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Das Marburger Manifest ist eine Erklarung vom 17 April 1968 in der sich zunachst 35 Hochschullehrer der Philipps Universitat Marburg gegen die Ubertragung des parlamentarischen Proporzsystems also des Verhaltniswahlrechts unter Einbeziehung studentischer Vertreter auf die Universitaten und gegen eine Demokratisierung der Hochschulen zur Wehr setzten Dem schlossen sich weitere rund 1 500 konservativ und traditionell eingestellte Hochschullehrer von etwa 30 Hochschulen in den damaligen westdeutschen Bundeslandern an Inhaltsverzeichnis 1 Ausgangslage 2 Inhalte 3 Reaktionen 4 Literatur 5 Weblinks 6 EinzelnachweiseAusgangslage BearbeitenAls ein fruher Ausgangspunkt fur diese Protesterklarung ist zunachst die vom Wissenschaftsrat zu Anfang der 1960er Jahre empfohlene materielle Erweiterung der west deutschen Hochschullandschaft anzusehen die sich aufgrund der gestiegenen Studierendenzahlen des erweiterten Facherangebotes und modernerer Ausstattungen als erforderlich erwies und daher von der Kultusministerkonferenz KMK entsprechend umgesetzt wurde Dabei wurden die traditionellen Strukturen einer sogenannten Ordinarienuniversitat zunachst nicht angetastet sondern es wurden lediglich unter anderem Fragen zur Hochschullehrerbesoldung geklart Vor dem Hintergrund der Westdeutschen Studentenbewegung der 1960er Jahre war diese konservative Einstellung jedoch nicht langer aufrechtzuerhalten und die Hochschulen waren gefordert die starker werdenden Mitbestimmungsbestrebungen der Studenten zu berucksichtigen Dem Land Hessen fiel dabei eine Vorreiterrolle zu Es verabschiedete am 11 Mai 1966 als erstes Bundesland ein neues allgemeines Hochschulgesetz in dem unter anderem die Beteiligung der Studenten an der Wahl des Rektors festgeschrieben wurde Dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund ging dies nicht weit genug und es kam zur Forderung nach einer funktionsgerechten Mitsprache der an Forschung und Lehre beteiligten Gruppen einschliesslich der Studenten was als paritatisches Mitbestimmungsrecht unter dem Schlagwort Demokratisierung zum Kampfbegriff avancierte Der damalige Rektor Otfried Madelung schlug daraufhin im Dezember 1967 dem Senat vor eine paritatische Beteiligung zu genehmigen die im Marburger Modellfall mit 40 Ordinarien 20 habilitierten Nichtordinarien 20 akademischen Mitarbeitern und 20 Studentenvertretern im satzungsgebenden Senat mundete Am 9 Januar 1968 verabschiedete die Westdeutsche Rektorenkonferenz ein Reformprogramm fur die Universitaten das den Forderungen der Studentenschaft nach Demokratisierung und Modernisierung des Hochschulbetriebs entgegenkam und empfahl darin erweiterte Informations und Beratungsrechte Kurz darauf entstand ein schriftliches Memorandum von zunachst 23 Professoren der Marburger Hochschule in dem den studentischen Wortfuhrern eine Art Machtergreifung unter weltanschaulichen Aspekten unterstellt wurde Darin hiess es es sei ein Irrtum zu glauben der Universitatskorper konne zu einem Spiegelbild eines demokratischen Volkskorpers werden Am 26 Februar 1968 artikulierte auch der Ordinarius fur Kirchen und Dogmengeschichte Ernst Benz in der Zeitung Die Welt seine Einwande gegen die Anwendung der sogenannten Demokratisierung auf die Universitat In der Folge kam es zu massiven Protesten vor allem durch die in Marburg beheimatete Humanistische Studentenunion und den AStA Vorsitzenden Christoph Ehmann aber auch einzelne Mitglieder des Lehrkorpers Dies wiederum veranlasste den Professor fur Zivilrecht Ernst Wolf dem AStA Vorsitzenden mit einer Schadenersatzklage zu drohen und den Kollegen Wolfgang Abendroth der mangelnden Verfassungstreue zu bezichtigen Am 10 April 1968 beschloss die