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Monsieur Teste ist eine von Paul Valery erfundene Figur die erstmals in seinem 1896 veroffentlichten Romanfragment La Soiree avec Monsieur Teste Der Abend mit Herrn Test erschien Dieses Fragment wurde zusammen mit drei anderen bereits kurz zuvor veroffentlichten Fragmenten und einem Vorwort 1926 als essayartiger funfteiliger Prosazyklus unter dem Titel M Teste veroffentlicht und 1946 um weitere Fragmente erganzt Die Figur erscheint auch in anderen Texten und in der kritischen Ausgabe von Valerys Cahiers 1894 1914 Teste ist eine Symbolfigur der abendlandischen Rationalitat fast ohne Emotionen personliche Einstellungen und Lebenswelt sozusagen ein auf das Denken und das Denken des Denkens reduzierter Mensch ohne Eigenschaften der bis hin zur Augenfarbe autobiographische Zuge Valerys tragt und als dessen imaginierter Gesprachspartner zugleich Valerys unausgeschopfte Potenziale spiegelt Inhaltsverzeichnis 1 Entstehung 2 Inhalt 3 Deutung 4 Rezeption 5 Literatur 6 EinzelnachweiseEntstehung BearbeitenDas Fragment von 1896 ist das Resultat einer entschiedenen Abkehr des jungen Paul Valery von der bis dahin praferierten Lyrik den vagen und unreinen Dingen und den ausseren Beziehungen der Menschen die ihm Ekel erregen und seiner Hinwendung zum klaren Denken in freiwilliger Einsamkeit 1892 ging er durch eine intellektuelle Krise wandte sich von Mallarme und Rimbaud ab und zeigte sich tief beeindruckt von den neuen Ergebnissen der Naturwissenschaften und der Mathemantik Auch die inneren Prozesse des Menschen liessen sich naturgesetzlich erklaren Er sei nunmehr von dem akuten Leiden Prazision befallen 1 Valery zeigt sich beeinflusst von Edgar Allan Poes Essay The Philosophy of Composition 1842 in dem Poe die Ansicht vertritt dass der Prozess guten Schreibens methodisch analytisch und prazise verlaufe aber nicht spontan oder intuitiv Auch beschaftigte ihn das Phanomen der Personlichkeitsspaltung und des Verhaltnisses von inneren und ausseren Stimmen wobei die ausseren Stimmen den gesellschaftlichen Anpassungsdruck verkorpern 2 Valerys Fragment ist also auch eine Folge seiner Auseinandersetzung mit dem Positivismus obwohl er stets pessimistisch hinsichtlich der Moglichkeit objektiver Erkenntnis blieb 3 Valery wohnte in Montpellier angeblich im gleichen Haus und lasst auch seine Kunstfigur Monsieur Teste darin wohnen in dem auch Auguste Comte gewohnt haben soll Nach fast 30 Jahren nahm Valery diesen Faden wieder auf und erweiterte den Text Zu diesen 1926 hinzugefugten Texten gehoren Lettre d un ami Brief eines Freundes einzeln zuerst 1924 veroffentlicht Lettre de Madame Emilie Teste Brief von Frau Emilie Teste 1924 Extraits du Log Book de Monsieur Teste Auszuge aus dem Logbuch von Herrn Teste mit Reflexionen Aphorismen und Gedichten 1925 und Preface Vorwort 1925 ursprunglich fur die englische Ausgabe vorgesehen Der Brief eines Freundes erschien bereits 1926 in deutscher Ubersetzung von Max Rychner und zusammen mit den anderen Texten 1927 1945 erschien eine bibliophile Ausgabe mit zehn Zeichnungen des Autors Die postum letzte franzosische Ausgabe von 1946 wurde durch funf weitere fragmentarische Texte erganzt Drei davon stammen aus den Cahiers dort spricht der Autor als Monsieur Teste Weitere franzosische Ausgaben erschien 1960 Œuvres Bd 2 und 1978 bei Gallimard sowie 2020 unter dem Titel Le Cycle de Monsieur Teste 4 Daruber hinaus wurde die deutsche Ausgabe im Inselverlag 1992 um den kurzen Text La Vengeance de Monsieur Teste Die Rache der Monsieur Teste aus Valerys eigenen Reflexionen in den Cahiers von 1894 erweitert 5 Inhalt BearbeitenDer Text beinhaltet ein Minimum an ausserer Handlung hingegen viele Beobachtungen und Reflexionen Monsieur Teste ist auch fur den Autor der im ersten Text von 1896 eine Begegnung mit ihm beschreibt nur schwer greifbar Teste etwa 40 Jahre alt besitzt seit 20 Jahren keine Bucher mehr und befasst sich hauptsachlich mit Zahlen Sein Mobiliar ist sparlich und unpersonlich sein Liebesleben armselig Korperlichen Schmerz kann er nicht bewaltigen Um des reinen Geistes willen sondert er sich hochmutig von der kultivierten Gesellschaft und deren passiver