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Das Hilfswerk fur die Kinder der Landstrasse entstand 1926 als Projekt der halbstaatlichen schweizerischen Stiftung Pro Juventute Sie wurde unter der Leitung von Alfred Siegfried auf die Beine gestellt mit der von ihm formulierten Intention Wer die Vagantitat erfolgreich bekampfen will muss versuchen den Verband des fahrenden Volkes zu sprengen er muss so hart das klingen mag die Familiengemeinschaft auseinanderreissen 1 Mit Unterstutzung der Vormundschaftsbehorden wurden Kinder von Fahrenden insbesondere Jenischen und ihre Familien systematisch und gegen den Willen der Betroffenen gewaltsam auseinandergerissen Bis 1972 als das Projekt nach offentlichem Druck eingestellt wurde waren davon rund 600 Kinder betroffen Ziel von Kinder der Landstrasse war es die Kinder dem Einfluss der als asozial beurteilten minderheitlichen Lebensverhaltnisse zu entfremden und sie an die vorherrschende mehrheitsgesellschaftliche Lebensweise anzupassen Ein weiteres Ziel war die Entwicklung der Kinder zu brauchbaren Arbeitern fur die Gesellschaft Das Hilfswerk wurde 1973 aufgelost 2 Inhaltsverzeichnis 1 Grundlagen 2 Praxis 3 Aufdeckung und Folgewirkungen 4 Literatur 4 1 Film 5 Siehe auch 6 Weblinks 7 EinzelnachweiseGrundlagen BearbeitenDie rechtliche Grundlage der Kindswegnahmen fand sich im Zivilgesetzbuch von 1912 welches bei pflichtwidrigem Verhalten der Eltern dauernder Gefahrdung oder ganz allgemein bei Verwahrlosung die Vormundschaftsbehorden legitimierte den Eltern das Sorgerecht uber ihre Kinder zu entziehen Zwar sprach das Zivilgesetzbuch von einer Aufsicht uber die Arbeit der Behorden sie wurde aber kaum wahrgenommen Denn im Grunde genommen verfugten nur die Fursorgebehorden uber das Recht den Eltern das Sorgerecht zu entziehen Dass Kinder einer fahrenden Familie angehorten war jedoch ein hinreichender Grund sie den Eltern wegzunehmen Als fachlich fursorgerische Rechtfertigung dienten psychiatrische Gutachten die das Hilfswerk uber seine Mundel anlegen liess Ihre allgemeinwissenschaftliche Grundlegung fand die Haltung der Verantwortlichen nicht allein in der Uberzeugung von der Schadlichkeit einer familiaren Sozialisation in als asozial kategorisierten Familien als welche Familien mit fahrender Herkunft per se galten sondern zugleich auch in erbbiologischen Vorstellungen vom minderwertigen Erbgut Asozialer seien sie sesshaft oder seien sie es nicht das das wertvolle Erbgut der sesshaften Mehrheitsbevolkerung schadigen werde wenn seine Weitergabe nicht verhindert werde Zu den Protagonisten derartiger bevolkerungssanitarer und rassehygienischer Konzepte gehorten der Graubundner Psychiater Josef Jorger mit seinen psychiatrisch eugenischen Schriften uber die Familie Zero oder der deutsche Rassenhygieniker und Zigeuner Experte Robert Ritter Praxis BearbeitenDas Hilfswerk war bestrebt Kinder sowohl nichtsesshafter als auch sesshafter Familien die als Vaganten galten und meist Fahrende genannt wurden zu internieren bzw in Fremdfamilien umzusetzen So gemass dem Verantwortlichen Alfred Siegfried der das Programm der Aktion wie folgt formulierte Wer die Vagantitat erfolgreich bekampfen will muss versuchen den Verband des fahrenden Volkes zu sprengen er muss so hart das klingen mag die Familiengemeinschaft auseinanderreissen Einen anderen Weg gibt es nicht Wenn es nicht gelingt die einzelnen Glieder auf sich selbst zu stellen so werden uber kurz oder lang wiederum von ihrer Sippe eingefangen alles was man fur sie getan hat ist verloren 3 Nicht eine reale fahrende Lebensweise der Eltern war das entscheidende Kriterium der Kindswegnahme sondern