Lob des Schattens – Entwurf einer japanischen Ästhetik (jap. 陰翳礼讃, In’ei Raisan) ist ein langer Essay von Tanizaki Jun’ichirō. Er wurde 1933 in der Zeitschrift Keizai Ōrai (経済往来) veröffentlicht.
Überblick Bearbeiten
Der lange Essay (随筆, zuihitsu) besteht aus 16 Abschnitten, die in der japanischen Textfassung Überschriften tragen. An der Überschrift lässt sich meist der inhaltliche Schwerpunkt des Abschnittes ablesen. Die Unterschrift Entwurf einer japanischen Ästhetik in der deutschen Fassung ist insofern irreführend, als es sich nicht um eine systematische Abhandlung zur Ästhetik handelt, wie sie in Deutschland von Baumgarten als philosophische Teildisziplin begründet wurde. Es handelt sich vielmehr um ein erzählerisches Werk, in dem Tanizaki seine ästhetizistische Vorstellung von Schönheit an Einzelbeispielen exemplifiziert. Der Essay ist literaturgeschichtlich bedeutsam, weil er die zentrale Position des japanischen Ästhetizismus, als eine von mehreren antinaturalistischen Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts widerspiegelt.
Inhalt Bearbeiten
Literaturgeschichtliche Einordnung Bearbeiten
Mit der Öffnung des Landes zu Beginn der Meiji-Zeit begann Japan in ungeheuer rasanter Weise alles Neue aus der westlichen Welt zu adaptieren. Neben den technischen Errungenschaften wurden auch die Denkweise und literarische Strömungen aus Europa aufgenommen. Die Geschwindigkeit dieser Entwicklung führte zu einer unüberschaubaren Vielfalt philosophischer, literarischer und politischer Strömungen.
Hinzu kamen einschneidende politische Ereignisse: 1904/05 der russisch-japanische Krieg, die Kolonialisierung Koreas 1910, der Erste Weltkrieg und das große Erdbeben von 1923.
Bereits 1910 hatten sich die wichtigsten westlichen Literaturtendenzen durchgesetzt. Allen voran hielt der Naturalismus japanischer Provenienz (自然主義, shizen shugi) Einzug in das literarische Leben. Beeinflusst vom französischen, russischen und skandinavischen Naturalismus lag das Gewicht des japanischen Naturalismus auf der Suche nach der Wahrheit und der Erkenntnis vom Wesen des Menschen. Wahr ist nur, was selbst erlebt ist. Gesellschaftlich angebunden ist der Naturalismus durch sein sozialkritisches Bewusstsein und den Kampf gegen alle Konvention, die die Entfaltung der "modernen" Persönlichkeit hindert. Ausdruck dieser Strömung in der Prosa ist die Ich-Erzählung.
Dem Naturalismus entgegengesetzt, entwickelten sich zwischen 1910 und 1930 verschiedene literarische Strömungen, die unter dem Sammelbegriff Antinaturalismus zusammengefasst werden. Diesen Strömungen gemeinsam ist, dass sie die Reform der schönen Literatur in den Mittelpunkt ihres Interesses stellten. Eine dieser literarischen Gegenbewegungen war der Ästhetizismus (耽美主義, tambi shugi), als deren Hauptvertreter Tanizaki und sein Lehrmeister Nagai Kafū zählen. Der Ästhetizismus ist gekennzeichnet durch das Prinzip des L’art pour l’art, die Schaffung und den Genuss von Schönheit.
Der getreuen und selbstquälerischen Darstellung des Alltags setzte der Ästhetizismus das absolut Schöne und die japanische Tradition der Heian- und Edo-Zeit entgegen. Ausdruck der Schönheit ist die Gestalt der Frau, die Erotik und die höfische Kultur. Die Darstellung des Erotischen muss insbesondere auch als Ausdruck des Protestes gegen die Verwestlichung aufgefasst werden. In diesem literaturgeschichtlichen Zusammenhang kann Tanizakis Essay Lob des Schattens als programmatisch für den japanischen Ästhetizismus gesehen werden.
