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Der Pantheismus oder Spinozastreit gehort zu den wichtigsten und einflussreichsten philosophischen Streitsachen am Beginn der jungeren Moderne Ausgelost wurde der Streit durch die Schrift Friedrich Heinrich Jacobis Uber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn die 1785 in erster und 1789 in zweiter um wesentliche Beilagen vermehrter Auflage erschien Uber die unmittelbaren Protagonisten Jacobi und Mendelssohn hinaus waren viele weitere prominente Reprasentanten der Philosophie an der Auseinandersetzung beteiligt unter anderen Goethe Herder Hamann und Claudius die Vertreter der Berliner Aufklarung sowie Kant Die Auswirkungen des Streits zogen sich anschliessend durch die ganze Philosophie und Literatur der Epoche und sind unter anderen bei Fichte Schelling und Hegel bis hin zu Heinrich Heine und Ludwig Feuerbach greifbar Anlass der Auseinandersetzung war die Anfrage Jacobis an Mendelssohn ob er wisse dass sein kurzlich verstorbener Freund Lessing ein Spinozist gewesen sei 1 Bereits im Briefwechsel der sich ab 1783 ausgehend von Jacobis Wiedergabe seines Gesprachs mit Lessing in Wolfenbuttel im Jahr 1780 zwischen Jacobi und Mendelssohn entwickelte verschob sich der Fokus relativ rasch von der anfanglichen Frage nach Lessings Spinozismus hin zu der sehr viel grundsatzlicheren Frage worin eigentlich die Lehre des Spinoza besteht und was es mit der Verfassung der Vernunft uberhaupt auf sich hat Ins Zentrum des Spinozastreits ruckte damit Jacobis These wonach Spinozas Philosophie den Inbegriff einer streng rationalen Philosophie verwirklicht hat und daher nicht zufallig sondern in strenger Konsequenz zu Atheismus und Fatalismus fuhre Die konventionellen Vorwurfe gegen Spinoza dass seine Philosophie atheistisch und fatalistisch sei waren mit dieser systematischen Rekonstruktion einer perfekt rationalen Entsprechung von Inhalt und Form in der Gestalt luckenloser und universaler Begrundung im Grundsatz des a nihilo nihil fit auf eine vollig neue Basis gestellt die Jacobi kritisch und zugleich voller Bewunderung fur Spinoza verteidigte 2 Mit der Veroffentlichung der Spinozabriefe wobei Jacobi zunachst nur seine eigenen Beitrage und Paraphrasen der gewechselten Briefe die Erinnerungen Mendelssohns jedoch erst in der Zweitauflage von 1789 publizierte fiel der weitere Verlauf des Spinozastreits mit der sog Spinoza Renaissance zusammen Dank der Darstellung Jacobis ruckte Spinoza in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit wahrend sich der Streit in der Hauptsache einerseits um die Frage drehte ob und inwiefern sich Spinoza widerlegen und in eine die anstossigen atheistischen und fatalistischen Konnotationen uberwindende Version des Pantheismus uberfuhren lasse und andererseits um die Bedeutung von Aufklarung und Vernunft Der von Mendelssohn in den Morgenstunden 1785 und in der Streitschrift An die Freunde Lessings 1786 vertretenen Position eines gelauterten Pantheismus hielt Jacobi in Wider Mendelssohns Beschuldigungen betreffend die Briefe uber die Lehre des Spinoza 1786 mit der Doppelphilosophie seines Spinoza und Antispinoza 3 die Unwiderleglichkeit Spinozas entgegen Der unsterbliche Bibliothekar Gotthold Ephraim Lessing wusste wohl dass sich aus dem Spinozismus eben so wenig ein Pantheismus lautern lasst als aus klarem Wasser trubes und dass sich die Sache gerade umgekehrt verhalte 4 Ahnlich sprach sich Jacobi dann in den Beilagen IV und V der Zweitauflage der Spinozabriefe gegen Herders neospinozistische Schrift Gott 1787 aus wahrend er in der Beilage I mit dem Auszug aus Giordano Bruno den Zweck verfolgte durch die Zusammenstellung des Bruno mit dem Spinoza gleichsam die Summa der Philosophie des Hen kai Pan in meinem Buche darzulegen 5 Dem in sich geschlossenen und darum unwiderlegbaren Rationalismus Spinozas hielt Jacobi bereits im Gesprach mit Lessing den Widerspruch des Salto mortale entgegen der als ein Akt der Freiheit aus dem Fatalismus unmittelbar gegen den Fatalismus und gegen alles was mit ihm verknupft ist schliess t 6 Im Zuge seines Antispinoza verwies Jacobi damit auf eine der diskursiven grundesuchenden Vernunft vorgangige unmittelbare Gewissheit praktischer Selbstverstandigung die er zunachst als Glauben seit der Beilage VII der Spinozabriefe auch als der instrumentellen Rationalitat gegenuber eigentliche Vernunft des Geistes bezeichnete 7 Mit der Rede vom Glauben deren Bedeutung intuitiver Erkenntnis im Fehlurteil angeblichen Irrationalismus unverstanden blieb provozierte Jacobi heftige Reaktionen seitens der Berliner Aufklarung die ihm kryptokatholische Ambitionen unterstellte Auch Kant befurchtete in der Jacobischen und Mendelssohnischen Streitigkeit den Umsturz der Vernunft und entwickelte in seinem Beitrag zum Spinozastreit Was heisst Sich im Denken orientiren 1786 das Konzept eines reinen Vernunftglaubens 8 Im Briefwechsel mit Jacobi nach Erscheinen der