Meinung nach groben Fehler des bei der sozialwissenschaftlichen Forschung bisher angewandten Objektivismus die Untersuchung von Praktiken ohne Berucksichtigung der Zeit Da Praxis in der Zeit konstruiert wird und ihren Sinn erst durch diese erhalt verschleiert die entzeitlichte objektive Betrachtung einer Situation die wahre Erkenntnis die erst durch die Anerkennung eines Verhaltnisses zwischen Praxis und Zeit gewonnen werden kann 29 Bei der Untersuchung von sozialen Praktiken lassen sich haufig Regelmassigkeiten als Charakteristikum feststellen 30 Dies fuhrt jedoch dazu dass Praktiken als mechanische Handlungsketten betrachtet werden die auch beliebig umkehrbar waren und in denen die Menschen wie Automaten fungieren Aufgrund dieser Annahme wird die Praxis in der Wissenschaft mit Determinanten und Modellen durchsetzt und Praktiken werden zu vorhersehbaren Aneinanderreihungen von Handlungen degradiert 31 Die Annahme eines mechanischen Situationscharakters kritisiert Bourdieu jedoch scharf indem er auf Improvisation Intuition und die permanente Ungewissheit des Situationsausgangs hinweist die die Logik der Praxis massgeblich pragen 30 Die Ungewissheit wieder einfuhren bedeutet die Wiedereinfuhrung der Zeit mit ihrem Rhythmus ihrer Gerichtetheit ihrer Unumkehrbarkeit wobei die Mechanik des Modells ersetzt wird durch die Dialektik von Strategien Pierre Bourdieu Sozialer Sinn S 183 Bourdieu begrundet also die Forderung nach der Berucksichtigung des Zeitaspekts mit der damit verbundenen Ausbildung von Strategien die die Praxis selber verandern konnen 32 Fur eine wirklich objektive Analyse gilt es anzuerkennen dass eine Handlungskette nicht mechanisch verknupft und beliebig umkehrbar ist sondern kontinuierlich geschaffen werden muss und jeden Augenblick unterbrochen werden kann 33 Als empirische Basis seiner Forschung dienen Bourdieu seine ethnologischen Untersuchungen von Tauschvorgangen bei den Kabylen Anhand des Gabentauschs als grundlegendes Beispiel sozialer Praxis wird deutlich welche tatsachliche Relevanz der Zeitaspekt hat Bei Tauschverhaltnissen wird es den Akteuren durch die Wahl des Zeitpunktes ermoglicht durch dieselbe Handlung unterschiedliche Effekte zu erzielen die wiederum bestimmten Strategien vornehmlich der Anhaufung symbolischen Kapitals dienlich sind Gleichzeitig wird dabei auch die Form der Beziehung zwischen den Tauschenden konstituiert So wird Zeit zu einer unbedingt zu berucksichtigenden strategischen Ressource 34 Zu schnell auf ein Geschenk zu reagieren kann negativ auf einen selbst zuruckfallen erklart Bourdieu anhand des Gabentauschs bei den Kabylen Wer durchblicken lasst wie eilig er es hat nicht mehr verpflichtet zu sein nichts schulden will denunziert das ursprungliche Geschenk als geleitet von dem Wunsche zu verpflichten Pierre Bourdieu Sozialer Sinn S 193 Bei anderen Tauschvorgangen der Kabylen die Bourdieu untersucht hat werden strategische Uberlegungen noch relevanter Das Hinauszogern einer Antwort wenn um die Hand der Tochter angehalten wurde kann zu ehrerbietigem Verhalten veranlassen Einen Racheakt hinausschieben kann zu einem Machtinstrument werden dessen Einsatz bei erneut auftretenden Konfliktfallen nutzlich sein konnte 35 Hier erhalt die Zeit eine neue strategische Funktion die Gegengabe hinauszogern kann eine Methode sein Ungewissheit uber die eigenen Absichten fortwahren zu lassen Pierre Bourdieu Sozialer Sinn S 195 Anhand dieser Beispiele wird klar dass gesellschaftliche Praktiken nicht durch Modelle und Determinanten erklart werden konnen Die zwanghafte Suche nach Regeln ist deshalb fur Bourdieu ein Haupthindernis beim Verstandnis der Logik der Praxis Statt durch Regeln werden Praktiken durch einen praktischen