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Als Hortypologie oder auch Horertypologie wird in der Musikwissenschaft der Versuch bezeichnet die unterschiedliche Art und Weise des musikalischen Horens in Typen zu gliedern und zu ordnen Ausgehend von westlich antiken Typenlehren der Psychologie des ausgehenden 19 Jahrhunderts wurden insbesondere in der westlichen Musikwissenschaft des 20 Jahrhunderts verschiedene Hortypologien aufgestellt Inhaltsverzeichnis 1 Hortypologien 1 1 Friedrich Rochlitz 1799 1 2 Heinrich Besseler 1925 1 3 Richard Muller Freienfels 1936 1 4 Albert Wellek 1939 1 5 Theodor W Adorno 1962 1 5 1 Experte 1 5 2 Gute Zuhorer 1 5 3 Bildungskonsument 1 5 4 Emotionale Horer 1 5 5 Ressentiment Horer 1 5 6 Jazz Experte 1 5 7 Unterhaltungshorer 1 5 8 Gleichgultige Unmusikalische Antimusikalische 1 6 Hermann Rauhe 1975 1 7 Klaus Ernst Behne 1986 1 8 Peter Schneider 2006 2 Kritik und Fortfuhrung 3 EinzelnachweiseHortypologien BearbeitenFriedrich Rochlitz 1799 Bearbeiten Als eine der ersten Hortypologien gilt diejenige des Musikschriftstellers Friedrich Rochlitz der 1799 vier Typen beschrieb Musikhorer aus Eitelkeit und Mode diejenigen die nur mit den Ohren horen diejenigen die ausschliesslich mit dem Verstande horen und diejenige die mit der ganzen Seele horen 1 Heinrich Besseler 1925 Bearbeiten Der Musikwissenschaftler Heinrich Besseler verband die Rezeption der Musik der verschiedenen Epochen der Musikgeschichte mit verschiedenen Horstilen Zum Beispiel nannte er die Art des Horens von Musik der Renaissance vernehmendes Horen und die der Barockmusik verknupfendes Horen Aktives Horen nannte er die Horweise der klassischen Musik und passives Horen die der romantische Musik 2 Richard Muller Freienfels 1936 Bearbeiten Der Philosoph und Psychologe Richard Muller Freienfels unterschied u a zwischen dem Typ Sensoriker der stark auf das Klangliche bezogen sei dem motorischen Typ dem imaginativen Typ der Bilder und Fantasien zur Musik habe dem reflektierenden Typ und dem emotionalen Typ der die Musik konzentriert miterlebe 3 Albert Wellek 1939 Bearbeiten Der Psychologie und Begrunder der Musikpsychologie Albert Wellek unterschied anhand allgemeiner psychologischer Kriterien zwischen einem linear analytischen verstandesbetonten einem polar zyklischen gefuhlsbetonten und einem gestaltungskraftigen Typus Mit Hortestungen untersuchte er Charakteristika der Intervalleinschatzung dieser Gruppen weiter differenziert nach Menschen mit absolutem oder relativem Gehor Er stellte fest dass der lineare Typus Intervalle nach ihrer Distanz beurteile und daher zur Verwechslung benachbarter Tone neige wahrend der polare Typus sie nach ihrem Konsonanzgrad beurteile und daher zur Verwechslung der Intervalle Oktave Quinte und Quarte neige Der Gestaltungskraftige Typus verbinde die beiden Einschatzungsformen Wellek bringt ferner den linear analytischen Typus mit den starker polyphonen musikalischen Formen in Verbindung den polaren Typus mit kantablem Melos und harmonisch betonter Musik Die Verquickung dieser typogischen Zusammenstellung mit dem nationalsozialistischen Rassendenken zeigt sich in der empirisch nicht weiter untersuchten Zuordnung der beiden Typen zu den Norddeutschen linear und den Suddeutschen resp Osterreichern polar 4 Theodor W Adorno 1962 Bearbeiten Die bekannteste Hortypologie wurde von dem Soziologen und Musikphilosophen Theodor W Adorno unter der Bezeichnung Typen musikalischen Verhaltens aufgestellt