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Meine Zeit ist die Nacht russisch Vremya noch Wremja notsch ist eine Erzahlung der russischen Schriftstellerin Ljudmila Petruschewskaja aus dem Jahr 1990 in der auf satirische Weise die Psychologie des Schreibens thematisiert wird Es wird dargestellt wie individuelle und gesellschaftliche Selbsttauschung auf der Basis von personlichen und politischen Narrativen dazu dient bestehende Machtstrukturen auf unerwartete Weise zu reproduzieren Stark abweichend von einer herkommlich verklarenden Darstellung der Babuschka wird hier voll bitterer Ironie eine Grossmutter als die groteske und sich selbst bemitleidende Erzahlerin Anna Andrianowna portratiert die zu Petruschewskajas bemerkenswertesten Schopfungen zahlt Trotz ihrer oft beschworenen Liebe fur ihre Kinder und vor allem fur das Enkelkind Tima schreibt die Erzahlerin Anna durchgangig so dass sie sich unfreiwillig selbst als verruckt und sadistisch uberfuhrt 1 Implizit gefragt wird wie eine solche Situation zustande gekommen ist Eine Ubertragung ins Deutsche von Antje Leetz wurde 1991 von Rowohlt in Berlin herausgebracht 2 Den Booker Preis anzunehmen fur den Wremja notsch 1993 auf die Shortlist kam lehnte Petruschewskaja ab mit der Begrundung sie wolle die Verleihungszeremonie und opulente Bewirtung nicht im Fernsehen ubertragen wissen zu einem Zeitpunkt an dem viele ihrer normalen Landsleute in Russland schwer zu hungern haben 3 Inhaltsverzeichnis 1 Inhalt 2 Interpretation 3 Stil 4 Rezeption 5 Ausgaben 5 1 Deutschsprachige Ausgabe 6 Literatur 7 Anmerkung 8 EinzelnachweiseInhalt BearbeitenDie Poetin und ehemalige Universitatsdozentin 4 Anna Adrianowna ist um die 55 Jahre alt A 1 und beschreibt den Niedergang ihrer heissgeliebten Familie In die tagebuchartigen Notizen sind Beitrage der poetisch veranlagten Tochter Aljona eingelegt Anna liebt die Ihrigen ausnahmslos und verzeiht ihnen nach eigener Auffassung alles zum Beispiel wenn der Sohn Andrej ihr das Wort verbietet Sei still du alte Sau 5 Oder wenn er fordert fick doch deine Mutter 6 versetzt sie nachsichtig das sei technisch unmoglich Andrej ein vorbestrafter Krimineller und zwei Jahre alter als Aljona erweist sich als vollkommen eheunfahig Die Erzahlerin verrat dem Leser nicht fur welches Verbrechen Andrej ins Arbeitslager musste aber dass sie den Sohn nach verbusster Strafe aus dem Butyrkagefangnis abgeholt hat ist ihr wichtig zu sagen Offenbar hat Andrej hat auch noch die Schuld anderer Gesetzesbrecher auf sich genommen was auf Bandenkriminalitat schliessen lasst Die Poetin erzahlt dass diese Ganoven sie bedrangt haben und wie sie nachgibt und der Gang auf der Sparkasse das letzte Guthaben ihrer Mutter Sima ubergibt Andrej der von seiner Mutter Anna wieder und wieder Geld verlangt beziehungsweise erbettelt rutscht schliesslich vor ihr auf Knien Dabei leidet Anna zusammen mit der Familie Hunger und es wird erzahlt dass sich Anna und ihr Enkel Tima nach gelegentlichen Lesungen vor Jungen Pionieren richtig sattessen und dass sie sich zudem von jener Lesung belegte Brote mit nach Hause nimmt Die Poetin erzahlt ferner dass ein menschenfreundlicher Redakteur sie fur das Beantworten von Leserbriefen ein paar Kopeken verdienen lasst Von Aljonas drei Kindern Tima eigentlich Timofej Katja und Nikolai ist der alteste Enkel Tima Annas Liebling und Ziehkind Die Vater von Aljonas Kindern haben sich aus dem Staube gemacht Die kleine Katja hat Aljona von ihrem stellvertretenden Direktor einem 15 Jahre alteren Verheirateten Die Studentin und Mutter Aljona schmokert die Nacht durch verschlaft die morgendlichen Vorlesungen und fallt dann bei Prufungen gelegentlich durch Sieben Jahre