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Unter sozialer Epistemologie oder sozialer Erkenntnistheorie werden eine Reihe erkenntnistheoretischer Positionen zusammengefasst welche die gesellschaftlichen Dimensionen und kollaborativen Aspekte von Wissen beleuchten Im Kontrast zur klassischen Erkenntnistheorie bei der ein erkennendes Individuum im Zentrum steht untersucht die soziale Erkenntnistheorie die sozialen Interaktionen von Individuen Gruppen und Systemen bei der Wissensproduktion Inhaltsverzeichnis 1 Begriff 2 Soziale Dimensionen der Erkenntnistheorie 2 1 Soziale Dimensionen von individuellen doxastischen Akteuren 2 2 Soziale Dimensionen von kollektiven doxastischen Akteuren 2 3 Soziale Dimensionen von doxastischen Systemen 3 Das Zeugnis anderer als Beispiel sozialer Epistemologie 3 1 Das Zeugnis anderer als Erkenntnisquelle 3 1 1 Die anti reduktionistische Position 3 1 2 Die reduktionistische Position 3 2 Die soziale Dimension des Zeugnisses anderer 4 Literatur 5 Siehe auch 6 EinzelnachweiseBegriff BearbeitenWie die klassische Erkenntnistheorie fragt auch die soziale Epistemologie nach den Voraussetzungen fur Erkenntnis und dem Zustandekommen von Wissen Nach der Standarddefinition von Wissen verfugt ein erkennendes Subjekt dann uber Wissen wenn es eine wahre und gerechtfertigte Uberzeugung hat Dementsprechend untersucht die klassische Erkenntnistheorie die individuellen Erkenntnisquellen Dazu gehoren beispielsweise sinnliche Wahrnehmungen Erinnerungen oder vernunftige Schlussfolgerungen Die soziale Epistemologie kritisiert hierbei dass die sozialen Aspekte des Wissens ubersehen werden und geht stattdessen davon aus dass menschliches Wissen grundstandig sozial konstituiert ist und auf kooperativen Akten eines kollektiven Subjektes beruht 1 Diese Vorannahme teilt sie mit der Wissenssoziologie richtet den Fokus aber weniger auf die Entstehung Verbreitung und Bewahrung von Wissen sondern auf dessen Bedingungen und Rechtfertigungsmoglichkeiten Zentrale Fragen der sozialen Epistemologie behandeln u a die Rolle des Zeugnisses anderer bei der eigenen Meinungsbildung siehe unten inwiefern neben Individuen auch Gruppen Institutionen oder Systeme Trager von Uberzeugungen und Wissen sein konnen oder wie Laien den Status von Experten beurteilen konnen 2 Soziale Dimensionen der Erkenntnistheorie BearbeitenDer Philosoph Alvin Goldman unterscheidet verschiedene doxastische Akteure von altgriechisch do3a doxa Meinung d h Subjekte die sich aktiv eigenstandige Meinungen bilden 3 Im Gegensatz dazu bezeichnet Doxa in der Soziologie unhinterfragte oder unkritisch fur wahr genommene Uberzeugungen Soziale Dimensionen von individuellen doxastischen Akteuren Bearbeiten Goldman bezeichnet Menschen welche eine doxastische Position gegenuber einer Aussage einnehmen d h dieser beispielsweise zustimmen sie ablehnen oder sich einem Urteil enthalten als individuelle doxastische Akteure individual doxastic agent 4 Die soziale Dimension von individuellen doxastischen Akteuren zeigt sich in der Bezugnahme auf direkte z B im Gesprach oder indirekte z B durch Lesen eines Buches Erkenntnisquellen welche soziale also kommunikativ entstandene Belege fur die Meinungsbildung darstellen Auf der Ebene individueller doxastischer Akteure fragt die soziale Epistemologie etwa nach dem Einfluss des Zeugnisses anderer bei der Meinungsbildung Oder genauer danach wie man zwischen zwei einander widersprechenden Experten entscheidet welchem man mehr Glauben schenkt Soziale Dimensionen von kollektiven doxastischen Akteuren Bearbeiten Neben Individuen konnen auch Gruppen erkennende Subjekte sein Solche kollektiven doxastischen Akteure Collective doxastic agents 5 setzen sich aus mehreren Individuen