Sinn bestimmt der sich unmittelbar aus der Situation ergibt 36 Die Erfassung des Sinns des Verhaltens und die Kenntnis uber den eigenen symbolischen Wert sowie uber den des Gegners sind Voraussetzungen fur eine angemessene Reaktion und damit glaubhaftes situatives Handeln 37 Dieses Handeln grundet nicht auf bewussten mentalen Entscheidungsakten sondern auf einer unmittelbaren Erfassung der Situation dem Gespur fur den Sinn der Praxis 30 Einordnung in Bourdieus Biographie Bearbeiten Hauptartikel Pierre Bourdieu Bourdieu ist aufgrund seiner vielseitigen Biographie pradestiniert den Spagat zwischen Praxis und Theorie und den beiden soziologischen Erkenntnisweisen zu versuchen Er stammt aus einfachen Verhaltnissen im landlichen Frankreich Er studierte zunachst Philosophie und betrieb spater ethnologische Feldstudien in Algerien die auch im zweiten Teil dieses Buches eine wichtige Rolle spielen vgl Inhalt Das Werk Sozialer Sinn markiert seine verstarkte Hinwendung zur Soziologie Die Sozialwelt als Ort solcher Bastard Kompromisse zwischen Ding und Sinn ist eine echte Herausforderung fur jeden der nur in der reinen Welt des Bewusstseins oder der Praxis atmen kann Pierre Bourdieu Sozialer Sinn S 82Literatur BearbeitenPierre Bourdieu Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft 2 Auflage Suhrkamp Frankfurt am Main 2009 zuerst franzosisch 1972 Pierre Bourdieu Sozialer Sinn Kritik der theoretischen Vernunft Frankfurt am Main 1987 Suhrkamp ISBN 3 518 57828 6 Franzosisches Original Le sens pratique Les Editions de Minuit 1980 Colleccion Le sens Commun Bourdieu Pierre 1992 Die verborgenen Mechanismen der Macht Hamburg VSA SekundarliteraturGerhard Frohlich und Boike Rehbein Bourdieu Handbuch Leben Werk Wirkung Stuttgart 2009 J B Metzler ISBN 3476022358 Markus Schwingel Pierre Bourdieu zur Einfuhrung 3 Auflage Juli 2000 Junius Verlag 1995 ISBN 3 88506 321 2 Nicole Burzan Klassen und Lebensstile in einem Modell Der soziale Raum bei Bourdieu In Nicole Burzan Hrsg Soziale Ungleichheit Eine Einfuhrung in die zentralen Theorien VS Verlag fur Sozialwissenschaften Wiesbaden 2004 ISBN 3 531 14145 7 S 138 152 Einzelnachweise Bearbeiten a b Christian Schneickert und Alexander Lenger Sozialer Sinn In Frohlich Rehbein Hrsg Bourdieu Handbuch S 280 a b Schwingel Pierre Bourdieu zur Einfuhrung S 47 Bourdieu Sozialer Sinn S 26 Bourdieu Sozialer Sinn S 127 Bourdieu Sozialer Sinn S 79 Bourdieu Sozialer Sinn S 85 86 Bourdieu Sozialer Sinn S 82 83 Schwingel Pierre Bourdieu zur Einfuhrung S 49 Bourdieu Sozialer Sinn S 98 a b Bourdieu Sozialer Sinn S 102 Bourdieu Die verborgenen Mechanismen der Macht S 33 Bourdieu Sozialer Sinn S 99 Burzan Klassen und Lebensstile in einem Modell Der soziale Raum bei Bourdieu S 130 Bourdieu Sozialer Sinn S 111 Bourdieu Sozialer Sinn S 112 Bourdieu Sozialer Sinn S 104 vgl Bourdieu Sozialer Sinn S 96 Fussnote a b vgl Bourdieu Sozialer Sinn S 123 Bourdieu Sozialer Sinn S 122 vgl auch S 150 a b c d Bourdieu Sozialer Sinn S 124 vgl Bourdieu Sozialer Sinn S 122 a b c Bourdieu Sozialer Sinn S 125 Bourdieu Sozialer Sinn S 148 a b Bourdieu Sozialer Sinn S 88 a b Bourdieu Sozialer Sinn S 149 Bourdieu Sozialer Sinn S 163 Bourdieu Sozialer Sinn S 164 Schwingel Pierre Bourdieu zur Einfuhrung S 50 Bourdieu Sozialer Sinn S 180ff a b c vgl Schneickert Lenger Sozialer Sinn In Frohlich Rehbein Hrsg Bourdieu Handbuch S 194 Bourdieu Sozialer Sinn S 180f Bourdieu Sozialer Sinn S 183 Bourdieu Sozialer Sinn S 192 Schneickert Lenger Sozialer Sinn In Frohlich Rehbein Hrsg Bourdieu Handbuch S 226 Bourdieu Sozialer Sinn S 195 Bourdieu Sozialer Sinn S 189f Bourdieu Sozialer Sinn S 190f Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Sozialer Sinn amp oldid 200787163