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ʿUrf arabisch عرف Das was allgemein anerkannt ist bezeichnet in der arabischen Stammesgesellschaft und in der islamischen Rechtstheorie das ungeschriebene Gewohnheitsrecht das weder auf den Koran oder die Normsetzung des Propheten Mohammed noch auf den Konsens oder Urteilsbemuhung der islamischen Gelehrten zuruckgefuhrt werden kann Inhaltsverzeichnis 1 Koran und fruhe Interpretationen 2 Aufwertung zur eigenen Rechtsquelle 3 Bedeutung in der Gegenwart 4 Literatur 5 EinzelnachweiseKoran und fruhe Interpretationen BearbeitenDer Begriff ʿUrf kommt schon im Koran vor So heisst es in Sure 7 199 Ube Nachsicht gebiete den ʿUrf und wende dich von den Torichten ab Der Begriff ist von der gleichen arabischen Wortwurzel abgeleitet wie der Ausdruck al maʿruf das Rechte das Anerkannte in der koranischen Wendung Das Rechte gebieten und das Verwerfliche verbieten Aus der obigen koranischen Aussage wurde in der islamischen Rechtstheorie abgeleitet dass ʿUrf normativen und autoritativen Charakter hat allerdings war die Abgrenzung gegenuber anderen Rechtsquellen nicht immer ganz klar Abu Yusuf gest 798 zum Beispiel betrachtete ʿUrf noch nicht als eine eigene Rechtsquelle sondern als Teil der Sunna die seiner Auffassung nach nicht nur die Rechtspraxis des Propheten umfasste sondern auch den allgemeinen Rechtsbrauch Uberschneidungen ergaben sich auch mit dem Idschmaʿ Konsens doch wurde hier die Abgrenzung so getroffen dass Idschmaʿ nur den Konsens der Rechtsexperten darstellen soll wahrend ʿUrf das ubereinstimmende Verhalten der Allgemeinheit der Menschen sei 1 Aufwertung zur eigenen Rechtsquelle BearbeitenBesonders im Kaufrecht spielte ʿUrf schon fruh eine wichtige Rolle Hier galt der Grundsatz Das was durch ʿUrf feststeht ist wie das was durch eine Vertragsklausel feststeht aṯ ṯabit bi l ʿurf ka ṯ ṯabit bi s sarṭ 2 Erheblich grossere Bedeutung mass spater der hanafitische Gelehrte az Zahidi st 1260 dem ʿUrf bei Er vertrat in seinem Rechtswerk Qunyat al Munya die Auffassung dass es Mufti und Qadi nicht erlaubt sei allein nach der allgemeinen Auffassung des Madhhab zu urteilen sie vielmehr auch immer den ʿUrf berucksichtigen mussten 3 Der hanafitische Gelehrte Ibn Nudschaim gest 1563 meinte dass der ʿUrf ebenfalls bei der Beurteilung von Eiden aiman zugrunde zu legen sei 4 Ibn Nudschaim war auch der erste Gelehrte der die Aufwertung des ʿUrf zu einer eigenstandigen Rechtsquelle beschrieb So sagte er in seinem Rechtswerk al Asbah wa n naẓaʾir Wisse dass man im Fiqh bei so vielen Problemen auf Gewohnheit ʿada und Brauch ʿurf zuruckgreift dass man es zu einer Rechtsquelle aṣl gemacht hat 5 Hanafitische Gelehrte befassten sich insgesamt am intensivsten mit dem ʿUrf Sie teilten ihn in verschiedene Unterarten ein indem sie 1 zwischen Sprachbrauch ʿurf qauli und Handlungsbrauch ʿurf ʿamali unterschieden 2 zwischen allgemeinem Brauch ʿurf ʿamm und speziellem Brauch ʿurf ḫaṣṣ also solchem Brauch der lokal sozial oder sonstwie begrenzt war sowie 3 zwischen gesundem Brauch ʿurf ṣaḥiḥ und schlechtem Brauch ʿurf fasid Als schlechten Brauch betrachteten sie jeden Brauch der im Widerspruch zu den vier anderen Rechtsquellen stand Er sollte nicht als argumentative Grundlage im Recht verwendet werden durfen 6 Hinsichtlich der