Seiner Ansicht nach beruht die Art der Rezeption auf der Gewichtung zwischen Kenntnissen der Musiktheorie Vertrautheit mit bestimmten Musikarten und Besonderheiten der Wahrnehmung Adorno betont dass seine Typologie im Gegensatz zu empirischen Arbeiten die lediglich die Vorlieben Abneigungen und Gewohnheiten von Musikhorern untersuchten die Angemessenheit und Unangemessenheit des Horens in Bezug auf das Gehorte zugrunde lege Seine Typologie zeichne daher ein Bild vom Typus der vollen Adaquanz des Horens bis zum ganzlichen Unverstandnis 5 Experte Bearbeiten Dieser eher selten anzutreffende Typ sei am ehesten bei Berufsmusikern zu finden Seine Fahigkeit liege darin aus dem bereits Vergangenen des Musikstuckes auf das Zukunftige zu schliessen sodass er bereits weiss was als Nachstes kommt Er verstehe und hore gleichzeitig die Kompositionstechnik und konne den Gedanken des Komponisten folgen Gute Zuhorer Bearbeiten Der gute Zuhorer besitze die gleichen Fahigkeiten wie der Experte nur dass er nicht mit den Kompositionstechniken vertraut sei Er konne zwar die Musik charakterisieren und interpretieren bzw beurteilen und hore den Stil verstehe aber die Technik nicht Vergleichbar sei dieser mit einem Menschen der eine Sprache gut beherrsche und sagen konne dass etwas falsch klinge aber aufgrund der fehlenden Grammatikkenntnisse dies nicht begrunden konne Adorno sieht diesen Typus vor allem im aristokratischen Kunstliebhaber des 19 Jahrhunderts reprasentiert Bildungskonsument Bearbeiten Dieser Typus hore viel und sei gut informiert uber das was er hort Er sei der burgerliche Nachfolger des zweiten Typus nehme regen Anteil am Musikleben und habe oft eine entsprechend grosse Schallplattensammlung Er konne aber den musikalischen Strukturen nicht wirklich folgen Sein Interesse sei oft auf Ausserlichkeiten zentriert wie musikalische Personlichkeiten Biografisches Brillanz in der Darbietung Sein Verhaltnis zur Musik habe etwas Fetischistisches Emotionale Horer Bearbeiten Beim emotionalen Zuhorer lose die Musik starke Emotionen aus und ermogliche daruber das Ausleben verdrangter Gefuhle die sonst der rationalen Kontrolle unterlagen Die Struktur der Musik trete daruber in den Hintergrund und Adorno vertritt die Auffassung dieser Typus sei leicht zu manipulieren z B von der musikalischen Unterhaltungsindustrie die eine klischeehafte Musik produziere Ressentiment Horer Bearbeiten Der Ressentiment Horer sei Anhanger spezieller Musikrichtungen identifiziere sich mit dieser und stehe der aktuellen Kulturindustrie verachtlich gegenuber Er hore vor allem die Musik vergangener Zeiten in einer Auffuhrungspraxis die sich um Werktreue bemuhe Adorno sieht diesen Typus mit einer reaktionaren Weltanschauung verbunden Adorno spielt hier auf die zu seiner Zeit beginnende Bewegung der Historischen Auffuhrungspraxis an Jazz Experte Bearbeiten Als Untertypus des Ressentiment Horers zeichne sich auch der Jazz Experte durch das Horen einer speziellen Musikrichtung aus und lehne die offizielle Musikkultur ab Er verschaffe sich uber die Musik ein Ventil und verharre im Ressentiment einer Musik die hinter die Entwicklung der Neuen Musik zuruckfalle Unterhaltungshorer Bearbeiten Der Unterhaltungszuhorer betrachte Musik als Reizquelle wie Alkohol und Zigaretten Er wolle sich ablenken abschalten und vom Alltag wegkommen Dieser Typ sei am haufigsten vertreten und fur die Musikindustrie am bedeutendsten Gleichgultige Unmusikalische Antimusikalische Bearbeiten