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Konstitutionelle Bisexualitat war um 1900 ein verbreiteter Begriff Er bezeichnete dass bei jedem Menschen zunachst sowohl weibliche als auch mannliche Geschlechtsmerkmale vorhanden seien sich aber nur eine der beiden Anlagen vollstandig entwickeln wurde die andere aber nicht vollends verlorengehen wurde Einige Vertreter gingen soweit auszufuhren dass alle Menschen auch im Erwachsenenalter sowohl uber weibliche als auch mannliche Geschlechtsmerkmale verfugten An diese Auffassungen schliesst auch die so genannte Zwischenstufentheorie an Inhaltsverzeichnis 1 Geschichte 2 Vertreter und Beispiele 3 Bezug zu Entwicklungsbiologie und Aktualitat 4 Literatur 5 EinzelnachweiseGeschichte BearbeitenBis in die Antike lasst sich eine Tradition zuruckverfolgen in der die Mischung der Geschlechter thematisiert wird Platon lasst in seinem Dialog Symposion einen Mythos erzahlen dem zufolge es einst Kugelmenschen gab von denen manche die Androgynoi eine weibliche und eine mannliche Halfte aufwiesen Die Gotter entschlossen sich die Kugelmenschen in zwei Teile zu teilen Dadurch entstanden die heutigen Menschen von denen jeder nun auf der Suche nach seiner verlorenen anderen Halfte ist Auch in anderen Gesellschaften wurden solche Vorstellungen ausgearbeitet in denen weiblich und mannlich stets vereinigt vorkommen so beispielsweise in chinesischen Beschreibungen des Yin und Yang Diese alten Traditionen lebten fort haufig verbunden mit Begriffen wie Androgynie und Hermaphroditismus 1 2 Um 1800 kamen auch in der sich herausbildenden Biologie Vorstellungen auf dass die geschlechtliche Anlage im Embryo zunachst das Potenzial habe sich weiblich und mannlich zu entwickeln Erst in der Entwicklung wurde sich bei den meisten Menschen eines der Geschlechter deutlich ausbilden in anderen Fallen bei Menschen die gleichgeschlechtlich begehrten heute mit Homosexualitat gefasst allerdings verband man mit gleichgeschlechtlichem Begehren und Sex bis zur Mitte des 19 Jahrhunderts kein identitares Konzept sondern lediglich einen Akt und Hermaphroditismus wurden Mischungen der Geschlechtscharaktere vorhanden bleiben Einige Autoren sahen diese Mischungen bei allen Menschen nur in unterschiedlichem Grade ausgepragt 3 4 Um 1900 wurde dominant an solche Auffassungen angeschlossen Es entspannen sich zwischen verschiedenen Wissenschaftlern sogar Prioritatsstreitigkeiten also Streitigkeiten darum wer diese Theorie zuerst beschrieben hatte Diese Streitigkeiten fanden statt zwischen Wilhelm Fliess Otto Weininger Hermann Swoboda und Sigmund Freud Unter anderem Magnus Hirschfeld verwies allerdings darauf dass es sich hierbei keineswegs um eine neue Entdeckung handele sondern dass solche Auffassungen Tradition hatten 3 Vertreter und Beispiele BearbeitenKarl Heinrich Ulrichs Er arbeitete in den 1860er Jahren sehr deutlich heraus dass jeder erwachsene Mensch eine geschlechtliche Mischung darstellen wurde Bei gleichgeschlechtlich begehrenden Menschen und Hermaphroditen kame lediglich ein ausgewogeneres Verhaltnis von weiblichen und mannlichen Anteilen zustande wogegen bei anderen Menschen eines der Geschlechter mehr dominiere Er schrieb unter anderem Der geschlechtliche Dualismus welcher ausnahmslos in jedem menschlichen Individuum im Keim vorhanden ist kommt in Zwittern und Uraniern nur in hoherem Grade zum Ausdruck als im gewohnlichen Mann und im gewohnlichen Weib Im Uranier kommt er ferner nur in einer anderen Weise zum Ausdruck als im Zwitter 5 4 Magnus Hirschfeld Es kann nicht oft genug wiederholt werden dass schon zufolge der Erbgesetze diese Grundtypen im Grunde nur Fiktionen sind und dass wenn ein Satz zu Recht besteht es dieser ist dass