zusammen um kollektive Wissensentscheidungen zu treffen Gruppen werden in der traditionellen Erkenntnistheorie nicht als eigenstandige erkennende Subjekte berucksichtigt Die soziale Epistemologie untersucht daher sowohl die Entstehung dieser Gruppen als auch den Prozess mit dem Gruppen aus individuellen Urteilen zu einer gemeinsamen Uberzeugung gelangen Beispiele solcher Gruppen sind etwa eine aus einzelnen Geschworenen bestehende Jury in einem Strafprozess die gemeinschaftlich ein Urteil fallt oder Gremien die eine gemeinschaftliche Empfehlung aussprechen oder auch Vereine oder Parteien die eine gemeinsame Haltung einnehmen Auf der Ebene kollektiver doxastischer Akteure fragt die soziale Epistemologie etwa danach in welchem Verhaltnis die Urteile einzelner Gruppenmitglieder zum kollektiven Gruppenentscheid stehen oder auf Basis welcher Abstimmungsprozesse Mehrheitsentscheid Konsensbildung Aggregation einzelner Urteile etc ein kollektives Urteil gefallt wird Soziale Dimensionen von doxastischen Systemen Bearbeiten Neben Individuen und Gruppen konnen auch ganze Systeme an der Wissensgewinnung beteiligt sein Doxastische oder epistemische Systeme sind soziale Systeme mit festgelegten Zielen Regeln und Ablaufen bei denen es im Kontrast zu doxastischen Gruppen nicht um das Fallen gemeinschaftlicher Urteile geht sondern um die Forderung des Wissens und Informationsstandes ihrer Mitglieder 6 Beispiele fur solche epistemischen Gemeinschaftsunternehmen sind wissenschaftliche Institutionen wie Forschungszentren oder Universitaten Bildungseinrichtungen Anstalten der offentlichen Meinungsbildung wie Presse oder Rundfunk aber auch internetbasierte Systeme der Massenzusammenarbeit wie Wikipedia Auf der Ebene epistemischer Systeme fragt die soziale Epistemologie nach den epistemischen Regeln und Werten eines Systems und untersucht inwiefern diese die Wissensgewinnung beeinflussen Beispiele fur solche erkenntnistheoretischen Werte sind die Grundprinzipien der Wikipedia die journalistischen Grundsatzen des Pressekodex oder Regeln der Rechtsprechung in verschiedenen Rechtssystemen wie etwa die Bezugnahme auf Prazedenzfalle im angelsachsischen Common Law bzw auf Gesetze im kontinentaleuropaischen Zivilrecht Das Zeugnis anderer als Beispiel sozialer Epistemologie BearbeitenEin Zeugnis im epistemischen Sinn ist eine Aussage deren Ziel es ist eine Information mitzuteilen deren Inhalt wahr oder falsch sein kann nicht zu verwechseln mit dem Zeugnis in einem Gerichtsverfahren Gesprachsfuller Was fur ein schoner Tag oder emotionale Ausrufe Du schaffst das sind entsprechend keine Zeugnisse da sie zwar Informationen beinhalten es jedoch nicht ihr Ziel ist diese Information mitzuteilen 7 Ein fur die soziale Epistemologie wichtiger Begriff ist die zeugnisbasierte Meinung welcher eine Meinung beschreibt die ein Horer aufgrund des Zeugnisses anderer bildet Neben individuellen Erkenntnisquellen wie Wahrnehmung Selbstbeobachtung oder Erinnerung basiert unser Wissen massgeblich auf dem Zeugnis anderer Menschen Eltern Lehrer Wissenschaftler u v m Fast jeder weiss zum Beispiel dass der Mount Everest der hochste Berg der Welt ist aber die Allerwenigsten haben ihn tatsachlich bestiegen oder seine Hohe gemessen Stattdessen handelt es sich hierbei um eine zeugnisbasierte Meinung die auf dem Wissen anderer beruht etwa einem Wikipedia Eintrag Das Zeugnis anderer als Erkenntnisquelle Bearbeiten Die Rechtfertigung des Zeugnisses anderer als Erkenntnisquelle lasst sich aus zwei Positionen bewerten der anti reduktionistischen und der reduktionistischen Position Die anti reduktionistische Position Bearbeiten Ein Zeugnis bildet nach anti reduktionistischer Position eine eigenstandig zu rechtfertigende