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Heinrich Heinz Ratjen 20 November 1918 in Erichshof 1 22 April 2008 2 war ein intergeschlechtlicher deutscher Leichtathlet Unter dem Geburtsnamen Dora Ratjen nahm er 1936 an den Olympischen Spielen in Berlin am Hochsprungwettbewerb der Damen teil und erreichte Platz vier 1938 sprang Ratjen Frauen Weltrekord und wurde Europameisterin Im selben Jahr endete die sportliche Karriere als Frau Anfang 1939 wurde Ratjens formaljuristisches Geschlecht vergleiche Personenstand auf mannlich und sein Vorname auf Heinrich geandert Dora Ratjen 1937 Inhaltsverzeichnis 1 Leben 2 Rezeption 3 Wissenschaftliche Aufarbeitungen 4 Siehe auch 5 Literatur 6 Weblinks 7 EinzelnachweiseLeben BearbeitenAngaben uber Ratjens Biografie sind sparlich und zum Teil widerspruchlich lediglich der Sektion fur Sexualmedizin des Universitatsklinikums Kiel liegen Ermittlungsunterlagen aus den Jahren 1938 und 1939 vor 3 1938 gab diesen Unterlagen zufolge Vater Heinrich Ratjen der Polizei zu Protokoll dass bei der Geburt die ausseren Geschlechtsorgane seines Kindes einem Geschlecht nicht eindeutig zugeordnet werden konnten Da die Eltern jedoch den Angaben der Hebamme trauten das Geschlecht sei weiblich wurde Ratjen als Madchen erzogen trug Madchenkleidung und besuchte eine Madchenschule Von meinen Eltern bin ich als Madchen grossgezogen erklarte Ratjen 1938 bei seiner polizeilichen Vernehmung Von meinem elften oder zwolften Lebensjahr an kam mir schon das Bewusstsein dass ich kein Madchen sondern ein Mann war An meine Eltern habe ich aber niemals die Frage gestellt warum ich als Mann Frauenkleider tragen muss 3 Im Jahre 1934 ergriff Ratjen nach dem Schulabschluss einen Frauenberuf als Packerin in einer Tabakfabrik und trat beim Sportverein Komet Bremen ein Ratjen gehorte bald zu den Besten in der Disziplin Hochsprung war ab 1934 mehrfach Gaumeisterin 1936 bis 1938 dreimal in Folge sogar Deutsche Meisterin im Hochsprung und gehorte damit zu den leistungsstarksten Kandidatinnen fur den deutschen Olympiakader 4 nbsp Dora Ratjen 1937 1936 wurde Ratjen bei den Olympischen Spielen im Hochsprungwettbewerb der Damen mit der Hohe von 1 58 m hinter der Ungarin Ibolya Csak der Britin Dorothy Odam und seiner Mannschaftskollegin Elfriede Kaun Vierte Auch im Olympiafilm von Leni Riefenstahl ist Ratjen zu sehen 5 Als deutsche Meisterin 6 ersetzte Dora Ratjen nicht wie oft vermutet die am Start gehinderte judische Gretel Bergmann sondern war als zweites Teammitglied neben Kaun bei drei Startberechtigungen fur den deutschen Kader ohnehin qualifiziert Der dritte Platz blieb unbesetzt um gegenuber der Weltoffentlichkeit behaupten zu konnen man halte ihn fur die angeblich verletzte Gretel Bergmann frei 4 In der Fach und Tagespresse wurde keine Begrundung geliefert Bei den Leichtathletik Europameisterschaften 1938 in Wien bei denen erstmals Frauen zugelassen waren wurde Ratjen mit der neuen Weltrekordhohe von 1 70 m Europameisterin Auf der Ruckreise stellte ein Magdeburger Polizeiarzt fest dass Ratjen mannliche Genitalien hatte aber durch einen Narbenstrang seit der Geburt eine anatomische Abweichung besass 7 Ratjens Vater erklarte bei seiner Befragung dass Dora im Stehen kein Wasser lassen konne Ratjen selbst war froh daruber dass seine Doppelexistenz beendet war protokollierte die