der Mensch nicht Mann oder Weib sondern Mann und Weib ist Jahrbuch fur sexuelle Zwischenstufen 1923 6 Geschlechtsunterschiede sind Gradunterschiede Es handelt sich immer nur um ein mehr oder minder um ein kleiner oder grosser starker oder schwacher immer nur um ein relativ nicht absolut Verschiedenes nie um etwas was nur dem einen nicht aber auch dem anderen Geschlecht zukame Wer beiden Geschlechtern entstammt Enthalt beide Geschlechter vereint 7 Vergleiche zu Hirschfeld auch Herzer 1998 8 und Bauer 2002 9 Bezug zu Entwicklungsbiologie und Aktualitat BearbeitenDie benannten Vertreter schlossen auch an Beschreibungen der Biologie Medizin der sich herausbildenden Entwicklungsbiologie an Hier wurde von zahlreichen Wissenschaftlern des 19 Jahrhunderts dargestellt dass bei jedem Mensch sowohl das Potenzial fur weibliche als auch fur mannliche Entwicklung vorhanden sei Es wurden verschiedene Modelle vorgeschlagen in denen von einer bipotenten indifferenten oder hermaphroditischen geschlechtlichen Anlage gesprochen wurde Nur wenige Vertreter wie Theodor von Bischoff gingen davon aus dass sich bereits die Anlage binar geschlechtlich unterscheiden musse dass also jeder Embryo bereits weiblich oder mannlich ware Plastisch wird diese Auffassung unter anderem bei Ignaz Dollinger deutlich 9 So wie der Embryo nur Mensch nicht Weib und nicht Mann seyn kann so haben auch seine keimenden Genitalien keinen Geschlechtscharakter Im Hermaphroditen ist diese Indifferenz fixiert 10 Die menschlichen Geschlechtstheile sind nicht absolut mannlich sondern mannlichweiblich und nicht absolut weiblich sondern weiblichmannlich daher die Harmonie ihres Baues und die Moglichkeit einer Uebergangsbildung 11 Die Geschlechtsteile des Mannes sind die Prostata und die Hoden die des Weibes die Gebarmutter und die Eierstocke Das die Prostata dem Uterus der Hode dem Eierstock parallel sind ist fur sich klar 10 Auch aus dem folgenden Zitat von Heinrich Wilhelm Waldeyer sind diese explizit biologischen Auffassungen gut nachvollziehbar Aber ein anderer auch fur die Teratologie nicht unwichtiger Punkt folgt aus dem Beobachteten mit Gewissheit namlich der dass die Uranlage der einzelnen Individuen auch bei den hochsten Vertebraten eine hermaphroditische ist Man hat bis jetzt vielfach das eigenthumliche Verhalten der Geschlechtsorgane bei der ersten Entwicklung so zu deuten gesucht dass ein neutraler gemeinsamer gewissermaassen indifferenter Urzustand vorhanden sei aus welchem heraus entweder nach der einen oder der anderen Seite hin die Entwicklung vorschreite so dass bald ein mannliches bald ein weibliches Individuum entstehe Aber man hat sich da zu viel auf das Verhalten mehr nebensachlicher Dinge gestutzt zum Beispiel auf das der ausseren Geschlechtsorgane Hier gibt es in der That einen indifferenten gewissermaassen neutralen Urzustand der sich dann entweder nach der mannlichen oder der weiblichen Seite hin weiter auspragt Das kann aber nicht befremden da wir ja in den ausseren Genitalien sowohl beim Manne als beim Weibe in der That anatomisch dieselben Gebilde vor uns haben die nur nach verschiedenen Richtungen hin sich bei den verschiedenen Individuen ausbilden Geht man aber auf die Entwicklung derjenigen Gebilde ein welche das Wesen der beiden Geschlechter ausmachen der beiden Keimdrusen so ist eine indifferente gleichsam neutrale Uranlage schwer denkbar mit anderen Worten jedes Individuum ist auf einer gewissen Stufe seiner Entwicklung wahrer Hermaphrodit 11 3 Auch heute wird in der Entwicklungsbiologie weiter davon ausgegangen dass in fruhen Stadien der Embryonalentwicklung das Potenzial vorhanden ist dass sich die Geschlechtsmerkmale des Menschen weiblich und mannlich ausbilden