Erkenntnisquelle wie auch z B Vernunft und Erfahrung Die Bewertung eines Zeugnisses erfolgt nach dieser Position uber Entkraftigungsgrunde engl defeater 8 Sind Grunde vorhanden die eine Aussage entkraften lassen sie den Zuhorer begrundet an dem Zeugnis zweifeln Interne Entkraftigungsgrunde sind psychologisch fundiert namlich in den Meinungen und Einstellungen des Zuhorers Externe Entkraftigungsgrunde sind hingegen normativ fundiert und begrunden sich auf den Normen und Werten eines epistemischen Systems Entkraftigungsgrunde konnen sich auch gegenseitig entkraften An der anti reduktionistischen Position besteht die Kritik dass jedes Zeugnis in Abwesenheit eines Entkraftigungsgrundes als Erkenntnisquelle gerechtfertigt werden kann So ware z B die Aussage Die Erde ist eine Scheibe eine legitime Erkenntnisquelle solange fur einen Zuhorer keine relevanten Entkraftigungsgrunde vorhanden sind 9 Die reduktionistische Position Bearbeiten Fur die reduktionistische Position bildet ein Zeugnis keine eigenstandige Erkenntnisquelle sondern muss durch individuelle Quellen wie z B Erfahrung oder Vernunft gerechtfertigt werden Dies bedeutet dass nicht die Abwesenheit von Zweifeln an einer Aussage allein die Akzeptanz eines Zeugnisses rechtfertigen kann sondern zudem positive z B vernunft oder erfahrungsbasierte Belege angefuhrt werden mussen Weiterhin wird zwischen der global und der lokal reduktionistischen Position unterschieden Um die Akzeptanz eines Zeugnisses anderer zu rechtfertigen fordert die globale Position von einem Zuhorer positive Belege fur die Annahme dass das Zeugnis anderer im Allgemeinen zu rechtfertigen ist Die lokale Position fordert hingegen eine situationsabhangige Rechtfertigung von jedem einzelnen Zeugnis An der reduktionistischen Position besteht die Kritik dass der Zuhorer in diversen Bereichen wie z B in der Kindheit kein Vorwissen hat durch das das Zeugnis gerechtfertigt werden kann Versucht sich ein Individuum bspw durch Lesen dieses Artikels ein Grundwissen zu sozialer Epistemologie anzueignen ist dies nach der reduktionistischen Position nur moglich falls zudem positive Belege fur die Rechtfertigung der Akzeptanz dieses Artikels bestehen 10 Die soziale Dimension des Zeugnisses anderer Bearbeiten Die Philosophin Jennifer Lackey stellt zwei Gesichtspunkte heraus die im Kontrast zu individuellen Erkenntnisquellen wie z B Erfahrung oder Vernunft bei dem Zeugnis anderer eine erkenntnistheoretisch relevante Rolle spielen Die Informationsebene und die Vertrauensebene 11 Die Informationsebene beschreibt die reine Information einer Aussage ohne den Kontext der Ausserung zu berucksichtigen Das Zeugnis anderer wird dabei als reiner Wissenstransfer verstanden Dabei wird vorausgesetzt dass die weitergegebene Information von dem jeweiligen Sprecher tatsachlich gewusst werden muss Eine Schwierigkeit die sich daraus ergibt stellt z B die Prasentation von Informationen durch Nachrichtensprecher dar die nicht zwangsweise uber das prasentierte Wissen verfugen mussen es dennoch weitergeben Diese Schwierigkeit lasst sich auflosen indem man das Zeugnis anderer nicht als Wissensweitergabe sondern als eine Weitergabe von Informationen oder Aussagen versteht Es geht also nicht darum ob der Sprecher wirklich uber das Wissen von etwas verfugt sondern vielmehr darum zu prufen ob die Information bzw Aussage verlasslich ist Mit dem Begriff der Verlasslichkeit wird der soziale Aspekt in den Mittelpunkt des Zeugnisses anderer gestellt namlich die Vertrauensebene Die Vertrauensebene berucksichtigt den Kontext einer Aussage wie die Verlasslichkeit und die Motive eines Sprechers Um einer Aussage zu vertrauen muss ein Sprecher daher dem Zuhorer deutlich machen dass das Gesagte