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Die Liman von Sanders Krise auch Liman von Sanders Affare oder Liman Affare war der letzte grosse diplomatische Konflikt vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges Anfang 1913 bat das Osmanische Reich um die Entsendung einer deutschen Militarmission nach Konstantinopel Mit der Leitung dieser Mission betraute man Generalleutnant Otto Liman von Sanders 1 Offiziere der deutschen Militarmission bei der Abreise in die Turkei im Dezember 1913 in der Mitte mit Mutze Otto Liman von Sanders der Leiter der MissionDie russische Administration und der russische Aussenminister Sasonow sahen darin den Versuch einer Einflussnahme auf oder gar Kontrolle der Meerengen Bosporus das Marmarameer und die Dardanellen Diese erlaubten den Zugang vom Schwarzen Meer zur Agais und beruhrten damit unmittelbar strategische Interessen des russischen Reiches da dieses in seinem europaischen Teil unter einem Mangel an eisfreien Hafen mit Zugang zu den Weltmeeren litt Die Regierungen vom Vereinigten Konigreich und von Frankreich sahen in der Entsendung Liman von Sanders samt dessen Stab ebenfalls eine ernste doch keine bedrohliche Angelegenheit da sie selbst uber Militarberater im Osmanischen Reich verfugten England unterhielt eine Marinemission verbunden mit dem Oberbefehl uber die turkische Flotte unter Admiral Arthur Limpus und Frankreich stellte mit General Albert Baumann 1869 1945 den Kommandanten der Gendarmerie 2 3 Inhaltsverzeichnis 1 Vorgeschichte 2 Verlauf 3 Wirkung und Bewertung 4 EinzelnachweiseVorgeschichte BearbeitenDie Niederlage der osmanischen Armee im Balkankrieg 1912 1913 hatte bei den europaischen Grossmachten den Eindruck verstarkt der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches stehe bevor Dadurch drohte an den strategisch wichtigen Meerengen ein Machtvakuum und die Regierungen von Grossbritannien Russland Frankreich sowie des Deutschen Reiches waren bestrebt ihren Einfluss auf die Turkei Dardanellen und Bosporus auszubauen Auch eine Aufteilung des Osmanischen Reiches stand im Raum Aufgrund der militarischen Schwache des Osmanischen Reiches in Folge der Niederlagen in den zuruckliegenden Jahren die die jungturkisch gepragte Regierung in Istanbul durch nachhaltige Reformen und Reorganisationen z B des Militars zu verbessern wunschte wandte sich die Regierung in Istanbul am 22 Mai 1913 mit dem Wunsch einer Militarmission mit weitgehenden Befugnissen offiziell an die Regierung des Deutschen Reiches da bereits seit vielen Jahren immer wieder Militarmissionen von dort ins Osmanische Reich entsandt worden waren Ebenso hat sich das Deutsche Reich bei den anschliessenden Friedensverhandlungen zwischen den Balkanstaaten und dem Osmanischen Reich fur Letzteres eingesetzt Zuvor hatte sich bereits am 3 Januar des gleichen Jahres der neue Istanbuler Aussenminister Gabriel Noradunghian an den Botschafter des Deutschen Reiches in Istanbul Hans von Wangenheim mit der Bitte gewandt dieser moge ihm dem turkischen Aussenminister rasch Kenntnis von Kompetenzen des in griechischen Diensten stehenden franzosischen General Eydoux verschaffen Zwei Tage spater erlauterte von Wangenheim diese Bitte gegenuber seiner Dienstbehorde dem Berliner Aussenministerium mit dem Hinweis die Hohe Pforte turkisches Aussenministerium erwage einen deutschen General als Oberkommandierenden in Friedenszeiten zu erbitten 4 Und im Februar 1913 fuhrte der turkische Grosswesir Mahmud Sehvket dazu aus er beabsichtige eine grosse deutsche Militarmission fur grundlegende Reformen im Stil der Tatigkeit des General Eydoux in Griechenland kommen zu lassen 5 Die Regierung des Deutschen Reiches wollte durch die Entsendung dieser