Würdigung Bearbeiten
Tanizakis literarisches Werk ist geprägt von der Darstellung menschlicher Leidenschaften im Spannungsfeld zwischen östlicher und westlicher Kultur. Schaarschmidt folgend ist Tanizaki um die Sicherung des Wesentlichen am japanisch Traditionellen bemüht. Die Synthese des Japanischen mit der Moderne gelingt ihm in seinem Alterswerk Die Schwestern Makioka (細雪, Sasameyuki). Insofern ist er zu recht als „Bannerträger des Ästhetizismus“ bezeichnet worden.
Erwähnte Personen Bearbeiten
- Natsume Sōseki, Abschnitt 1, S. 10; Abschnitt 7, S. 29.
- Saitō Ryokuu (1867–1904), Schriftsteller und Kritiker, Abschnitt 2, S. 11.
- Buddha und Konfuzius, Abschnitt 4, S. 18
- Kongō Iwao (1887–1951), Nō-Spieler, Abschnitt 10, S. 44.
- Yang Guifei, klassische Schönheit Chinas, Rolle Kongō Iwaos im Nō Stück Der Kaiser, Abschnitt 10, S. 44.
- Baikō Onoe (1870–1934), Kabuki-Spieler und Onnagata, Abschnitt 11, S. 49.
- Takebayashi Musōan (1880–1962), Schriftsteller und Übersetzer Abschnitt 15, S. 62.
- Albert Einstein, Abschnitt 15, S. 63.
Erwähnte Orte Bearbeiten
- Onoe-Schrein in Kakogawa, Abschnitt 7, S. 29
- Chion-in und Hoganji, Abschnitt 8, S. 32
- Haus Sumiya in Shimabara (Kyōto), Abschnitt 12, S. 51.
- Nihonbashi in Chūō, Tōkyō, Abschnitt 12, S. 51
- Chūgū-ji, ehemaliges Frauenkloster neben dem Horyūji-Tempelkomplex, Abschnitt 12, S. 52.
- Gion (Kyōto), Abschnitt 14, S. 59.
- Ishiyama-Tempel (Biwa-See), Abschnitt 15, S. 63.
- Küste von Suma bei Kōbe, Abschnitt 15, S. 64.
- Hiei-, Nyoi-, Kurodani-Bergzüge um Kyōto, Abschnitt 16, S. 66.
Ausgaben Bearbeiten
- Tanizaki Jun’ichirō: Lob des Schattens. Entwurf einer japanischen Ästhetik. Übersetzt von Eduard Klopfenstein. Manesse, Zürich 1987, 2002, ISBN 3-7175-8109-0.
- 谷崎 『陰翳礼讃』. Chūōkōron Shinsha, Tokio 1995, ISBN 4-12-202413-7.
Siehe auch Bearbeiten
Weblinks Bearbeiten
- Textausgabe (japanisch)
- Rüdiger Burg: Lob der Dunkelheit – Fernost aus der Nähe betrachtet. (Memento vom 11. Februar 2013 im Webarchiv archive.today) Rezension zu Lob des Schattens. In: Wohnwelten. 3/2007.
Einzelnachweise Bearbeiten
- Anmerkung: Tanizaki verwendet im Text das Kanji 椀 anstelle des Kanji 碗. Die beiden Schriftzeichen unterscheiden sich im Hen-Radikal: (木) (ki, Baum) anstelle von (石) (ishi, Stein). Es ist damit eine Holzschale im Unterschied zu einer Keramikschale gemeint.
- Lob des Schattens., S. 31.
- Siegfried Schaarschmidt: Aufschluss Versuche. Wege der modernen japanischen Literatur. Hrsg. Otto Putz, München 1998, ISBN 3-89129-435-2, S. 11.
- Horst Hammitzsch: Japan Handbuch. Stuttgart 1990, ISBN 3-515-05753-6, S. 897–898.
- Horst Hammitzsch: Japan Handbuch. 1990, S. 929.
- Horst Hammitzsch: Japan Handbuch. 1990, S. 937.
- Siegfried Schaarschmidt: Aufschluss Versuche. 1998, S. 13.
- Eduard Klopfenstein im Nachwort zu Lob des Schattens. S. 82.