Stellung des speziellen Brauchs gab es Meinungsverschiedenheiten Einige Gelehrte urteilten jedoch dass er berucksichtigt werden musse und damit allgemeine Rechtsregeln spezifiziert werden konnten 7 Die Aufwertung des ʿUrf zur Rechtsquelle ermoglichte in der Fruhen Neuzeit in den hanafitischen Gebieten die Anpassung der islamischen Normen an die sozialen Realitaten und leitete einen Prozess der praktischen Sakularisierung des islamischen Rechts ein 8 Dieser Prozess kam mit der Veroffentlichung der osmanischen Mecelle zum Abschluss die in ihrer Einleitung zehn Rechtsmaximen zum ʿUrf enthielt Eine dieser Maximen lautet Festlegung durch ʿUrf ist wie eine Festlegung durch heiligen Textbeleg zu beurteilen At Taʿyin bi l ʿurf ka t taʿyin bi n naṣṣ 9 Bedeutung in der Gegenwart BearbeitenAuch heute noch argumentieren viele muslimische Gelehrte mit ʿUrf allerdings bestehen unterschiedliche Ansichten hinsichtlich seines Stellenwertes im Gesamtsystem der Rechtsquellen die auch mit unterschiedlichen Madhhab Traditionen zusammenhangen 10 Aufgrund der grossen Rolle des ʿUrf im islamischen Recht wird die Kenntnis der jeweils vorherrschenden Sitten und Gebrauche als eine Voraussetzung fur die Ausubung des Idschtihad betrachtet 11 Literatur BearbeitenHaim Gerber Islamic Law and Culture 1600 1840 Leiden u a 1999 S 105 116 Thomas Gerholm Hadia Mubarak Art ʿUrf in John L Esposito ed The Oxford Encyclopedia of the Islamic World 6 Bde Oxford 2009 Bd 5 S 491 495 Wael Hallaq A Prelude to Ottoman Reform Ibn Abidin on Custom and Legal Change in I Gershoni et al eds Histories of the Modern Middle East New Directions Lynne Rienner Boulder amp London 2002 S 37 61 Baber Johansen Coutumes locales et coutumes universelles aux sources des regles juridiques en droit musulman hanefite in Annales islamologique 27 1993 29 35 Wieder abgedruckt in B Johansen Contingency in a Sacred Law Legal and Ethical Norms in the Muslim Fiqh Leiden u a 1999 S 163 171 Birgit Krawietz Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam Berlin 2002 S 291 313 Gideon Libson On the Development of Custom as a Source of Law in Islamic Law and Society 4 1997 131 155 Gideon Libson Art ʿUrf 1 The status of custom in Islamic law in The Encyclopaedia of Islam New Edition Bd X S 887b 888b Sebastian Maisel Das Gewohnheitsrecht der Beduinen der Stellenwert von Urf in den Rechtsvorstellungen tribaler Gruppen im Norden der Arabischen Halbinsel Lang Frankfurt am Main 2006 F H Stewart Art ʿUrf 2 Arab customary law in The Encyclopaedia of Islam New Edition Bd X S 888b 892a Christoph Werner Urf oder Gewohnheitsrecht in Iran Quellen Praxis und Begrifflichkeit in Michael Kemper und Maurus Reinkowski Hrsg Rechtspluralismus in der Islamischen Welt De Gruyter Berlin 2005 S 153 175 Einzelnachweise Bearbeiten Vgl Krawietz 296f Zit Libson ʿUrf 1 The status of custom in Islamic law in EI Bd X S 888a Vgl Hallaq A Prelude to Ottoman Reform 2002 S 46 Vgl Ibn Nuǧaim al Asbah wa n naẓaʾir Ed Muhammad Muṭiʿ al Ḥafiẓ Dar al Fikr Damaskus 1983 S 107f Zit Libson ʿUrf 1 The status of custom in Islamic law in EI Bd X S 888a Vgl Krawietz 294 302 Vgl Johansen 199 165 und Krawitz 298 Vgl dazu Gerber 105 Vgl Krawietz 311 Vgl Krawietz 307f Vgl Krawietz 311 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title ʿUrf amp oldid 235766509