Militarmission die Beratertatigkeit gerade auch nach der Niederlage des Osmanischen Reiches im Balkan Krieg 1912 verstarkt fortsetzen Grunde waren deutscherseits u a das angekratzte Image der deutschen Beratertatigkeit durch die Niederlagen der osmanischen Armee in den vorangegangenen Kriegen sowie die Moglichkeit dem Deutschen Reich damit Einfluss zu sichern den englischen damit vielleicht zu begrenzen und der deutschen Rustungsindustrie Auftrage verschaffen 6 Verlauf Bearbeiten nbsp Karikatur von Gustav Brandt zur Liman von Sanders Krise Ein deutscher Ausbilder bringt dem kranken Mann am Bosporus unter Beobachtung von Englandern Franzosen und Russen den Stechschritt bei Januar 1914 Unmittelbar nachdem Liman von Sanders mit den ersten Offizieren der Militarmission am 14 Dezember 1913 in der damaligen turkischen Hauptstadt Konstantinopel eingetroffen war ubernahm er gemass der per Kontrakt getroffenen Vereinbarung mit dem Osmanischen Reich von Dschemal Pascha das Kommando uber das turkische I Armeekorps dessen Hauptquartier sich am Ort befand 7 Damit war er nicht nur beratend und in der Reorganisation tatig sondern auch Truppenfuhrer und dies in der Metropole an der strategisch bedeutenden Meerenge selbst Liman von Sanders war zuvor fur dieses Kommando eingetreten um mit dem I Korps eine Art Musterkorps als Ausbildungsstatte fur turkische Offiziere in der Hauptstadt zu schaffen 8 Der russische Botschafter de Giers stellte dazu am 13 Dezember 1913 gleichfalls mit dem britischen und franzosischen Botschafter beim Grosswesir eine Anfrage zu Art und Umfang der Mission von Liman von Sanders die der Grosswesir nicht offiziell sondern zwei Tage spater nur offizios beantworten wollte 9 10 Besonders die russische Regierung glaubte z B in der Ernennung eines Deutschen als Korpskommandanten in Istanbul habe sich Deutschland de facto zum Herrn der Situation in Konstantinopel gemacht habe Russland in dieser Beziehung vor eine vollendete Tatsache gestellt 11 Zwei konkrete Umstande neben den Fragen des Prestiges und der Gesichtswahrung erschwerten anscheinend eine Losung So soll sich die jungturkisch gepragte Regierung in Abwehr der Auskunfts und Mitwirkungs Wunsche von Seiten der Administrationen der Triple Entente Staaten Russland Frankreich und Grossbritannien zunachst gegen jede Anderung des Liman Auftrages entschieden haben Weiterhin sollen das deutsche Auswartige Amt und die deutsche Botschaft anfangs vergeblich versucht haben Liman von Sanders davon zu uberzeugen das Kommando uber das I Armeekorps zugunsten einer mit einer Rangerhohung einhergehenden erweiterten Aufgabe z B als Generalinspekteur der turkischen Armee abzugeben 12 Doch Anfang Januar 1914 erfolgte die abrupte Ablosung des verdienten osmanischen Kriegsministers Ahmed Izzet Pascha durch den hiermit zum Generalmajor beforderten 31 jahrigen Jungturken Enver Pascha Dieser enthob umgehend auf rucksichtslose Weise und oftmals politisch motiviert weit uber 200 Offiziere ihrer Funktionen und liess sie teilweise verhaften Gleichzeitig ernannte Enver Pascha ohne Erlaubnis von Liman von Sanders einen deutschen Offizier zum Mitglied im turkischen Generalstab entgegen dem Kontrakt der Militarmission von Liman von Sanders so dass dieser am 8 Januar die Bereitschaft erklarte das Kommando fur das I Armeekorps abzugeben Damit verbunden erwartete er eine Rangerhohung und eine neue Aufgabe was schon Ende 1913 zur Losung des Problems von Seiten der deutschen Politik formuliert worden war Entsprechend beforderte der deutsche Kaiser am 14 Januar 1914 Liman von Sanders vorzeitig zum deutschen General und damit kontraktgemass zum osmanischen Marschall wodurch dieser das Kommando uber das I Armeekorps in