Polizei Er hat diesen Zeitpunkt schon seit langerer Zeit erwartet denn er war sich daruber klar dass eines Tages die sportliche Betatigung als Frau nicht mehr tragbar sein wird 3 In der Offentlichkeit blieb der Fall nachdem einige Tageszeitungen Ratjens Disqualifikation gemeldet hatten 8 danach tabu 9 Am 12 Oktober 1938 erging die Presseanweisung dass uber Dora Ratjen nichts mehr gebracht werden soll Eine Mitteilung im Pressedienst des Reichsbundes fur Leibesubungen vom 8 Oktober dient nur zur Information 10 In dieser Mitteilung erschienen im Fachblatt Der Leichtathlet war kurz bekannt gegeben worden dass Ratjen aus medizinischen Grunden nicht mehr zu Frauenwettkampfen zugelassen sei 11 Ratjen wurden der Meistertitel und vier Weltrekorde aberkannt neue Europameisterin wurde die Olympiasiegerin Ibolya Csak Das Reichsfachamt Leichtathletik Vorlaufer des Deutschen Leichtathletik Verbandes entzog Ratjen das Startrecht bei internationalen Wettbewerben Die Begrundung lautete offiziell Verstoss gegen das Amateurstatut Ratjens Vater wehrte sich zunachst gegen die Tatsache dass Dora ein Mann war Er lehnte anfangs eine Namensanderung ab und erklarte dass Dora unter keinen Umstanden Mannerkleidung tragen durfe Er dulde auf keinen Fall dass Dora einen mannlichen Beruf ergreife 3 Am 11 Januar 1939 wurde das Geschlecht Ratjens in den amtlichen Urkunden und der Vorname in Heinrich geandert Am 10 Marz 1939 wurde das Ermittlungsverfahren gegen Ratjen von der Staatsanwaltschaft Magdeburg eingestellt Der Tatbestand des Betruges entfallt weil die Absicht sich einen Vermogensvorteil zu verschaffen nicht festgestellt werden kann 3 1939 erhielt Ratjen ein neues Arbeitsbuch eine Invalidenkarte und ein Mitgliedsbuch der Deutschen Arbeitsfront Um ihn von seiner Familie zu trennen wurde Ratjen am 1 Oktober 1939 nach Hannover zum Reichsarbeitsdienst vermittelt 4 Am Zweiten Weltkrieg hat Ratjen nach eigenen Angaben als Soldat teilgenommen 12 Spater fuhrte er die von seinen Eltern ubernommene Gastwirtschaft in Bremen Rezeption BearbeitenVerwirrung uber Leben und Rolle der Dora Ratjen entstand vor allem durch einen Artikel des US amerikanischen Time Magazine das 1966 berichtete Neunzehn Jahre spater tauchte Dora als Hermann auf ein Kellner in Bremen der tranenreich gestand dass er von den Nazis gezwungen wurde sich als Frau auszugeben fur den Ruhm und die Ehre Deutschlands Hermann seufzte Fur drei Jahre lebte ich das Leben eines Madchens Es war stumpf 13 2009 schrieb Der Spiegel dazu Ob Time mit Ratjen gesprochen hat ist unklar Die Angaben zu seiner Person in dem Beitrag sind sparlich und unprazise Diese Darstellung wird von da an weiter kolportiert so beispielsweise 1967 von Der Spiegel 14 und gelangte schliesslich auch in die Sportliteratur 15 Das Motiv des von den Nationalsozialisten instrumentalisierten Ratjen nimmt auch der Kinofilm Berlin 36 aus dem Jahr 2009 auf Auch die am Start bei den Olympischen Spielen gehinderte Gretel Bergmann die in der Folge Interviews gab war der Uberzeugung dass es sich um einen Verschworungsplan handelte allerdings stammen ihre Informationen nach eigener Aussage ebenfalls aus Zeitungsartikeln aus den 1960er Jahren Vor diesem Zeitpunkt bestanden von ihrer Seite 16 und bei ihrer Teamkollegin Elfriede Kaun keinerlei Verdacht 17 Im uberlieferten Aktenmaterial der Reichssportfuhrung