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Gog ist die mundartlich schwabische Bezeichnung fur einen Weingartner aus der Tubinger Unterstadt Die Gogen bildeten uber Jahrhunderte eine eigenstandige Bevolkerungsgruppe im sonst stark von Universitatsangehorigen gepragten Tubingen Als typisch fur die Gogen galten Armut geringe Bildung Sturheit Fortschrittsfeindlichkeit und ein schwer verstandlicher Dialekt Uber die Stadtgrenzen hinaus bekannt wurde der Ausdruck Gog vor allem durch die Gogen Witze Mit dem Ende des Tubinger Weinanbaus in der ersten Halfte des 20 Jahrhunderts verschwand die klare Abgrenzung der Gogen von den anderen Bevolkerungsteilen der Stadt Der Wengerter von Ugge Bartle aus dem Jahr 1961 zeigt einen Gog mit einem Reff der typischen aus Weiden geflochtenen Kiepe Die Skulptur steht in der Tubinger Salzstadelgasse Inhaltsverzeichnis 1 Germanistisches 1 1 Etymologie 1 2 Aussprache 1 3 Synonym 1 4 Bedeutungsvarianten 2 Geschichte 3 Okonomisches 4 Einzelnachweise 5 Literarisches 6 WeblinksGermanistisches BearbeitenEtymologie Bearbeiten nbsp Weinanbau am Tubinger Osterberg Fotografie von Paul Sinner 1886 Die etymologische Herkunft des Wortes Gog ist unbekannt 1 2 Folgende Ursprunge werden erwogen Das mittelhochdeutsche Wort Gauch fur Kuckuck Tor Narr Possenreisser oder Schlauberger Schon zu romischer Zeit gab es Winzerneckereien bei denen der Kuckucksruf imitiert wurde um die Weinbauern zu necken die vor dem ersten Kuckucksruf ihren Rebschnitt vollenden mussten wahrend die Weinbauern die Spazierganger wahrend der Weinlese aufs ubelste beschimpften weil sie annahmen dass diese zum Traubenstehlen in die Weinberge gekommen seien 2 Das hebraische Wort Goj fur das Volk der Pobel Die Stiftsstudenten konnten auf diese Weise ihre Nachbarn beschrieben haben ohne ihnen zu erklaren warum Dafur musste man allerdings annehmen dass die Gogenwitze zuerst in der Oberstadt erzahlt wurden 3 Die neutestamentlichen Namen Gog und Magog aus der Offenbarung des Johannes Die Gogen konnten von den Stiftlern mit einem Volk verglichen worden sein das erst am jungsten Tage vom Satan befreit werden wird Ob die Alt Tubinger tatsachlich so schlimme Gesellen waren dass sie sich den Namen einer satanischen dunklen Macht verdienten ist allerdings fraglich 4 Das keltische Wort Gawr fur Riese wie bei der ersten Silbe des mythischen Riesen Gogmagog Der Tubinger Arzt August Goz beschrieb 1908 die ungewohnliche Statur der Gogen allerdings wie folgt Unter dem Weingartnerstand in Tubingen sind noch ganz vereinzelte Familien und Individuen anzufinden welche auf eine vorgermanische Urrasse hinweisen Es ist dies eine nahezu rundkopfige ziemlich flach schadelige grobkiefrige und knochige etwas krummbeinige stark behaarte untermittelgrosse graubraune dickhautige Rasse welche schon in der Jugend etwas nach vorn gebuckt daher kommt 5 Die altschwabischen Begriffe Gagei und Gagel Das Schwabische Worterbuch von Hermann Fischer Band 3 von 1911 erwahnt dass es einige dialektale Ausdrucke gebe an die Gog plausibel anzuschliessen sei So sind bei Fischer schwabisch Gagei ungewohnlich grosser Mensch und Gagel langer magerer Mensch belegt und die Adjektive gagig und gagisch bedeuten ungeschlacht astig stumpf bzw unbeholfen 6 Das schwabische Verb gauklen das dem bairischen gogkeln ahnelt Gaukeln bedeutet etwas auf dem Rucken auf den Schultern tragen wie die Kiepe der Weingartner die diese bei der Weinlese an den Tubinger Steilhangen benutzten 6 Aussprache Bearbeiten Man spricht das Wort mit einer Mischung aus o und a aus also ahnlich wie Goagen aber nicht Gagen sondern Gogen Synonym Bearbeiten Neben dem Ausdruck Gog existiert auch die ebenfalls mundartlich schwabische Bezeichnung Raupe welche meist als Synonym fur Gog