stimmt und dieses glaubhaft vermitteln Dem Zuhorer durfen hierbei keine berechtigten Zweifel vorliegen weder gegen den Inhalt der Information noch gegen die Verlasslichkeit des Sprechers 12 Literatur BearbeitenHelen E Longino Science as Social Knowledge Values and Objectivity in Scientific Inquiry Princeton University Press Princeton 1990 ISBN 978 0 6910 2051 8 englisch Alvin I Goldman Knowledge in a Social World Oxford University Press Oxford 1999 ISBN 978 0 1982 3820 1 englisch Philip Kitcher Science Truth and Democracy Oxford University Press Oxford 2001 ISBN 978 0 1951 6552 4 englisch Jennifer Lackey Learning from Words Testimony as a Source of Knowledge Oxford University Press Oxford 2008 ISBN 978 0 1992 1916 2 englisch Alvin I Goldman Dennis Whitcomb Hrsg Social Epistemology Essential Reading Oxford University Press Oxford 2011 ISBN 978 0 19 533461 6 englisch Alvin I Goldman Cailin O Connor Social Epistemology In Edward N Zalta Hrsg The Stanford Encyclopedia of Philosophy 2019 englisch Jennifer Lackey The Epistemology of Groups Oxford University Press Oxford 2021 ISBN 978 0199656608 englisch Siehe auch BearbeitenBayesianische Erkenntnistheorie Wissenschaftsforschung WissenschaftstheorieEinzelnachweise Bearbeiten Sybille Kramer Vorlesung 14 Abschlussgedanken als Eroffnung weiterer Perspektiven In Einfuhrung in die theoretische Philosophie FU Berlin 13 Februar 2018 abgerufen am 1 Februar 2021 Oliver R Scholz Soziale Erkenntnistheorie In Nikola Kompa Sebastian Schmoranzer Hrsg Grundkurs Erkenntnistheorie Mentis Munster 2014 ISBN 978 3 89785 128 3 S 259 272 hier S 260 Alvin I Goldman A Guide to Social Epistemology In Alvin I Goldman Dennis Whitcomb Hrsg Social Epistemology Essential Reading Oxford University Press Oxford 2011 ISBN 978 0 19 533461 6 S 11 37 Alvin I Goldman A Guide to Social Epistemology In Alvin I Goldman Dennis Whitcomb Hrsg Social Epistemology Essential Reading Oxford University Press Oxford 2011 ISBN 978 0 19 533461 6 S 11 37 hier S 14 16 Alvin I Goldman A Guide to Social Epistemology In Alvin I Goldman Dennis Whitcomb Hrsg Social Epistemology Essential Reading Oxford University Press Oxford 2011 ISBN 978 0 19 533461 6 S 11 37 hier S 16 18 Alvin I Goldman A Guide to Social Epistemology In Alvin I Goldman Dennis Whitcomb Hrsg Social Epistemology Essential Reading Oxford University Press Oxford 2011 ISBN 978 0 19 533461 6 S 11 37 hier S 18 20 Jennifer Lackey Testimony Acquiring knowledge from others In Alvin Goldman Dennis Whitcomb Hrsg Social Epistemology Essential Readings Oxford University Press New York 2011 ISBN 978 0 19 533461 6 S 71 91 hier S 72 Jennifer Lackey Testimony Aquiring knowledge from others In Alvin Goldman Dennis Whitcomb Hrsg Social Epistemology Essential Readings Oxford University Press New York 2011 ISBN 978 0 19 533461 6 S 71 91 hier S 73 Jennifer Lackey Testimony Aquiring knowledge from others In Alvin Goldman Dennis Whitcomb Hrsg Social Epistemology Essential Readings Oxford University Press New York 2011 ISBN 978 0 19 533461 6 S 71 91 hier S 74 Jennifer Lackey Testimony Aquiring knowledge from others In Alvin Goldman Dennis Whitcomb Hrsg Social Epistemology Essential Readings Oxford University Press New York 2011 ISBN 978 0 19 533461 6 S 71 91 hier S 74 f Jennifer Lackey Testimony Aquiring knowledge from others In Alvin Goldman Dennis Whitcomb Hrsg Social Epistemology Essential Readings Oxford University Press New York 2011 ISBN 978 0 19 533461 6 S 71 91 hier S 80 Torsten Wilholt Soziale Erkenntnistheorie In Information Philosophie Nr 5 2007 S 46 53 hier S 48 online Normdaten Sachbegriff GND 7749535 4 lobid OGND AKS Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Soziale Epistemologie amp oldid 237170560