Polizeibehorden und Gerichte findet sich kein Beleg fur eine solche Intrige 11 Auch in einem Bericht der Sicherheitspolizei an Staatssekretar Hans Heinrich Lammers in der Reichskanzlei unterschrieben von Reinhard Heydrich findet sich lediglich eine weitgehend objektive Schilderung des Sachverhalts 18 Fur einen operativen oder hormonellen Umwandlungsprozess gibt es trotz mehrfacher Erwahnung in Pressemeldungen 19 ebenfalls keinen amtlichen Beleg Verfilmung Berlin 36 Filmdrama von Kaspar Heidelbach Deutschland 2009 Darsteller von Dora Ratjen im Film Marie Ketteler genannt ist Sebastian Urzendowsky Wissenschaftliche Aufarbeitungen BearbeitenFundierte wissenschaftliche Arbeiten uber Ratjen sind rar gesat Dennis Kramer versteht die Behandlung Ratjens in der Zeit des Nationalsozialismus als paradigmatisches Zeitzeugnis wie unter den Bedingungen eines autoritaren Staats mit Menschen mit Geschlechtervariationen umgegangen wurde indem diese durch systematische Pathologisierung Tabuisierung und Kriminalisierung in der Offentlichkeit unsichtbar gemacht wurden Als Belege fuhrt Kramer in der Causa Ratjen unter anderem ein am 22 September 1938 formuliertes arztliches Attest 7 ein Berichterstattungsverbot des Reichsbundes fur Leibesubungen vom 12 Oktober 1938 10 11 sowie die juristisch besiegelte Klassifikation im oppositionellen anderen Geschlecht im Jahr 1939 an in deren Folge Dora Ratjen in Heinrich Ratjen nach dem Vater umbenannt wurde Kramer argumentiert dass es sich bei Ratjen nicht um einen Mann in Frauenkleidern wie nach der Festnahme festgestellt wurde sondern um eine intersexuelle Person handelte die sich im Rahmen der medizinischen Untersuchung selbst als Zwitter outete In Abgrenzung hierzu wurde der intersexuelle Korper somit nicht nur als ein biologischer Widerspruch verhandelt sondern ferner als eine Antipode des Politischen die politische Ordnung jener Zeit unterwandernden Geschlechtskorper markiert und so diskursiv unsichtbar gemacht In diesem Sinne lasst sich das Eingreifen im Falle Ratjens als exemplarischer Beleg dafur begreifen wie eine repressive Staatsform einen autoritaren Gesellschaftskorper uber den Zugriff auf einen einzelnen Geschlechtskorper sicherstellte und so Ordnungssysteme in gesellschaftlichen Teilbereichen wie dem Sport oder den offentlichen Raum stabilisierte Dennis Kramer 20 Siehe auch BearbeitenStella Walsh Stanislawa Walasiewicz Intergeschlechtlichkeit beim Sport Geschlechterunterschiede Geschlechtsuberprufung beim Sport medizinische und genetische Tests bei Sportwettkampfen Liste intergeschlechtlicher SportlerLiteratur BearbeitenBerno Bahro Jutta Braun Berlin 36 Die unglaubliche Geschichte einer judischen Sportlerin im Dritten Reich VBB Berlin 2009 ISBN 978 3 86650 037 2 Dennis Kramer Intersexualitat im Sport Mediale und medizinische Korperpolitiken Transcript Bielefeld 2020 ISBN 978 3 8376 5035 8 S 99 192 Dora Ratjen Doktorarbeit Universitat Hamburg 2019 Weblinks Bearbeiten nbsp Commons Dora Ratjen Sammlung von Bildern Videos und AudiodateienEinzelnachweise Bearbeiten Stefan Berg Olympia 1936 Skandal um Dora In spiegel de 17 September 2009 abgerufen am 27 Juni 2019 aus dem Spiegel Ausgabe 38 2009 mit Angabe des Geburtsortes Gunnar Meinhardt Die unglaubliche Geschichte der Gretel Bergmann In Die Welt 20 August 2009 abgerufen am 6 Juli 2021 a b c d