schon liegt Annas Mutter Sima genauer Serafima Georgijewna Golubewa im Krankenhaus Die alte Frau hatte zuvor Annas Mann aus dem Haus geekelt Nun soll die Schizophrene aus dem Moskauer Krankenhaus nach auswarts in die Psychiatrie verlegt worden Der Pferdefuss Simas Rente wird in dem Falle der Staat kassieren Anna will die Mutter einen schweren Pflegefall nach Hause holen Dabei nimmt sie den Kampf gegen alle moglichen Widrigkeiten wie den russischen Winter und die heimische Burokratie auf Der Text endet mit einer subjektbeladenen Aufzahlung Aljona Tima Katja Nikolai Andrej Serafima Anna 7 Interpretation BearbeitenAnna sahe sich gern als eine Marina Zwetajewa oder eine zweite Anna Achmatowa Ihren Vornamen erhielt sie in Anlehnung an Achmatowa und bei Lesungen lasst sich Anna immer als die Dichterin Anna ankundigen Mit einer parodistischen Falschzitierung aus Achmatowas Requiem subvertiert und trivialisiert Petruschewskaja das Bild der Achmatowa als Muse des Klagens und Allmutter Russlands das durch Zwetajewa propagiert worden war Mit ihrer Charakterisierung der Erzahlerin und Poetin Anna rebelliert Petruschewskaja gegen Achmatowas Selbst Stilisierung als Martyrerin und persifliert damit den poetischen Heroinnenkult der russischen Moderne Dies lasst sich an einem Beispiel verdeutlichen Wahrend jene ihren politisch verfolgten Sohn betrauert handelt es sich in Wremja notsch um einen kriminellen Sohn und auch dessen Mutter bedarf des Trostes Petruschewskaja versucht auf diese Weise eine Brucke zu schlagen zwischen sogenannter hoher und niedriger Kultur indem sie beide ironisiert 3 Selbst wenn Petruschewskaja die Erzahlerin als verruckt und sadistisch darstellt so ist dies als Bestandteil der Intention der Autorin aufzufassen das Augenmerk darauf zu lenken in welcher Situation sich viele Grossmutter in Russland tatsachlich befinden vor allem angesichts der Mythisierung ihrer Rolle Die Autorin ist hier keineswegs unsolidarisch sondern thematisiert in drastischer Weise die Gewaltformigkeit des Einflusses von Geschichten wie sie allgemein uber Grossmutter kursieren 1 Stil BearbeitenLjudmila Petruschewskaja zieht in ihrem Meisterwerk des absurden Schwarzen Humors 1 alle moglichen Register und auch an hintergrundigem Spass fehlt es nicht Der Ton ist meist uberreizt und es reihen sich neun Skandale aneinander die sich bis auf einen in hauslicher Idylle abspielen Petruschewskaja arbeitet in grotesker Parodie die Vertrautheit der Familienholle aus die parallel zu Skandalszenen von Dostojewski gelesen werden konnen Sie kommt dabei allerdings ohne die Beteiligung Fremder aus und die Skandale nehmen zumeist vor unsichtbarem Publikum ihren Lauf Bei der Schilderung der Skandale reiht die Erzahlerin Episoden Bemerkungen Abschweifungen erinnerte Erinnerungen und Anekdoten aneinander die unterbrechend wirken so dass der Leser sich fragt wann es mit der eigentlichen Sache denn weitergeht 8 Dabei wechseln sich zwei Stile ab Mit einer bitteren und hamischen Stimme zeichnet sie ihr spatsowjetisches Leben in Moskau als schmutzig und elend und von Armut gepragt ihre andere Stimme beschreibt ubersattigt und in verzucktem Ton ihren geliebten Enkelsohn Tima 1 Als Themen fur Skandale dienen im Tagebuch der Tochter Aljona die Beschreibung ihrer wuchtigen Defloration bei der Tima gezeugt wurde 9 oder Anna erkennt dass in den Nervenkliniken die Normalen vor den Verruckten abgeschirmt wurden die derweil draussen in Freiheit leben Oder zu Hause wird festgestellt die mannstolle Aljona kommt in der warmeren Jahreszeit morgens mit ihrem hellen Mantel heim der auf dem Rucken uber Nacht ganz grun geworden ist Und Anna hat mit der Polizei ihre Erfahrungen gemacht Die