Hingabe an die Schonheit ab Alles Personliche verkorpert fur ihn nur Dummheit es sind Lappalien Der beruhmte Eingangssatz zu La Soiree avec Monsieur Teste lautet La betise n est pas mon fort Dummheit ist nicht meine Starke 6 Im Brief eines Freundes ist die Stimme des Autors kaum von der des Monsieur Teste zu unterscheiden ob der Brief wirklich an Teste gerichtet ist bleibt unklar Die Kampfe der Pariser Intellektuellen die sich nur um Worte drehen bewegen sich fur Teste und offenbar auch fur den Autor in einer Scheinwelt sie sind von Selbstsucht Originalitatssucht und Grossenwahn bestimmt Er hebt sich davon durch seinen asketischen Willen zur Selbstgenugsamkeit ab Der Brief der beunruhigten Ehefrau der Autor wundert sich als er erfahrt dass Monsieur Teste uberhaupt geheiratet hat betrachtet ihren Ehemann aus der Perspektive der geistig Unterlegenen als gottlosen Mystiker der sich dem Bosen wie dem Guten entzieht 7 Erst im Logbuch vernimmt man die Stimme des Monsieur Teste selbst Alles Individuelle steht fur ihn der Verallgemeinerung im Wege alle Bekundungen von Emotionen seien zufallig und ohne Wert Die Illusionen des Kunstlers und Autors seien auszurotten 8 Nur die radikale Selbstkritik die erbarmungslose Kenntnis der eigenen Schwachen fuhrten zur Wahrheit Im Dialog Fragment kritisiert Teste die Begeisterung die als solche nicht der Logik unterworfen sei Humanitat und Gerechtigkeit seien unreflektierte Konventionen Im Fragment Fur ein Portrat des Monsieur Teste wird die Nicht Darstellbarkeit von Monsieur Teste betont Es gebe kein gesichertes Portrat von ihm Er sei eine psychologische Aberration eine Art uberschaumende innere Energie 9 In Einige Gedanken des Monsieur Teste wird seine streitbare und kriegerische Seite hervorgehoben Er befindet sich im Krieg mit allem was gefuhlsbetont ist aber diese Anfeindungen starken nur seine Fahigkeit zur Selbstkritik Testes radikale Mentalitat sieht in den Menschen Maschinen oder Tiere Nur einmal habe er Emotionen gezeigt und zwar Rachsucht Im Schlussteil Ende des Monsieur Teste gelangt er durch den Tod von Null nach Null er wird ausgeloscht Das Leben kehre vom Bewusstlosen und Empfindungslosen wieder zum Bewusstlosen und Empfindungslosen zuruck 10 Der Name des Monsieur Teste setzt sich aus testis lat Zeuge und tete frz Kopf zusammen Der Kopfmensch Teste ist ein Anti Held der jenseits aller subjektiven Trubung reines Sehen und reines Denken verkorpert und sich durch Abgrenzung und Verweigerung definiert Er ist lebens und menschenfeindlich weil das Leben ihn in seinen Moglichkeiten in der aussersten Potenzialitat des Denkens die er fortwahrend zu steigern sucht nur einschrankt Als Vertreter intellektueller Askese tragt sowohl antisozial arrogante als auch weise sokratische und selbstironische Zuge Da das Denken und das Denken des Denkens nie abgeschlossen ist und erst durch den Tod ins Nichts ubergeht ist auch der Aufbau des Werks prinzipiell nie abgeschlossen Die lockere Form erlaubt fast beliebige Einfugungen der asthetische und philosophische Gehalt des Textes kann sich fur jeden Leser auf andere Weise offenbaren Der Text bezieht eine Gegenposition zum um 1900 vorherrschenden literarischen und kunstlerischen Asthetizismus der genusshaften Wirklichkeitsbetrachtung wie sie den Symbolismus kennzeichnet Er verweist auf den vordringenden Menschentyp des rationalen Technikers der selbst Ergebnis und Voraussetzung der modernen antimetaphysischen technischen Zivilisation ist er nimmt den Mann ohne Eigenschaften des modernen Romans vorweg der Emotionen fur Konstruktionsfehler des Menschen halt und jede gesellschaftliche Verantwortung zuruckweist 11 12 Testes Intellekt bleibt ein privater und das ist das melancholische Geheimnis des Herrn Teste 13 Deutung Bearbeiten nbsp Leiden ist eine Idee wie andere auch Paul Valery versteht den Menschen als denkendes Wesen einerseits und als durch externe Reize gesteuertes aber emotionsloses Reflexwesen andererseits Illustration aus Descartes De homine Traite de l homme Der Mensch ist fur Monsieur Teste wie fur Decartes in De homine nur ein Tier oder eine emotionslose mechanische Maschine Wenn er sich von aussen betrachte sei er in der Lage sich selbst