die Zugehorigkeit zu einer als kollektive Tragerin sozial schadlicher Eigenschaften eingestuften Randgruppe der Kessler und Korber und ihrer Familien die als Bettler und Diebe angesehen wurden Bundesrat Heinrich Haberlin FDP Stiftungsratsprasident der Pro Juventute bezeichnete die Jenischen in einer 1927 erschienenen Broschure als einen dunklen Fleck in unserm auf seine Kulturordnung so stolzen Schweizerlande den es zu beseitigen gelte 4 In einigen Fallen wurden Kinder der Mutter bereits direkt nach der Geburt weggenommen Die Kinder wurden in der Regel in Heimen in manchen Fallen auch in Fremdfamilien in psychiatrischen Anstalten und auch in Gefangnissen untergebracht oder als Verdingkinder Bauernfamilien als Arbeitskrafte zugeteilt Kontakte zwischen Kindern und Eltern wurden systematisch verhindert Zum Teil wurden sogar die Namen der Hilfswerk Mundel geandert um fur ihre Verwandten unauffindbar zu bleiben Kindsmisshandlungen wurden als Erziehung zur Arbeit legitimiert In den 1930er 40er Jahren erreichten die Kindswegnahmen ihren Hohepunkt Phasenweise standen mehr als 200 Kinder unter der Kontrolle des Hilfswerk 5 Das Hilfswerk benotigte und fand die Unterstutzung von Fursorgestellen Lehrern Pfarrern und gemeinnutzigen Einrichtungen Die Rechtsvorschriften eroffneten Handlungsspielraume die von den Akteuren in unterschiedlicher Weise haufig aber extensiv genutzt wurden Dabei wurden die Grenzen zur offenen Rechtswidrigkeit uberschritten Aufdeckung und Folgewirkungen Bearbeiten1972 veroffentlichte der Schweizerische Beobachter die Schicksale von Menschen die aus ihrer Familie herausgerissen wurden Die meisten Kinder und Eltern litten das ganze Leben lang unter den Aktivitaten des Hilfswerks Offentlicher Druck veranlasste Pro Juventute in der Folge das Hilfswerk im Fruhjahr 1973 aufzulosen Noch bestehende Vormundschaften wurden aufgehoben oder an andere Personen ubertragen Der Bund der die Stiftung jahrelang finanziell unterstutzt hatte zahlte finanzielle Entschadigungen von zwischen 2 000 und 7 000 Schweizer Franken pro Person Eine strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen des Projekts insbesondere der beiden Hauptakteure Alfred Siegfried 1890 1972 und Clara Reust 1916 2000 sowie der Verantwortlichen in den Vormundschaftsbehorden die ihre Aufsichtsfunktion nicht erfullten gab es nicht Sprecher und Unterstutzer der Jenischen als der Gruppe der Hauptbetroffenen unter den Schweizer Fahrenden erheben gegen den Bund den Vorwurf des Volkermords 6 Die UNO Konvention von 1948 qualifiziert die gewaltsame Uberfuhrung von Kindern einer nationalen ethnischen rassischen oder religiosen Gruppe in eine andere Gruppe in der Absicht sie ganz oder teilweise zu zerstoren als Volkermord 7 Dem folgt das schweizerische Strafrecht im Art 264 StGB mit Blick auf eine durch ihre Staatsangehorigkeit Rasse Religion oder ethnische Zugehorigkeit gekennzeichnete Gruppe 8 Die Frage ist ob Jenische einer der genannten Gruppen zuzurechnen seien was in neueren wissenschaftlichen Arbeiten zum Teil bejaht zum Teil zur Diskussion gestellt wird 6 9 10 Heute gibt es die Stiftung Naschet Jenische welche sich fur die Betroffenen einsetzt 11 Im Jahr 1973 wurde Kinder der Landstrasse aufgelost Literatur BearbeitenMariella Mehr zahlreiche Titel zum Thema mit autobiografischem Hintergrund Peter Paul Moser 3 bandige Autobiographie 12 Thomas Huonker Fahrendes Volk verfolgt und verfemt Jenische Lebenslaufe Herausgegeben von der Radgenossenschaft der Landstrasse Limmat Zurich 1987 ISBN 3 85791 135 2 Walter Leimgruber Thomas Meier Roger Sablonier Das Hilfswerk fur die Kinder der Landstrasse Historische