verwendet wurde Der Ausdruck Raupe ist bereits fur das Jahr 1576 bezeugt wird aber im Gegensatz zum Ausdruck Gog heute fast nicht mehr verwendet Bedeutungsvarianten Bearbeiten Innerhalb Tubingens bezeichnet das Wort Gog ausschliesslich einen in der Tubinger Unterstadt ansassigen Weingartner Ausserhalb Tubingens wird der Ausdruck aber auch als Bezeichnung fur alle Einwohner Tubingens verwendet Je weiter man sich von Tubingen entfernt desto unbekannter wird das Wort Gog und desto starker uberwiegt die eigentlich falsche Verwendung des Ausdrucks als Bezeichnung fur alle Tubinger unabhangig von Wohnsitz und Profession Geschichte BearbeitenDie Geschichte des Weinbaus im Raum Tubingen reicht bis ins Mittelalter zuruck Die Vereinigung der Tubinger Weingartner die Urbansbruderschaft wurde 1484 zum ersten Mal urkundlich erwahnt Viele Tubinger Weingartner lebten als Ackerburger innerhalb der Stadtmauern Mit Grundung der Universitat 1477 entstand neben dem bauerlichen Tubingen das akademische Tubingen Uber die Jahrhunderte entwickelte sich eine scharfe Trennung zwischen beiden Bevolkerungsgruppen nbsp Typisches Haus in der Unterstadt nbsp Zum Vergleich Typisches Haus in der OberstadtDie Universitatsangehorigen verfugten in aller Regel uber hohe Bildung und ein gesichertes Einkommen Die Weingartner hingegen waren kaum gebildet bis ins 18 Jahrhundert war auch Analphabetismus weit verbreitet Ihr Einkommen war ausserst gering und schwankte mit Umfang und Gute der Weinlese Selbst die Verstandigung zwischen beiden Bevolkerungsgruppen war zum Teil schwierig da Universitatsangehorige die nicht aus Wurttemberg stammten das Schwabische der Gogen kaum verstanden Die Trennung zwischen beiden Gruppen manifestierte sich mit der Zeit sogar im Stadtbild Die Angehorigen des universitaren Tubingens lebten nahezu ausschliesslich in der Oberstadt wahrend die Gogen fast nur die Unterstadt die Gogei bewohnten Die Trennlinie zwischen beiden Gebieten war der Ammerkanal der entlang der Ammergasse Kornhausstrasse und Metzgergasse fliesst Die Bausubstanz beider Stadtteile unterschied sich deutlich Die Hauser der Oberstadt waren zumeist vier bis funfstockig und unterkellert In der Unterstadt liegende Hauser waren in der Regel zwei bis dreistockig und nicht unterkellert da dies wegen des hohen Grundwasserniveaus nicht moglich war Ornamente reprasentative Eingange oder andere Verzierungen an den Gebauden wie sie in der Oberstadt vorkamen gab es in der Unterstadt nicht Dieser extreme Gegensatz zwischen beiden Bevolkerungsgruppen innerhalb der kleinen Stadt um 1800 hatte Tubingen nur circa 5 000 Einwohner sorgte immer wieder fur Konflikte und war Kristallisationspunkt der Gogen Witze 1831 erreichten die Spannungen mit dem durch Polizeiwillkur ausgelosten Gogenaufstand ihren Hohepunkt Der Schriftsteller Hermann Hesse der von 1895 bis 1899 in Tubingen lebte beschrieb seinen Eindruck von den Gogen wie folgt Diese Raupen alias Gagen sind ein horribles Geschlecht schmutzig und vierschrotig und gegenwartig voll neuen Weins Ihr Schwabisch ist echt und faustdick und gemahnt ans Slowakische Mein Weg fuhrt gerade durchs argste Rauberviertel und ich betrachte je nachdem mit Lachen oder Mitleiden die versoffenen Manner die magern schlampigen Weiber und die schmutzigen frechen Kinder Doch scheint es ein gesunder Schlag zu sein 7 Heute ist der kommerzielle Weinbau im Raum Tubingen fast vollstandig zum Erliegen gekommen Auch die klare Trennung zwischen Ober und Unterstadt bezuglich der Bevolkerungsstruktur existiert nicht mehr Dementsprechend beziehen sich die auch heute noch popularen Gogen Witze meist auf die Verhaltnisse im 19 oder im beginnenden 20 Jahrhundert Die Unterschiede zwischen Ober und Unterstadt in der Bausubstanz sind aber