Kultusministerkonferenz neue Grundsatze fur ein modernes Hochschulrecht und fur eine strukturelle Neuordnung des Hochschulwesens die allen Gruppen der Universitaten mehr Mitspracherechte geben und die Privilegien der Hochschullehrer einschranken sollten Daraufhin wurde schliesslich von Wolf Benz und weiteren 33 Kollegen das Marburger Manifest aufgesetzt In diesem Manifest sprachen sie sich in einer gegenuber dem ersten Memorandum leicht abgeschwachten Form gegen die volle studentische Mitbestimmung und zu weit gefasste Reformbemuhungen aus Inhalte BearbeitenDie 35 Marburger Professoren brachten im Marburger Manifest in sechs Abschnitten ihre ernsten Bedenken gegen die Demokratisierung der Hochschule zum Ausdruck wobei sie nun auf allzu aggressive Formulierungen wie sie anfangs im Memorandum der 23 enthalten waren verzichteten So tauchen beispielsweise historisch belastete Begriffe wie Machtergreifung oder Volkskorper nicht mehr auf Im Einzelnen beschreiben die Absatze auszugsweise folgende Gesichtspunkte Die Forderung einer Funftel oder gar Drittelbeteiligung von Studentenvertretern in massgebenden Universitatsgremien widerspreche der durch das Grundgesetz garantierten Freiheit der wissenschaftlichen Forschung und Lehre und damit der Hochschulselbstverwaltung Ferner sprechen die Verfasser den Studenten die Legitimation ab parlamentarische Volksvertreter zu ersetzen und hinterfragen zugleich ob eine Studentenschaft als Zwangsorganisation mit politischem Mandat uberhaupt rechtens sei Bei Einfuhrung eines Proporzsystems wurde die Organisationsstruktur der Hochschulen in Interessenverbande zerfallen in denen Personen sassen die sich erst anschickten Wissenschaft zu erlernen und zudem als Studierende nur kurz an einer Hochschule blieben Aus Sicht der Verfasser konne es nicht sein dass vereidigte und disziplinarrechtlich verantwortliche Hochschullehrer mit Studenten gleichgestellt wurden denen die Sachkenntnis fehle und die zudem von jeder rechtlichen Verantwortung entbunden seien da kein wirksames Studentendisziplinarrecht existiere und somit eine Staatshaftung fur nicht selbst haftbare Studentenvertreter eintreten musste Bei Einfuhrung eines Proporzsystems wurden die Hochschulgremien zu unubersichtlicher Grosse anschwellen und in endlosen Debatten arbeitsunfahiger und kostspieliger werden was die Arbeitsmoral der Wissenschaftler und Forscher zermurben konne Zudem entstunde eine Diskrepanz zwischen der Zustandigkeit und der Verantwortung fur Beschlusse da die Studentenvertreter zwar mitentscheiden wollten die Umsetzung der Beschlusse jedoch allein den Hochschullehrern zugemutet wurde Der Marburger Modellfall wurde nicht nur eine Verfassungsanderung bedeuten sondern eine vollig neue Institution schaffen fur deren Rechtswirksamkeit die alte Hochschulverfassung die in ihren Grundzugen aus den Angeln gehoben werden solle nicht herangezogen werden konne Uberdies sei dieser Vorgang unvereinbar mit Art 5 Abs 3 des Grundgesetzes da eine derartige Neugestaltung der Hochschulverfassung die wissenschaftliche Forschung und Lehre in grundrechtswidriger Weise gefahrde Die Hochschullehrer hielten es fur ungesetzlich und mit ihrem Amtseid nicht vereinbar loyal gegenuber Verfassungsanderungen zu stehen die eine Erfullung ihrer Pflichten nach bestem Wissen und Gewissen unmoglich machten da sie im Gegensatz zu den im Amtseid geleisteten Voraussetzungen stunden Im Absatz 6 weisen die Verfasser darauf hin dass keine Kulturstaaten der Erde auf die Idee gekommen seien ihre Universitaten zu demokratisieren Keine Gesellschaft konne es sich leisten ihre hochqualifizierten Fachleute zu zwingen ihre Sachentscheidungen von weisungsgebundenen nicht sachverstandigen und nicht verantwortlichen Mitgliedern