Diese seien eher selten Die Grunde lagen meistens in der fruhkindlichen Erziehung in Kombination mit technischen Spezialbegabungen Die dem Typus zugehorigen Horer seien realitatsnah Hermann Rauhe 1975 Bearbeiten Der Musikwissenschaftler Hermann Rauhe stellte eine Hortypologie von jugendlichen Popmusikhorern auf Er unterschied zwischen einer zerstreuten Rezeption etwa von Hintergrundmusik einer motorisch reflektorischen Rezeption einer assoziativ emotionalen Rezeption einer empathischen Rezeption bei der die Horer ebenfalls emotional horen aber dazu bewusst bestimmte Musik auswahlen eine strukturellen bzw strukturell synthetische Horweise einer subjektorientierten Horweise bei der der Horer die Widerspiegelung des eigenen Subjekts in der Musik suche und dem integrativen Horen welches verschiedene der genannten Horweisen miteinander verbinde 6 Klaus Ernst Behne 1986 Bearbeiten Der Musikwissenschaftler und Musikpadagoge Klaus Ernst Behne untersuchte in den 1980er Jahren in einer Stichprobe von uber 1200 Schulern die Musikpraferenzen von Kindern und Jugendlichen Die Daten wurden mittels Clusteranalyse ausgewertet und zu Typologien der verbalen und der klingenden Praferenzen zusammengefasst Er entwickelte 37 Horertypen 7 Peter Schneider 2006 Bearbeiten Der Physiker und Kirchenmusiker Peter Schneider untersuchte ob Menschen in Bezug auf den Klang eher den Grundton oder das Obertonspektrum wahrnehmen und stellte fest dass diese Art der Orientierung mit der Wahl bestimmter Instrumente korreliere So seien Grundtonhorer eher bei den Spielern von Schlagzeug Gitarre Klavier Trompete Querflote oder Geige zu finden wahrend Obertonhorer in der Regel Musikinstrumente wie tiefe Streich Blech oder Holzblasinstrumente Orgel oder Gesang ausubten Eine Korrelation zur Musikalitat konnte Schneider nicht feststellen 8 9 Kritik und Fortfuhrung BearbeitenInsbesondere die Typologie Adornos wurde aufgrund ihrer stark wertenden Anordnung und einzelner negativer Einschatzungen wie der Abwertung des Jazz und der Auffuhrungspraxis alter Musik haufiger kritisiert 10 11 oder zum Anlass von Auseinandersetzungen uber Adornos offensichtliche Verachtung des Jazz und der Pop Musik genommen 12 13 Seit den 1970er Jahren werden Hortypologien zunehmend im Zusammenhang mit meist empirisch untersuchten Fragestellungen der musikalischen Praferenzen untersucht Fortsetzungen fand das Forschungsinteresse im Kontext von Horertypologien im kommerziellen Bereich wenn es darum ging Radioprogramme fur bestimmte Horertypen zu konstituieren Dabei steht allerdings die Frage der musikalischen Praferenz und ihre Verwertbarkeit im Vordergrund 14 So untersuchten sowohl das Institut fur Demoskopie Allensbach 1980 als auch die Schweizerische Radio und Fernsehgesellschaft SRG die musikalischen Vorlieben von Horern Die SRG arbeitete dabei mit klingenden Beispielen und fasste die Ergebnisse in funf Typen zusammen die im Hinblick auf ihr Vorkommen auch quanatifiziert und mit weiteren Daten zu Alter Bildungsstand und musikalischer Aktivitat korreliert wurden Der volkstumliche Typ 21 zeichnet sich durch seine Vorliebe zur alpenlandischen Volksmusik aus verfugt uber eine geringe Schulbildung nimmt nicht aktiv am Musikleben teil gehort eher zum alteren Teil der Bevolkerung Der progressive Typ 19 hort aktuellen Jazz Musik der Avengarde spielt haufig selbst eine Instrument ist junger und von gehobenem Bildungsniveau Er lehnt viele Musikrichtungen ab Der Rock Pop Typ 19 hort breit