Miliz kommt ubrigens gern wenn der Tater noch da ist 10 Rezeption BearbeitenIn ihrer Rezension im Spiegel schrieb Annette Meyhofer 1992 dass Petruschewskaja mit literarischem Existentialismus den nackten Kampf ums Uberleben schildert der nicht wie bei Kundera oder Szczypiorski philosophisch geschont daherkomme sondern roh widerwartig und abstossend aber so ihr Resumee Am Ende ist auch das nur eine Fiktion Hier drohe eine zu lange verschwiegene Wirklichkeit dasjenige zu verdrangen was uber die Beschreibung der Wirklichkeit der gewohnlichen Schizophrenie einer Gesellschaft die um die Aufrechterhaltung ihrer Fassaden kampft hinausgehe Dementsprechend stellt das Ergebnis des nachtlichen Schreibens der monologisierenden bekennenden und sich selbst rechtfertigenden Ich Erzahlerin Anna Andrianowna ein Gespinst aus Lugen und Lyrismen halb eingestandenen Grausamkeiten und offener Bosheit dar so Meyhofer 11 Ausgaben Bearbeitenin Novyj mir Nr 2 1992 S 65 110 Vremya noch bei litmir net Vremya noch bei litkarta ruDeutschsprachige Ausgabe Bearbeiten Ljudmila Petruschewskaja Meine Zeit ist die Nacht Aufzeichnungen auf der Tischkante Aus dem Russischen von Antje Leetz Rowohlt Berlin 1991 ISBN 3 87134 021 9 als Taschenbuch rororo 13528 Reinbek bei Hamburg 1994 ISBN 3 499 13528 0 Literatur BearbeitenAlexandra Smith In Populist Clothes Anarchy and Subversion in Petrushevskaya s Latest Fiction in New Zealand Slavonic Journal 31 1997 S 107 126 Josephine Woll Kitchen Scandals A Quasi Bakhtinian Reading of Liudmila Petrushevskaya s The Time Night in Against the Grain Parody Satire and Intertextuality in Russian Literature Edited by Janet G Tucker Table of Contents Slavica Bloomington Indiana 2002 S 185 196 Angelika Dopper Henrich Grossmutter oder auch Grosse Mutter in Der Weg der alten Frau in der Literatur Inhaltsverzeichnis Verlag Pro Business 2008 539 Seiten ISBN 978 3 86805 217 6 S 138 141 Connor Doak Babushka Writes Back Grandmothers and Grandchildren in Liudmila Petruschevskaia s Time Night in Forum for Modern Language Studies 47 2 2011 S 170 181 Johanna Renate Doring Smirnov Ljudmila Petruschewskaja geb 1938 Dichterin Dramatikerin Chansonniere in Von Puschkin bis Sorokin Zwanzig russische Autoren im Portrat Inhaltsverzeichnis Bohlau Koln 2013 360 Seiten ISBN 978 3 412 22138 6 S 270 283 Jenny Offillnow New Novellas About Family by Ludmilla Petrushevskaya The New York Times 26 November 2014Anmerkung Bearbeiten In der erzahlten Zeit ist Aljona vierundzwanzig Verwendete Ausgabe S 88 unten Bei Aljonas Geburt war Anna einunddreissig Verwendete Ausgabe S 63 9 Z v o Einzelnachweise Bearbeiten a b c d Connor Doak Babushka Writes Back Grandmothers and Grandchildren in Liudmila Petruschevskaia s Time Night in Forum for Modern Language Studies 47 2 2011 p 170 181 Verwendete Ausgabe S 3 4 a b Alexandra Smith In Populist Clothes Anarchy and Subversion in Petrushevskaya s Latest Fiction in New Zealand Slavonic Journal 31 1997 S 107 126 Doring Smirnov S 279 14 Z v o Verwendete Ausgabe S 59 9 Z v o Verwendete Ausgabe S 90 1 Z v o Verwendete Ausgabe S 155 3 Z v u Josephine Woll Kitchen Scandals A Quasi Bakhtinian Reading of Liudmila Petrushevskaya s The Time Night in Against the Grain Parody Satire and Intertextuality in Russian Literature Edited by Janet G Tucker Table of Contents Slavica Bloomington Indiana 2002 p 185 196 Verwendete Ausgabe S 22 unten S 29 oben sowie S 30 32 Verwendete Ausgabe S 105 6 Z v o Annette Meyhofer Aus meinem Blut und Hirn SPIEGEL Redakteurin Annette Meyhofer uber die Moskauer Autorin Ljudmila Petruschewskaja Der Spiegel 27 Januar 1992 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Meine Zeit ist die Nacht amp oldid 213149082