nach wie vor sichtbar Okonomisches BearbeitenDie grosse Armut der Gogen hatte mehrere Ursachen Zum einen ist im Raum Tubingen die Erzeugung hochwertiger Weine aufgrund der Bodenbeschaffenheit nicht moglich wodurch niemals hohe Preise fur Tubinger Wein zu erzielen waren Auch die heute von Hobbywinzern oder im Nebenerwerb angebauten Reben erreichen trotz moderner Hilfsmittel und Kunstdungung meist keine hohe Qualitat Zum anderen sorgte die in Wurttemberg ubliche Realteilung fur Bewirtschaftungsflachen die uber die Generationen immer kleiner wurden Im 19 Jahrhundert stand einer Gogenfamilie im Durchschnitt eine Flache von lediglich 3 bis 5 Morgen ca 1 bis 1 5 Hektar zur Verfugung was zur Ernahrung einer Familie kaum ausreichte Eine Ausweitung der Rebflachen war nicht moglich da nur die ohnehin schon vollstandig genutzten Sudhange fur den Weinbau geeignet waren Daruber hinaus lebten die Tubinger Weingartner bis 1848 in mittelalterlich feudalen Strukturen Die bewirtschafteten Flachen waren Eigentum der Feudalherren Die Weingartner mussten von ihrer Ernte 25 als Gult Pachtzins an den Feudalherren abfuhren Dazu kam die Abgabe des Zehnten an den Landesherrn und eine Abgabe von 5 fur die Benutzung der Kelter Dieser Zustand anderte sich erst mit der Weinzehntablosung ab 1848 Die bewirtschafteten Flachen wurden sukzessive in das Eigentum der Weingartner uberfuhrt Die Gogen erhielten das Land aber nicht geschenkt sondern mussten es bis 1873 durch fixe Ratenzahlung an den ehemaligen Feudalherren auslosen Aber auch in den Jahren danach lebten die meisten Gogen in grosser Armut da sich an den ungeeigneten Boden und den zu kleinen Anbauflachen nichts geandert hatte Ausserdem wurden gegen Ende des 19 Jahrhunderts aufgrund der verbesserten Transportwege vermehrt hochwertige Weine in den Raum Tubingen eingefuhrt so dass der Tubinger Wein immer weniger Kaufer fand Daher gaben fast alle Gogen den Weinanbau in den nachfolgenden Jahrzehnten auf oder betrieben ihn nur noch im Nebenerwerb Um 1900 mussten viele ihren Lebensunterhalt mit niedrigen Diensten in den Haushalten der Oberstadt wie beispielsweise dem Leeren der Abortgruben bestreiten oder aufbessern was den Status der Gogen als soziale Unterschicht nochmals festigte 8 Die klare soziale Grenze zwischen Ober und Unterstadt verschwand erst im Laufe der zahlreichen politischen und sozialen Umbruche des 20 Jahrhunderts Einzelnachweise Bearbeiten Gogen Etymologie auf TUpedia a b Bernd Jurgen Warneken Die Gogenwitze oder Tubinger Volkskultur in der Moderne PDF 80 kB Heinz Eugen Schramm Tubinger Gogen Witze Knodler Verlag Reutlingen 1998 Jorg Frauendiener Uber die Herkunft der Bootsnamen in Chronik des Tubinger Rudervereins Fidelia 1877 1911 e V Memento vom 1 Februar 2016 im Internet Archive PDF 1 1 MB S 36 A Goz Wald Wild und Mensch in Wurttemberg Eine Naturstudie Tubingen 1908 S 16 17 Zitiert in Martin Biastoch Tubinger Studenten im Kaiserreich Franz Steiner Verlag 1996 S 182 a b Gesellschaft fur deutsche Sprache Memento vom 30 Dezember 2010 im Internet Archive Wilfried Setzler Hesse in Tubingen Silberburg Verlag Tubingen 2002 Martin Biastoch Tubinger Studenten im Kaiserreich Franz Steiner Verlag 1996 S 180 und 183 Literarisches BearbeitenDas andere Tubingen Kultur und Lebensweise der Unteren Stadt im 19 Jahrhundert Tubinger Vereinigung fur Volkskunde e V Tubingen 1978 Untersuchungen des Ludwig Uhland Instituts der Universitat Tubingen Heinz Eugen Schramm Tubinger Gogen Witze Korner Gerlingen 1975Weblinks BearbeitenGeschichtliches und Statistisches zum Thema Tubinger Weinbau auf TUpedia Tubinger Weinbau Kurzerklarung des Begriffs Gog Memento vom 2 Juli 2010 im Internet Archive Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Gog amp oldid 208467100