abhangig zu machen Diese Abhangigkeiten sowie die zeitraubenden Sitzungen in den Institutsraten wurden zudem fur die freie Wirtschaft zu einem gefahrlichen Wettbewerbsnachteil fuhren Die Unterzeichner sind sich daruber einig dass eine Demokratisierung der Hochschulen eine geschwachte deutsche Universitatslandschaft zur Folge haben wurde Sie sprechen sich hingegen fur eine Reform aus bei der neben den Ordinarien auch den Nichtordinarien und den akademischen Mitarbeitern gemass ihren Qualifikationen eine abgestufte Mitsprache eingeraumt werden konne betonen jedoch abschliessend nochmals die Ablehnung eines Mitbestimmungsrechts der Lernenden in Fragen der Forschung und Lehre Reaktionen BearbeitenNach der Unterzeichnung des Manifests am 17 April 1968 in Marburg wurde es durch die Arbeitsgemeinschaft zum Schutz der Freiheit von Forschung und Lehre im Umlauf gebracht und von circa 1 500 Hochschullehrern letztendlich mehr als einem Viertel aller Professoren an etwa 30 westdeutschen Hochschulen unterschrieben Statistisch gesehen handelte es sich hierbei uberwiegend um mannliche Hochschullehrer die Anfang des 20 Jahrhunderts geboren waren und massgeblich durch eine preussische Erziehung sowie die Erfahrung der Weimarer Zeit und der Zeit des Nationalsozialismus gepragt wurden Ebenfalls an der Marburger Hochschule wuchs dagegen der Widerstand gegen die Thesen des Manifests und deren mogliche Akzeptanz in der Politik Der Marburger Soziologieprofessor Werner Hofmann sowie Wolfgang Abendroth und andere Hochschullehrer grundeten noch im gleichen Jahr den Bund demokratischer Wissenschaftler BdWi der sowohl die Autonomie der Hochschule sichern als auch die weitere Demokratisierung vorantreiben sollte 1 Im Gegenzug schloss sich ein Grossteil der Unterzeichner des Manifestes im Bund Freiheit der Wissenschaft e V zusammen der 1970 in Bad Godesberg als Reaktion auf die Studentenbewegung gegrundet wurde und sich gegen eine Politisierung der Wissenschaft wandte Der Marburger Jurist Ernst Wolf erwog zudem eine Verfassungsklage gegen die politischen Plane der jedoch keine Chance eingeraumt wurde Abendroth sah in den konservativen Vorurteilen des Manifests einen Widerspruch zum Grundgesetz und Hofmann deutete das Manifest als Schwanengesang der Ordinarienuniversitat das heisst der bis in die fruhen 1970er Jahre traditionell ausschliesslich von den Lehrstuhlinhabern Ordinarien dominierten Universitatsverfassung Letztlich entschied das Bundesverfassungsgericht in einem Grundsatzurteil vom 29 Mai 1973 2 dass eine Strukturierung der Hochschulen nach mitspracheberechtigten Gruppen verfassungsgemass sei und die Wissenschaftsfreiheit nicht automatisch einschranke Damit wurde die Organisationsform der Gruppenhochschule allerdings nur mit einer gleichzeitig verfassungsrechtlich gesicherten Professorenmehrheit im Grundsatz verankert 3 Literatur BearbeitenWortlaut des Marburger Manifestes gegen die Politisierung der Hochschulen Memento vom 4 Juli 2018 im Internet Archive In Blatter fur deutsche und internationale Politik Jahrgang 1968 Heft 8 Hilke Schlaeger Ein Viertel nur In Die Zeit Nr 26 1968 Marburger Manifest Hohe Blute In Der Spiegel Nr 30 1968 online Weblinks BearbeitenMarburger Hochschullehrer beschliessen Manifest gegen studentische Mitbestimmung an den hessischen Universitaten 17 April 1968 Zeitgeschichte in Hessen In Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen LAGIS Einzelnachweise Bearbeiten Torsten Bultmann Protest der Professoren linksnet de 25 Marz 2015 BVerfGE 35 79 Hochschul Urteil vom 29 Mai 1973 Kann die Demokratisierung der Hochschule grundgesetzwidrig sein auf studis online 14 April 2009 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Marburger Manifest amp oldid 238821905