turkische Hand ubergeben konnte stattdessen aber zum Generalinspekteur der osmanischen Armee ernannt wurde 13 Die diplomatische Krise aus der sich keine unmittelbare Kriegsgefahr ergab konnte zwar durch dieses Nachgeben seitens des Deutschen Reiches beigelegt werden die Beziehungen zwischen der russischen und deutschen Regierung waren aber nachhaltig gestort Zwar hatten die militarische und politische Fuhrung in Berlin auf das von Russland beanstandete Kommando verzichtet doch war ihr Ruckzug ohne bedeutenden Prestige oder Machtverlust innerhalb des Osmanischen Reiches gelungen so dass die Regierung in St Petersburg und die Entente dem eigentlichen Ziel einer Entkraftung der deutschen Militarmission und des deutschen Einflusses in der Meerenge kaum naher gekommen waren Fur das Ansehen der Militarmission war allerdings ungunstig gewesen dass zeitnah jene Turkei interne Militarkrise stattgefunden hatte in der im Januar 1914 die abrupte Ablosung des verdienten osmanischen Kriegsministers Ahmed Izzet Pascha durch den hiermit zum Generalmajor beforderten Enver Pascha erfolgt war und Enver sogleich viele Offiziere entlassen hatte Wirkung und Bewertung Bearbeiten nbsp Liman von Sanders Pascha als turkischer Oberbefehlshaber im Ersten Weltkrieg 1916 Zuweilen wurde in der Vergangenheit die Frage aufgeworfen ob die Tatigkeit der deutschen Militarmission womoglich den Ausbruch des Ersten Weltkrieges begunstigt habe Die Aussicht einer effektiven Reorganisation des osmanischen Militars konnte vielleicht zu einer erhohten Kriegsbereitschaft der russischen Regierung gefuhrt haben da fur sie die Meerengen strategische Bedeutung hatten Im April Mai und Juni 1914 wurden in Russland umfangreiche Probemobilisierungen durchgefuhrt 14 Christopher Clark zufolge zeigte die Krise wie kriegerisch die Denkweise einiger russischer Politiker inzwischen geworden war 15 Fur die russische Fuhrung war die Kontrolle uber die Meerengen erklartes Ziel Ihre Politik war daher auf Destabilisierung des Osmanischen Reiches und gegen eine Starkung desselben durch eine Reorganisation des Heeres angelegt Die britische Regierung hatte sich zum Zeitpunkt der Liman Krise selber umfangreicher in der Turkei engagiert So kommandierte seit 1912 der britische Admiral Limpus die turkische Flotte und reorganisierte die turkische Marine Anfang Dezember 1913 war weiterhin ein Vertrag zwischen einem britischen Werftenverbund und der Turkei geschlossen worden der den Neubau und die Erhaltung von Docks Arsenalen und Werften fur die turkische Marine vorsah Zugleich konnte die turkische Regierung dank franzosischer Finanzierung zwei moderne grosse Kriegsschiffe in Grossbritannien bestellen und bauen lassen 16 17 18 Entsprechend folgte die britische Regierung den Forderungen von Aussenministers Sasonow des Triple Entente Partner Russland insgesamt eher zogerlich bis bremsend Die Regierungen Frankreichs hatten sich hauptsachlich wirtschaftlich im Osmanischen Reich engagiert und waren Hauptglaubiger des bankrotten Staates Sie waren insoweit an einer Stabilisierung desselben interessiert wie dies fur Frankreichs wirtschaftliche Betatigung und fur die Ruckzahlung der Schulden notig war konnte aber kein Interesse daran haben dass ihr Einfluss weiter zugunsten der deutschen Administration sank Frankreich war zudem offizielle Schutzmacht der Katholiken im Osmanischen Reich und besonders in Syrien engagiert Die politische Fuhrung des Deutschen Kaiserreiches war angesichts der etwas politisch isolierten Stellung in Europa an politischen und militarischen Beziehungen zum Osmanischen Reich interessiert Auch erhoffte man sich durch den Bau der Bagdadbahn trotz vieler Hindernisse einen gewissen zukunftigen politischen