Zweitauflage der Spinozabriefe liess Kant den Vorwurf der Schwarmerei gegenuber Jacobi jedoch fallen 9 In der nachkantischen Philosophie war nach Kants und Jacobis Vernunftkritik der Rationalismus Mendelssohns keine Orientierungsgrosse mehr Die philosophische Aufgabe bestand jetzt vielmehr darin die rationale Konsequenz des Spinozismus mit Motiven von Jacobis Antispinoza zu vermitteln um in der Transformation der Substanz zum Subjekt eine neue spekulative Philosophie der Freiheit zu entwerfen 10 Diese Konstellation fuhrte von Fichtes Wissenschaftslehre zu Schellings Ich und Identitatsphilosophie bis hin zu Hegels Wissenschaft der Logik in der es im Ubergang von der Wesens zur Begriffslogik um die wahrhafte Widerlegung Spinozas geht 11 Aber auch noch Schellings spatere Philosophie blieb dieser Konstellation verpflichtet Ein System der Freiheit aber in ebenso grossen Zugen in gleicher Einfachheit als vollkommenes Gegenbild des Spinozischen diess ware eigentlich das Hochste 12 Ludwig Feuerbach zog daraus folgende Quintessenz Spinoza ist der Urheber der spekulativen Philosophie Schelling ihr Wiederhersteller Hegel ihr Vollender Der Pantheismus ist die notwendige Konsequenz der Theologie oder des Theismus die konsequente Theologie der Atheismus die notwendige Konsequenz des Pantheismus der konsequente Pantheismus 13 Er verbesserte sich aber sogleich in einer Fussnote Die theologischen Bezeichnungen gebrauche er hier nur im Sinne trivialer Spitznamen An sich seien sie falsch So wenig Spinozas und Hegels Philosophie Pantheismus sei letzterer sei vielmehr ein Orientalismus so wenig sei die neuere Philosophie Atheismus Uber den notwendigen Ubergang der halben Theologie zur ganzen d h zum Pantheismus sei 112 seiner Geschichte der Philosophie von Baco bis Spinoza zu vergleichen Literatur BearbeitenFriedrich Heinrich Jacobi Schriften zum Spinozastreit in Werke Gesamtausgabe hg v Klaus Hammacher und Walter Jaeschke Hamburg Felix Meiner 1998ff Band 1 1 und 2 Friedrich Heinrich Jacobi Uber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn Studienausgabe hg v Marion Lauschke Hamburg Felix Meiner 2000 ISBN 978 3 7873 1434 8 Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn Herausgegeben und mit einer historisch kritischen Einleitung versehen von Heinrich Scholz Verlag von Reuther amp Reichard Berlin 1916 Digitalisat Neuausgabe Spenner 2004 ISBN 3 89991 019 2 Kurt Christ Jacobi und Mendelssohn Eine Analyse des Spinozastreits Wurzburg Konigshausen amp Neumann 1988 Georg Essen und Christian Danz Hg Philosophisch theologische Streitsachen Pantheismusstreit Atheismusstreit Theismusstreit Darmstadt WBG Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2012 Jozef Piorczynski Der Pantheismusstreit Spinozas Weg zur deutschen Philosophie und Kultur Wurzburg Konigshausen amp Neumann 2019 Cord Friedrich Berghahn und Helmut Berthold Hg Till Kinzel Oliver Koch Anne Pollok Im Kontext des Spinozastreits Lessing Jacobi Mendelssohn und Hamann Wolfenbutteler Vortragsmanuskripte 27 Wolfenbuttel Lessing Akademie 2020 Quellen Bearbeiten Friedrich Heinrich Jacobi Schriften zum Spinozastreit in Werke Gesamtausgabe hg v Klaus Hammacher und Walter Jaeschke Hamburg Felix Meiner 1998ff JWA 1 1 8 Heinrich Scholz Einleitung in Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn Berlin Reuther amp Reichard 1916 XIXff JWA 1 1 274 Vgl Birgit Sandkaulen Jacobis Spinoza und Antispinoza in dies Jacobis Philosophie Uber den Widerspruch zwischen System und Freiheit Hamburg Felix Meiner 2019 15 31 JWA 1 1 290 JWA 1 1 152 Vgl Stephan Otto Spinoza ante Spinozam Jacobis Lekture des Giordano Bruno im Kontext einer Begrundung von Metaphysik in Walter Jaeschke und Birgit Sandkaulen Friedrich Heinrich Jacobi Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit Hamburg Felix Meiner 2004 107 125 JWA 1 1 20 JWA 1 1 259f Immanuel Kant Akademieausgabe Band VIII 141 143 Vgl Kants Brief an Jacobi v 30 8 1789 in Friedrich Heinrich Jacobi Briefwechsel Band 8 hg v Manuela Koppe Stuttgart Bad Cannstatt frommann holzboog 2015 271 274 Dieter Henrich Hegel im Kontext Frankfurt M Suhrkamp 1967 62 Georg Wilhelm Friedrich Hegel Wissenschaft der Logik in Gesammelte Werke GW 12 14ff Vgl Birgit Sandkaulen Die Ontologie der Substanz der Begriff der Subjektivitat und die Faktizitat des Einzelnen Hegels reflexionslogische Widerlegung der Spinozanischen Metaphysik in Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus International Yearbook of German Idealism 5 2007 Berlin New York 2008 235 275 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Munchener Vorlesungen zur Geschichte der neueren Philosophie 1833 34 in Sammtliche Werke SW X 36 Ludwig Feuerbach Vorlaufige Thesen zur Reformation der Philosophie in Entwurfe zu einer Neuen Philosophie Hg Walter Jaeschke Werner Schuffenhauer Felix Meiner Hamburg 1996 ISBN 3 7873 1077 0 3 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Pantheismusstreit amp oldid 237577213