gefachert angelsachsische U Musik Folk Rock aber auch leichte Barockmusik Vom Alter her sehr jung ist diese Gruppe eher im stadtischen Bereich ansassig Der Vielhorer 26 bevorzugt ein breites Spektrum von Schweizer Volksmusik uber Operette bis zu aktuellen Unterhaltungsmusik Er ist mit dem Rundfunkangebot zufrieden und schaut auch gerne Musiksendungen unterschiedlicher Art im Fernsehen Weitere demografischen Zuordnungen sind hier nicht relevant Der Klassik Typ hort die gesamte Bandbreite der Kunstmusik des Barock der Klassik und Romantik aber auch unterschiedliche andere Sparten Auch bei ihm sind weitere demografischen Zuordnungen nicht relevant 15 Betont wurde in dieser und spateren Untersuchungen dass Musikpraferenzen differenzierter zu betrachten seien weil sie zum Beispiel im Verlauf des Lebens wahrend des Tages und situativ wechselten Auch ein Klassik Typ wolle nicht bereits zum Fruhstuck durch das Radio Opern serviert bekommen 16 Einzelnachweise Bearbeiten Bruhn Herbert Oerter Ralf Rosing Helmut Musikpsychologie ein Handbuch Reinbek bei Hamburg 1993 S 130 135 Heinrich Besseler Grundfragen des musikalischen Horens in Jahrbuch der Musikbibliothek Peters 32 Jg 1925 1926 S 35 52 Richard Muller Freienfels Psychologie der Musik Vieweg und Teubner Verlag Berlin Lichterfelde 1936 Springer Fachmedien Wiesbaden Albert Wellek Typologie der Musikbegabung im deutschen Volke Grundlegung einer psychologischen Theorie der Musik und Musikgeschichte Munchen C H Beck 1939 2 durchges u erg Aufl Mit einem Nachtrag Gegenwartsprobleme der Musikpsychologie und asthetik Munchen C H Beck 1970 Theodor W Adorno Typen musikalischen Verhaltens in Einleitung in die Musiksoziologie Taschenbuch Wissenschaft Suhrkamp Frankfurt a M 1975 S 14 34 Hermann Rauhe in Rauhe Hermann Reinecke Hans Peter Ribke Wilfried Horen und Verstehen Theorie und Praxis handlungsorientierten Musikunterrichts Kosel Munchen 1997 S 138 141 Klaus Ernst Behne Horertypologien Zur Psychologie des jugendlichen Musikgeschmacks Gustav Bosse Verlag Regensburg 1986 Peter Schneider Musik im KopfIndividuelle Unterschiede in der Klangwahrnehmung und das zerebrale Sinfonieorchester Dtsch Med Wochenschr 2006 131 2895 2897 doi 10 1055 s 2006 957218 Maria Horl Eine Horertypologie der anderen Art Neue Musikzeitung 2 2011 60 Jahrgang online Abgerufen am 23 Februar 2020 Markus Fahlbusch Adorno und die Musik In der Bruchigkeit erscheint das Bild von Versohnung In Forschung Frankfurt 3 4 2003 S 37 43 Tobias Plebuch Musikhoren nach Adorno Ein Genesungsbericht In Merkur Deutsche Zeitschrift fur europaisches Denken 56 8 2002 S 675 687 Dietrich Diederichsen Pop ist ein Absturz Taz vom 11 Marz 2003 Abgerufen am 23 Februar 2009 Werner Kluppelholz Musikstunde mit Werner Kluppelholz Der Papst der Musik Theodor W Adornos Grosse und Grenzen SWR vom 7 August 2009 Abgerufen am 23 Februar 2020 Andreas C Lehmann Habituelle und situative Rezeptionsweisen beim Musikhoren Eine einstellungstheoretische Untersuchung Schriften zur Musikpsychologie und Musikasthetik Band 6 S 129f Josef Kloppenburg Musikpraferenzen Einstellungen Vorurteile Einstellungsanderungen Helga de la Motte Haber Gunther Rotter Hrsg Musikpsychologie Laaber Verlag Laaber 2005 S 380 Josef Kloppenburg Musikpraferenzen Einstellungen Vorurteile Einstellungsanderungen In Helga de la Motte Haber Gunther Rotter Hrsg Musikpsychologie Laaber Verlag Laaber 2005 S 381 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Hortypologie amp oldid 227916559