e Ermittlungsakten Ratjen 1938 39 im Bestand der Sektion fur Sexualmedizin des Universitatsklinikums Kiel Zitiert in Stefan Berg Die wahre Dora In Der Spiegel Nr 38 2009 S 150 154 online a b c Berno Bahro Jutta Braun Berlin 36 Die unglaubliche Geschichte einer judischen Sportlerin im Dritten Reich Berlin 2009 Platzierungen bei Meisterschaften nach Berichten in der Tages und Fachpresse Daniel Wildmann Begehrte Korper Konstruktion und Inszenierung des arischen Mannerkorpers im Dritten Reich Konigshausen amp Neumann Wurzburg 1998 S 100 Siehe Der Leichtathlet vom 14 Juli 1936 S 23 Spater wurde der Titel aus den hier beschriebenen Grunden ab und der damals Zweitplatzierten Kaun zuerkannt a b Polizeiarztliches Attest vom 22 September 1938 aus den Ermittlungsakten JPG Nicht mehr online verfugbar In einestages 16 September 2009 archiviert vom Original am 12 Juli 2012 abgerufen am 27 Juni 2019 Faksimile z B Hamburger Nachrichten vom 1 Oktober 1938 Seite 11 Helmut Heiber Joseph Goebbels Colloquium Berlin 1962 S 165 a b Presseanweisung ZSg 102 12 298 1 vom 12 Oktober 1938 In Hans Bohrmann Gabriele Toepser Ziegert Hrsg NS Presseanweisungen der Vorkriegszeit Band 6 Teile 1 3 Saur Munchen 1999 S 957 a b c Stefan Berg Die wahre Dora In Der Spiegel Nr 38 2009 S 150 154 online Jana Haase Ende eines Lebenstraums Der Film Berlin 36 erzahlt vom Schicksal einer judischen Sportlerin und dem Geheimnis ihrer Konkurrentin In Potsdamer Neueste Nachrichten 15 August 2009 abgerufen am 27 Juni 2019 Preserving la Difference Nicht mehr online verfugbar In Time Magazine 16 September 1966 archiviert vom Original am 12 Juni 2008 abgerufen am 27 Juni 2019 englisch Eine Viecherei In Der Spiegel Nr 47 1967 S 113 online Jean O Reilly Susan K Cahn Hrsg Women and Sports in the United States University Press of New England Lebanon NH 2007 S 105 Scott Plous Understanding Prejudice and Discrimination McGraw Hill New York 2003 S 419 Marjorie P K Weiser Jean S Arbeiter Womanlist Atheneum New York 1981 S 22 Gretel Bergmann Ich war die grosse judische Hoffnung Braun Karlsruhe 2003 S 109 Klaus Brinkbaumer Ich wollte zeigen dass ein judisches Madchen die Deutschen besiegen kann Interview mit Gretel Bergmann In Spiegel Online 25 August 2009 abgerufen am 18 September 2009 Winfried Joch ORF Interview 70 Jahre danach Die Olympischen Spiele in Berlin in den Augen einer Zeitzeugin Ein Gesprach mit Elfriede Kaun In Olympisches Feuer Zeitschrift des Deutschen Olympischen Sportbundes und der Deutschen Olympischen Gesellschaft 5 2006 S 48 51 dosb de PDF 5 3 MB Memento vom 15 Februar 2010 im Internet Archive Leichtathletin Dora Ratjen Bericht des Chefs der Sipo 1938 Bundesarchiv R 43 II 728 Die Tschudina kam In Der Spiegel Nr 30 1952 S 22 online Mit Bartchen In Der Spiegel Nr 37 1966 S 85 online Dennis Kramer Intersexualitat im Sport Mediale und medizinische Korperpolitiken Transcript Bielefeld 2020 ISBN 978 3 8376 5035 8 S 190 Normdaten Person GND 139044078 lobid OGND AKS LCCN no2010000394 VIAF 95639152 Wikipedia Personensuche PersonendatenNAME Ratjen HeinrichALTERNATIVNAMEN Ratjen Dora Geburtsname Sportlername Ratjen Heinz Ratjen HermannKURZBESCHREIBUNG deutscher LeichtathletGEBURTSDATUM 20 November 1918GEBURTSORT BremenSTERBEDATUM 22 April 2008 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Heinrich Ratjen amp oldid 229325353