und seine inneren Vorgange als erschreckend einfaches System zu verstehen 14 Michel Tournier sieht den Essay aufgrund dieses Ansatzes in der Nachfolge des cartesianischen Denkens das methodisch nachgelebt werden muss Monsieur Teste folgt also der Logik des Discours de la methode So wie Robinson Crusoe in seinem Logbuch die methodisch akribisch die Arbeiten auf seiner Insel beschreibt beschreibe Valery die Arbeit an seinem Essay in Monsieur Testes Logbuch 15 Fur Peter Buerger ist Valery der unbedingte Modernist der das cartesianische Projekt der Unterwerfung der Welt unter das Subjekt durch eine Praxis der Selbstunterwerfung erganzt und Descartes Indienstnahme der Leidenschaften noch uberbietet 16 Daniel Simond sieht ihn als eine Verkorperung des Ubermenschen Friedrich Nietzsches an 17 Fur Karl Lowith lasst die Figur des Monsieur Teste die Bruchigkeit der Welt der Konventionen und dem Konflikt zwischen dem Geist und der Animalitat und Simplizitat des elementaren Lebens erscheinen 18 Monsieur Teste zeuge mit seiner universalen Skepsis und seinen absurden Exzessen aber auch vom Hang zur Selbstvernichtung vom Heil der Destruktivitat in einer Welt die von konstruktiven Werten und Idealen schwafelt konstatiert Bernhard Boschenstein 19 Rezeption BearbeitenIn Frankreich erschwerte Valerys Ruf als symbolistischer Dichter seinerzeit die Rezeption des Buches Rainer Maria Rilke wurdigte das Buch als ausserst konzentrierte Essenz eines Romans Auch Walter Benjamin und Ernst Robert Curtius versuchten Valery in Deutschland bekannt zu machen Jedoch blieb eine breite Rezeption wegen der Sprachbarriere und der politischen Spannungen in den 1920er und 1930er Jahren aus und setzte erst Ende der 1950er Jahre ein und zwar erst nachdem der franzosische Existenzialismus rezipiert war Seither wird Monsieur Teste als Prototyp der Moderne gedeutet oft wird er zur Ahnenreihe des Strukturalismus gezahlt 20 Zumindest steht das Buch dem von Wilhelm Wundt begrundeten psychologischen Strukturalismus nahe wonach bewusste Erfahrung in einzelne Grundelemente zerlegt werden kann Die Beziehungen Valerys zum Poststrukturalismus sind bisher kaum thematisiert worden obwohl das Verschwinden des Subjekts doch ein explizites Thema des Buches ist 21 Literatur BearbeitenWalter Pabst Der moderne Franzosische Roman Berlin 1968 S 52 76 P Mo Paul Valery La soiree avec Monsieur Teste In Kindlers Neues Literatur Lexikon Bd 16 St Va Munchen 1996 S 1025 f Einzelnachweise Bearbeiten Paul Valery Vorwort zu Monsieur Teste Aus dem Franzosischen von Max Rychner Achim Russer und Bernd Schwibs Suhrkamp 2 Auflage Frankfurt 2016 S 7 f Diese Einzelausgabe basiert auf Band 1 1992 der Frankfurter Ausgabe der Werke Valeray in sieben Banden Hg Jurgen Schmidt Radefeldt Insel Verlag 1989 ff Paul Gifford Paul Valery Le dialogue des choses divines Paris 1989 Frank Edmund Sutcliffe La pensee de Paul Valery Paris 1955 S 188 ISBN 978 3 9678 7435 8 Anmerkungen der Hrsg der Inselausgabe zu Paul Valery Monsieur Teste Aus dem Franzosischen von Max Rychner Achim Russer und Bernd Schwibs Suhrkamp Frankfurt 2 Auflage 2016 S 79 f Suhrkamp Ausgabe 2016 S 12 Suhrkamp Ausgabe 2016 S 45 Suhrkamp Ausgabe 2016 S 69 Suhrkamp Ausgabe 2016 S 65 Suhrkamp Ausgabe 2016 S 77 P Mo 1996 S 1026 Olav Kramer Denken erzahlen Reprasentationen des Intellekts bei Robert Musil und Paul Valery spectrum Literaturwissenschaft Bd 20 De Gruyter 2009 Walter Benjamin zit nach P Mo 1996 S 1026 Paul Valery in den Cahiers 1932 Lynn Salkin Spiroli Learning and Unlearning Tournier Defoe Voltaire In Michael Worton Michel Tournier Routledge 2014 S 111 Peter Buerger Peter Burger Was nutzt mir all mein Geist in zeit de 14 Juli 2015 Daniel Simond Circonstances Lausanne 1932 Wiebrecht Ries Karl Lowith Sammlung Metzler Bd 264 Springer 2017 S 126 Bernhard Boschenstein Nachwort zur Suhrkamp Ausgabe 2016 S 93 Johannes Twardella Die Entstehung des Strukturalismus aus der Krise des Dichters eine Einfuhrung in psychologische und poetologische Konzeptionen Paul Valerys Tectum Verlag 2000 S 11 Peter Buerger Was nutzt mir all mein Geist in zeit de 14 Juli 1995 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Monsieur Teste amp oldid 237997044