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Sie kam aus Mariupol ist ein belletristisches Werk der deutschen Schriftstellerin Natascha Wodin aus dem Jahr 2017 Darin verwirklicht sie ihren langgehegten Wunsch die Herkunft ihrer fruh verstorbenen Mutter zu ergrunden Mit ihrer Spurensuche erhellt sie zugleich das literarisch noch wenig erschlossene Terrain der Zwangsarbeiter die Nazideutschland im Zuge des Eroberungskrieges millionenfach rekrutierte Das stark autobiografische aber keinem Genre eindeutig zuzuordnende Werk wurde mehrfach ausgezeichnet unter anderem mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2017 Der Erfolg des Buches bei Lesern wie Kritikern verhalf der Autorin zu ihrem spaten schriftstellerischen Durchbruch und befreite sie von der Furcht vor moglicher Altersarmut 1 Natascha Wodin auf der Leipziger Buchmesse 2017 Inhaltsverzeichnis 1 Inhalt 2 Form 3 Einordnung 4 Urteile 5 Auszeichnungen 6 Ausgaben 7 EinzelnachweiseInhalt BearbeitenDer Text gliedert sich in vier inhaltlich und formal nicht ganz koharente Teile Im ersten und langsten nahert sich die Ich Erzahlerin unverkennbar die knapp 70 jahrige Autorin selbst ihrem Thema an Sie will zum wiederholten Mal der Herkunft ihrer Mutter nachspuren Sie selbst war zehn Jahre alt als ihre Mutter durch Freitod aus dem Leben schied und wusste von ihr kaum mehr als dass es sie aus dem ukrainischen Mariupol nach Deutschland verschlagen hatte Erst spater erfuhr sie dass sie und ihr Mann als Zwangsarbeiter rekrutiert worden waren Verwertbare Angaben zu Familienangehorigen fehlten sodass sie sich stets als ein wurzelloses Einzelwesen empfand Entsprechend gedampft sind ihre Erwartungen als sie im Sommer 2013 den Namen ihrer Mutter ins russische Internet eingibt Doch diesmal zeigt sich eine Spur die immer Neues zutage fordert Unter tatkraftiger Mithilfe eines russischen Hobby Genealogen wachst ihre bis dato fast vollig unbeschriebene Ahnentafel binnen weniger Wochen zu einem auch im ubertragenen Sinne reichen Stammbaum der adlige und grossburgerliche Vorfahren mit italienischen und baltendeutschen Wurzeln eine Grossfamilie mit einigen exponierten Vertretern abenteuerlichen Lebenslaufen scheinbar oder tatsachlich kontraren Gesinnungen aufweist Wie passt das zu dem Bild das sie einst als Kind von ihrer Mutter Jewgenia gewann dem einer unterwurfigen verschuchterten verschlossenen Frau Der zweite Teil gibt darauf indirekt Antwort Er ist die fiktionalisierte Fassung des Tagebuchs das Jewgenias neun Jahre altere Schwester Lidia im hohen Alter ruckblickend auf ihre jungen Jahre in den 1920er und 30ern niederschrieb Als Einzelportrat Lidias zeigt er eine ausserordentlich mutige lebenstuchtige Frau die wie ihr Vater eine Lagerhaft uberstehen muss als Zeitdokument zeugt er von Willkur und Gewalt durch Burgerkrieg und Stalinismus Mitten in diese Wirren hinein 1920 wird Jewgenia geboren ihre pragenden Lebenserfahrungen sind so Verlust Mangel Demutigung und standige Unsicherheit Moglicherweise resultieren daraus Handlungen die als Flucht in trugerische Sicherheiten deutbar sind ihre Anstellung auf dem Arbeitsamt der deutschen Besatzungsmacht in Mariupol ihre Ehe mit einem 20 Jahre alteren Mann mit dem sie vielleicht nicht mehr verbindet als die Liebe zum Singen und der Hass auf Stalin Der dritte Teil beginnt und endet mit einer wirklichen Flucht des Paars vor der heranruckenden Roten Armee muss Jewgenia doch damit rechnen der Kollaboration angeklagt zu werden Das eigentliche Ziel der ersten Flucht 1943 44 war eventuell Amerika unter Inkaufnahme der Gefahr von den Deutschen abgefangen und der Zwangsarbeit zugefuhrt zu werden So geschieht es in der Tat verbunden mit grosstmoglichem Pech ATG Leipzig ist ein Rustungsbetrieb und gehort zum Flickkonzern beruchtigt fur besonders unmenschliche Arbeits und Wohnbedingungen Das Paar