Studie aufgrund der Akten der Stiftung Pro Juventute im Schweizerischen Bundesarchiv Schweizerisches Bundesarchiv Bern 1998 ISBN 3 908439 00 0 Bundesarchiv Dossier 9 PDF 223 MB Hansjorg Schneider Hunkeler macht Sachen Zurich 2004 ISBN 978 3 404 15435 7 Krimi in dem Kommissar Hunkeler eine Spur in dieses finstere Kapitel der Schweizer Vergangenheit verfolgt Erhard Stocker Marienseide Herisau Appenzeller Verlag 2006 ISBN 3 85882 434 8 Sara Galle Thomas Meier Von Menschen und Akten Die Aktion Kinder der Landstrasse der Stiftung Pro Juventute Mit DVD Zurich Chronos Verlag 2009 ISBN 978 3 0340 0944 7 Willi Wottreng Zigeunerhauptling Vom Kind der Landstrasse zum Sprecher der Fahrenden Das Schicksal des Robert Huber Zurich Orell Fussli Verlag 2010 ISBN 978 3 280 06121 3 Michael Theurillat Sechselauten Kriminalroman List Verlag Berlin 2010 ISBN 978 3 548 60944 7Film Bearbeiten Die letzten freien Menschen Dokumentarfilm von Oliver M Meyer 1991 Kinder der Landstrasse Spielfilm von Urs Egger 1992 Kinder der Landstrasse Galle Sara Von Menschen und Akten Die Aktion Kinder der Landstrasse der Stiftung Pro Juventute Chronos Zurich 2009 DVD Siehe auch BearbeitenRadgenossenschaft der Landstrasse Robert Huber Politiker Weblinks BearbeitenAkten zum Hilfswerk Kinder der Landstrasse im Archiv der Pro Juventute im Schweizerischen Sozialarchiv Schweizerisches Bundesarchiv Heimatlose und Fahrende Beratungsstelle der Stiftung Naschet Jenische mit Dokumentation des Falles Uschi Waser Volkermordartikel im schweizerischen Strafgesetzbuch Vortrag von Alfred Siegfried uber Ziele Vorgehen und Ideologie des Hilfswerks Thomas Huonker Fahrendes Volk verfolgt und verfemt Jenische Lebenslaufe Zurich 1987 2 Auflage 1990 Volltext PDF 59 7 MB Debatte im Schweizer Parlament 2001 Bestand Dokumentation Kinder der Landstrasse in den Findmitteln des Schweizerischen Sozialarchivs Podcast Sternstunde Kunst Die Kraft aus Wut und Schmerz Zum 60 Geburtstag von Mariella MehrEinzelnachweise Bearbeiten Kinder der Landstrasse 2009 Sara Galle Christoph Wehrli Vaganten als Obsession wie die Organisation Pro Juventute wahrend Jahrzehnten Familien zerstorte In Neue Zurcher Zeitung vom 11 April 2022 sowie Willi Wottreng Sie stahlen ihnen die Kinder In Die Zeit vom 13 April 2022 Alfred Siegfried im Artikel Warum befasst sich Pro Juventute mit den Kindern des fahrenden Volkes in Mitteilungen der Pro Juventute September 1943 Thomas Huonker Ein dunkler Fleck In Merken was lauft Rassismus im Visier Pestalozzianum Zurich 2009 ISBN 978 3 03755 105 9 S 167 174 Online PDF 586 kB Unabhangige Expertenkommission Schweiz Zweiter Weltkrieg Roma Sinti und Jenische Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus a b Unabhangige Expertenkommission Schweiz Zweiter Weltkrieg Volkermord an den Jenischen UNO Konvention uber die Verhutung und Bestrafung des Volkermords Memento vom 21 November 2008 im Internet Archive PDF deutscher Text 84 kB Art 264 StGB Nadja Capus Ewig still steht die Vergangenheit Bern Stampfli 2006 ISBN 3 7272 9124 9 Walter Leimgruber Thomas Meier Roger Sablonier Das Hilfswerk fur die Kinder der Landstrasse Historische Studie aufgrund der Akten der Stiftung Pro Juventute im Schweizerischen Bundesarchiv Schweizerisches Bundesarchiv Bern 1998 ISBN 3 908439 00 0 Bundesarchiv Dossier 9 PDF 223 MB Seelsorge mit den Fahrenden Memento vom 22 Januar 2021 im Internet Archive abgerufen am 16 Januar 2021 Peter Paul Moser Textauszuge seiner AutobiographieNormdaten Korperschaft GND 4553776 8 lobid OGND AKS LCCN no00068490 VIAF 243859204 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Kinder der Landstrasse amp oldid 238857688