Einfluss im Osten des Reiches Die deutsche Militarmission setzte sich nicht aktiv fur das Zustandekommen eines deutsch osmanischen Waffenbundnisses ein und war tatsachlich trotz ihrer politisch motivierten Berufung nicht politisch tatig 19 Zwar war die Mission deutscherseits eine wichtige Bedingung fur eine deutsch osmanische Waffenallianz doch blieb die Verbindlichkeit des Bundnisses nahezu bis in die letzten Wochen vor Kriegseintritt des Osmanischen Reiches gering Selbst der geheime osmanisch deutsche Vertrag vom 2 August 1914 hatte die Osmanen noch nicht zwingend auf eine Koalition mit den Mittelmachten festgelegt 20 In Anbetracht der generellen Interessenlage der Machte und speziell der europaischen Bundniskonstellation vor Beginn des Weltkrieges kann somit geschlossen werden dass die Tatigkeit der Militarmission selbst oder gar die Ubernahme des I Armeekorps durch Liman von Sanders nicht zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges beigetragen haben Die jungturkische Fuhrung wenn auch vom Deutschen Reich zur Eile gedrangt 21 22 schloss sich den Mittelmachten aus eigenem Interesse an und verfolgte damit selbstandige Ziele Eine Kontrolle der Deutschen uber die Meerengen hat nie bestanden 23 und war zumindest seitens der Militarmission auch nicht angestrebt worden Einzelnachweise Bearbeiten Otto Liman von Sanders Funf Jahre Turkei Scherl Berlin 1920 S 10 f Liman von Sanders S 23 25 Alan Palmer Verfall und Untergang des Osmanischen Reiches Heyne Munchen 1994 engl Original London 1992 S 320 Die Grosse Politik der Europaischen Kabinette 1871 1914 38 Band Neue Gefahrenzonen im Orient 1913 1914 Berlin 1926 S 193 195 u a Botschafter von Wangenheim in Istanbul am 21 Januar 1913 Heinz A Richter Der Krieg im Sudosten Band 1 Gallipoli 1915 Verlag Franz Philipp Rutzen Ruhpolding und Harrasowitz Verlag Wiesbaden 2013 S 37 PELEUS Studien zur Archaologie und Geschichte Griechenlands und Zyperns Band 65 Jehuda L Wallach Anatomie einer Militarhilfe Die preussisch deutschen Militarmissionen in der Turkei 1835 1919 Droste Verlag Dusseldorf 1976 S 121 125 Liman von Sanders S 14 Joseph Pomiankowski Der Zusammenbruch des Ottomanischen Reiches Erinnerungen an die Turkei aus der Zeit des Weltkrieges Amalthea Wien 1928 S 36 f British Documents on the Origins of the War 1898 1914 Vol X PART I THE NEAR AND MIDDLE EAST ON THE EVE OF WAR London 1936 S 379 Nr 426 Die Grosse Politik der Europaischen Kabinette 1871 1914 38 Band S 250 251 So der russische Ministerprasident Kokowzow gegenuber dem deutschen Botschafter in Petersburg am 12 Dezember 1913 Die Grosse Politik der Europaischen Kabinette 1871 1914 38 Band S 248 Jehuda L Wallach Anatomie einer Militarhilfe S 142 143 Die Grosse Politik 38 Band S 290 291 Pomiankowski S 37 f Christopher Clark Die Schlafwandler Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog Deutsche Verlagsanstalt Munchen 2013 S 447 449 Jost Duffler Martin Kroger Rolf Harald Wippich Hrsg Vermiedene Kriege Deeskalation von Konflikten der Grossmachte zwischen Krimkrieg und Erstem Weltkrieg 1856 1914 Oldenbourg Verlag Munchen 1997 S 663 664 British Documents on the Origins of the War 1898 1914 Vol X PART I S 361 362 Nr 407 Heinz A Richter Der Krieg im Sudosten Band 1 Gallipoli 1915 S 33 Liman von Sanders S 11 Palmer S 322 Pomiankowski S 85 Liman von Sanders S 34 f Shaw Stanford J amp Ezel Kural Shaw Reform Revolution and Republic The Rise of Modern Turkey 1808 1975 in Shaw Stanford Jay History of the Ottomoman Empire and Modern Turkey 2 S I XXV 1 518 Cambridge University Press Cambridge et al 1977 ISBN 0 521 21449 1 ISBN 0 521 29166 6 S 308 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Liman von Sanders Krise amp oldid 235272032