wird getrennt untergebracht ATG verfugt allein uber 20 von insgesamt etwa 600 Lagern im Grossraum Leipzig Der 12 Stunden Arbeitstag am Fliessband zehrt insbesondere an Jewgenias ohnehin fragiler Gesundheit Bei Kriegsende ist ihnen allerdings Gluck beschieden Ein Amerikaner tragt in ihre Papiere aus Versehen oder Humanitat als Heimatort Cracow ein und da Ukrainern die vor dem Krieg auf polnischem Staatsgebiet lebten die Repatriierung freigestellt ist gelingt es dem Paar aus Sachsen zu fluchten bevor die Rote Armee einmarschiert Ein halbes Jahr spater im Dezember 1945 erblickt die Erzahlerin das Licht der Welt Ihr Naturell ist dem ihrer Mutter nahezu entgegengesetzt robust dickkopfig fordernd Dass sie noch dazu blond ist verleitet Jewgenia dazu ihr zu suggerieren sie sei ein Findelkind deutscher Eltern was die heimliche Sehnsucht des Madchens zur Mehrheitsgesellschaft dazugehoren zu wollen umso mehr nahrt Nach funf Jahren illegalen Aufenthalts in einem Lagerschuppen auf einem Nurnberger Fabrikgelande vom Besitzer stillschweigend geduldet und weiteren zwei in einem Lager fur Displaced Persons wird der Familie eine Mietwohnung in einer Siedlung am Stadtrand von Forchheim zugewiesen sie gelten nun als Staatenlose mit Bleiberecht Ihre Integration indes misslingt auch in der Schule Zwar lernt das hochmotivierte Madchen Deutsch im Handumdrehen doch sie wird von den Mitschulern gemobbt selbst Lehrer schuren den Hass auf die Russen als vermeintlich Schuldige am Krieg die Eltern wiederum blocken ihre Versuche zuhause deutsch zu reden ab Der Vater drangt Jewgenia einer Arbeit nachzugehen doch das ubersteigt ihre Krafte Ihre musische Bildung ist die einzige Mitgift die sie empfangen hat und auch weitergibt Als Hausfrau und Mutter von mittlerweile zwei Tochtern ist sie oft genug schon uberfordert Heimweh und Schwermut gewinnen immer mehr die Oberhand Die dauerhafte Abwesenheit ihres Mannes er ist um fur Einkunfte zu sorgen mit einem Kosakenchor ganzjahrig auf Tournee lasst sie schliesslich vollig den Boden unter den Fussen verlieren 36 jahrig vollzieht sie was sie lange schon angekundigt hat und geht ins Wasser Form Bearbeiten Lakonisch ist das haufigste Attribut mit dem Rezensenten Wodins Stil beschreiben 2 3 Fur ein Buch wie ihres sei dies auch die vielleicht einzige adaquate Form 2 nach aussen hin scheinbar kuhl und nahezu dokumentarisch entfalte das Erzahlte lakonische Wucht 4 5 Auf den etwas redseligen ersten Teil treffe das allerdings nur bedingt zu wendet einer der Kritiker ein und konstatiert einen schroffen Stilbruch mit Beginn des zweiten 5 wohingegen ein anderer meint Wodin sei die Verbindung der verschiedenen Tonlagen von Recherche Erzahlung Memoire und Dokumentation gelungen 3 Sie kam aus Mariupol erschien ohne eine Genrebezeichnung Damit folgte man Wodins Entscheidung anders als in fruheren Prosawerken hier mit Klarnamen zu arbeiten Gegen eine Verkleidung als Roman sprach auch ihre erklarte Absicht grosstmogliche Realitatstreue anzustreben 1 An diese halt sie sich nicht zuletzt an jenen Schaltstellen im Leben ihrer Mutter uber die sie und der Leser vielleicht am dringendsten Aufklarung wunschte wie der Frage ob sie freiwillig in deutsche Zwangsarbeit ging oder deportiert wurde hier lasst Wodin nur das verfugbare Material sprechen bietet Schlussfolgerungen an und enthalt sich einer personlichen Wichtung Sigrid Loffler klassifiziert Sie kam aus Mariupol als eine Art Tatsachenbericht mit fiktionalen wie dokumentarischen Elementen 6 Zwangsarbeiter aus den eroberten osteuropaischen Landern wurden nbsp zunachst propagandistisch angeworben nbsp spater zwangsrekrutiert nbsp in Deutschland streng reglementiert und nbsp stigmatisiert Einordnung Bearbeiten Mein erstes vor Jahrzehnten erschienenes Buch war so etwas wie der Versuch einer Autobiographie gewesen schreibt Wodin mit Bezug