konnen Erst durch chromosomale genetische hormonelle und weitere Einflusse beispielsweise aus der Zelle aus dem mutterlichen Organismus chemischer Einwirkungen der Umgebung wurden sich die Geschlechtsmerkmale entwickeln oft eindeutig weiblich oder mannlich in anderen Fallen gemischt 3 Literatur BearbeitenBauer J Edgar zuerst 2002 Magnus Hirschfeld per scientiam ad justitiam Eine zweite Klarstellung Ursprunglich erschienen in Mitteilungen der Magnus Hirschfeld Gesellschaft Nummer 33 34 2002 Seiten 68 90 Online unter http www2 hu berlin de sexology Herzer Manfred zuerst 1998 Hirschfelds Utopie Hirschfelds Religion und das dritte Geschlecht der Romantik Ursprunglich erschienen in Mitteilungen der Magnus Hirschfeld Gesellschaft Nummer 28 1998 Online unter http www2 hu berlin de sexology Mehlmann Sabine 2008 Das sexu alis ierte Individuum Zur paradoxen Konstruktionslogik moderner Mannlichkeit In Brunotte U Herrn R Herausgeber Mannlichkeiten und Moderne Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900 transcript Verlag Bielefeld Seiten 37 55 Neuer Berliner Kunstverein 1986 Androgyn Sehnsucht nach Vollkommenheit Ausstellungskatalog Dietrich Reimer Verlag Berlin Romer L S A M v 1903 Uber die androgynische Idee des Lebens Jahrbuch fur sexuelle Zwischenstufen 5 2 Seiten 709 939 Waldeyer Heinrich Wilhelm Gottfried 1870 Eierstock und Ei ein Beitrag zur Anatomie und Entwicklungsgeschichte der Sexualorgane W Engelmann Leipzig Weininger Otto 1905 Erstauflage 1903 Geschlecht und Charakter Eine prinzipielle Untersuchung 6 Auflage W Braumuller Wien Leipzig Voss Heinz Jurgen 2010 Making sex revisited Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch medizinischer Perspektive Transcript Bielefeld Rezension http dasendedessex blogsport de images Gigi66RezensionMildenbergerVossMakingSexRevisited pdf Voss Heinz Jurgen 2011 Geschlecht Wider die Naturlichkeit Schmetterling Stuttgart Rezension http www dkp queer de download raq 19 2011 pdf Einzelnachweise Bearbeiten L S A M v Romer 1903 Uber die androgynische Idee des Lebens Jahrbuch fur sexuelle Zwischenstufen 5 2 S 709 939 Neuer Berliner Kunstverein 1986 Androgyn Sehnsucht nach Vollkommenheit Ausstellungskatalog Dietrich Reimer Verlag Berlin a b c d Voss Heinz Jurgen 2010 Making sex revisited Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch medizinischer Perspektive Transcript Bielefeld a b Voss Heinz Jurgen 2011 Geschlecht Wider die Naturlichkeit Schmetterling Stuttgart Ulrichs K H 1994 geschrieben 1862 veroffentlicht 1899 Vier Briefe von Karl Heinrich Ulrichs Numa Numantius an seine Verwandten In Kennedy H 1994 Forschungen uber das Rathsel der mannmannlichen Liebe in 4 Banden Band 1 Verlag rosa Winkel Berlin Hirschfeld M 1984 Erstveroffentlicht 1923 Die intersexuelle Konstitution Erweiterung eines am 16 Marz 1923 im hygienischen Institut der Universitat Berlin gehaltenen Vortrags gekurzte Fassung des im Original 1923 schriftlich erschienenen Beitrags In Schmidt W J Herausgeber Jahrbuch fur sexuelle Zwischenstufen eine Auswahl aus den Jahrgangen 1899 1923 Qumran Verlag Frankfurt Main Paris Band 2 Seiten 9 26 Hirschfeld M 1926 1930 Geschlechtskunde Band I bis V Julius Puttmann Stuttgart Band 1 Herzer Manfred zuerst 1998 Hirschfelds Utopie Hirschfelds Religion und das dritte Geschlecht der Romantik Ursprunglich erschienen in Mitteilungen der Magnus Hirschfeld Gesellschaft Nummer 28 1998 Online unter Archivierte Kopie Memento des Originals vom 3 Marz 2011 im Internet Archive nbsp Info Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht gepruft Bitte prufe Original und Archivlink gemass Anleitung und entferne dann diesen Hinweis 1 2 Vorlage 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