auf ihr Erzahldebut Die glaserne Stadt von 1983 7 Nur habe sie zu dem Zeitpunkt mangels Herkunfts und Geschichtsbewusstsein ihr Leben und seine Zusammenhange noch gar nicht wirklich gekannt Noch mit 20 glaubte sie der Krieg sei von russischem Boden ausgegangen und erst jenseits der 40 erfuhr sie dass ihre Eltern als Zwangsarbeiter nach Deutschland gekommen waren Als sie den Plan fasste Letzteres in den Mittelpunkt eines neuen Buchs uber ihre Mutter zu rucken hatte sie an personlichen Dokumenten nur die Arbeitskarte von Jewgenias Mann d h ihrem Vater in Handen und an subjektiven Erinnerungen nichts Das konnten auch ihre in anderer Hinsicht ertragreichen Recherchen nicht andern In puncto Zwangsarbeit war Wodin daher auf die Geschichtsschreibung angewiesen die sich seit den 1990er Jahren verstarkt dem Thema widmete In Vitalij Sjomins Zum Unterschied ein Zeichen fand sie schliesslich auch die langgesuchte literarische Stimme nur diese einzige was sie angesichts millionenfacher Einzelschicksale verwunderte 8 Den Titel ihres Erzahldebuts greift Wodin in Sie kam aus Mariupol noch einmal auf Die glaserne Stadt ist eine der Geschichten die ihre Mutter eigens fur sie erfindet und Beleg dessen dass ihre Fabulierkunst neben dem Singen die wichtigste Mitgift ist die sie ihren Tochtern mitgibt Auf wiederholte Anfragen ihrer Leser entschloss sich Wodin in einem weiteren Buch auch ihrem Vater Gerechtigkeit widerfahren zu lassen es erschien 2018 unter dem Titel Irgendwo in diesem Dunkel und loste ebenfalls einen Vorganger ab Einmal lebt ich 1989 Auch ein Buch uber ihre Schwester der Sie kam aus Mariupol gewidmet ist halt Wodin fur moglich schliesst dies jedoch zu Lebzeiten der potenziellen Protagonistin aus 1 Urteile Bearbeiten Die katastrophalen Geschichtsbruche des 20 Jahrhunderts werden in dieser Familienrecherche en miniature verhandelt ohne grossen rhetorischen Aufwand aber mit existenzieller Wucht Helmut Bottiger 4 W G Sebald hat dieses erbarmungslose zielstrebige Vergessen vor Jahren am Beispiel des Bombenkriegs gegen die deutschen Stadte beschrieben Ahnliches wenn auch auf vollig andere Weise leistet Natascha Wodin in Sie kam aus Mariupol fur die Zwangsarbeiter Mal hoch emotional mal erstaunlich kuhl und distanziert auf Grundlage historischer Forschung und personlicher Erinnerung Und ohne Scheu Lucken mit Fantasie und Einfuhlungsvermogen zu fullen Uli Hufen 9 Auszeichnungen Bearbeiten2015 Alfred Doblin Preis fur das Manuskript von Sie kam aus Mariupol 2017 Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik 2017 August Graf von Platen PreisAusgaben BearbeitenNatascha Wodin Sie kam aus Mariupol Rowohlt Reinbek 2017 ISBN 978 3498073893 Natascha Wodin Sie kam aus Mariupol Rowohlt Taschenbuch Reinbek 2018 ISBN 978 3499290657 Einzelnachweise Bearbeiten a b c Tanja Runow Zwischentone mit Natascha Wodin In deutschlandfunk de 4 August 2019 abgerufen am 24 Oktober 2021 a b Paul Jandl Vor Stalin geflohen bei Hitler gelandet In welt de 22 Marz 2017 abgerufen am 24 Oktober 2021 a b Wolfgang Schneider Ratlos im Unrat In tagesspiegel de 27 Februar 2017 abgerufen am 24 Oktober 2021 a b Helmut Bottiger Dann spielt die Mutter Chopin In zeit de 7 Marz 2017 abgerufen am 17 Oktober 2021 a b Hans Peter Kunisch Weisse Hande dunkle Zeit In sueddeutsche de 15 Marz 2017 abgerufen am 24 Oktober 2021 Carola Ebeling Das Schweigen Jewgenias In taz de 14 Marz 2017 abgerufen am 24 Oktober 2021 Natascha Wodin Sie kam aus Mariupol Rowohlt Taschenbuch Reinbek 2018 S 36 Natascha Wodin Sie kam aus Mariupol Rowohlt Taschenbuch Reinbek 2018 S 37 Uli Hufen Was kann ein Mensch ertragen In deutschlandfunk de 26 Februar 2017 abgerufen am 17 Oktober 2021 Normdaten Werk GND 1128675366 lobid OGND AKS VIAF 4035149108409668780001 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Sie kam aus Mariupol amp oldid 220405468