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Das Liberum Veto lateinisch veto ich verbiete war ein Einspruchsrecht im polnischen Adelsparlament dem Sejm Dort hatte jeder Abgeordnete ab dem 17 Jahrhundert das Recht sein Veto einzulegen da Entscheidungen einstimmig gefallt werden mussten In diesem Fall wurden samtliche zuvor gefallenen Entscheidungen der Sejmsitzung ungultig Inhaltsverzeichnis 1 Geschichte 2 Wertung 3 Literatur 4 EinzelnachweiseGeschichte BearbeitenBereits seit dem letzten Viertel des 16 Jahrhunderts gingen Sejmy ohne Beschlusse auseinander wenn eine Minderheit allen oder auch nur einer der geplanten Beschlussvorlagen ihre Zustimmung verweigert hatte In der ersten Halfte des 17 Jahrhunderts lasst sich beobachten dass die Zahl der Abgeordneten die erforderlich waren um einen Sejm auf diese Weise zu sprengen immer kleiner wurde Am 8 Marz 1652 kam es schliesslich zum ersten Fall bei dem nachweislich der Einspruch eines einzigen Abgeordneten ausreichte um die Beschlussfassung zu blockieren Konig Johann II Kasimir hatte angesichts der grossen Zahl an Problemen den Antrag gestellt die Sitzungsdauer des Sejms zu verlangern Der Landbote Wladyslaw Sicinski erhob dagegen Einspruch und verliess den Saal und den Tagungsort weswegen der Einspruch nicht wie in fruheren Fallen mit Uberredung oder Gewalt beseitigt werden konnte Daraufhin wurde der Protest als gultig betrachtet und der Sejm galt als zerrissen und alles Verhandelte als unerledigt 1 Im November 1669 wurde der erste Reichstag noch vor Ablauf der ordentlichen Sitzungsfrist durch das Veto eines einzelnen Landboten Adam Olizar Unterrichter und Delegierter aus Kiew zerrissen Andere Beispiele fur diese Situation sind die Jahre 1750 und 1752 2 Die durch diese Prazedenzfalle geschaffene Verfassungsklausel wirkte sich in den folgenden Jahrzehnten negativ auf die politische Praxis in Polen aus Das liberum veto wurde in der rechtmassigen Anwendung zumindest nicht seinem Missbrauch als ein altes Privileg des Ritterstandes gegen die Anspruche der Machtigen angesehen das im Bewusstsein der Adelsnation einen so hohen rechtlichen Eigenwert besass dass man es keinesfalls preisgeben wollte Angesichts der fundamentalen Krise der Gutswirtschaft und der erodierenden wirtschaftlichen Basis des kleinen und mittleren Landadels szlachta zagonowa szlachta czastkowa szlachta wurde es aber seit der 2 Halfte des 17 Jahrhunderts auch zu einem Rechtsinstrument der machtigen Magnatenfamilien oligarchia magnacka zur Wahrung ihrer Vorteile gegenuber der Krone und der Masse des Landadels zum Beispiel hinsichtlich der Lastenverteilung bei der Finanzierung notwendiger Reformen Ebenso war es ein Ausdruck des Partikularismus 3 der grossen Magnatengeschlechter die ihre Lokalpolitik auf den Landtagen Sejmik uber die von ihnen abhangigen und z T auch entlohnten Bruder und Nachbarschaften des Landadels festlegen und so die Reichstage steuern bzw zerreissen lassen konnten Das wurde dadurch begunstigt dass viele regionale Probleme Beschwerden uber Amtstrager z B gemass der Verfassung allein vom Reichstag entschieden werden durften und damit einen umfangreichen Pool gultiger Einspruchsmoglichkeiten darstellten 4 Bis 1788 wurden auf diese Weise 53 Reichstage zerrissen Unter Michael Wisniowiecki reg 1669 1674 waren es drei von funf Reichstagen und unter Johann III Sobieski reg 1674 1696 funf von elf Reichstagen die zerrissen wurden 5 Von den siebenunddreissig Reichstagen der Sachsenzeit kamen nur zwolf zu einem Beschluss 5 Unter August III reg 1733 1763 konnte in den Jahren nach 1736 uberhaupt kein Reichstagsbeschluss mehr gefasst werden 6 Diese Besonderheit der politischen Ordnung wurde von den polnischen Magnaten Parteien und von Polens Nachbarstaaten Russland Preussen usw ausgenutzt um Reformvorschlage der Gegenpartei und unliebsame Beschlusse im Sejm zu blockieren indem sie einzelne Landboten fur sich gewannen Frankreich gab am meisten Geld fur eine derartige Einmischung aus denn Polens direkte Nachbarn hatten noch andere Machtmittel zur Erpressung zur Verfugung Speziell standen sich seit den zwanziger Jahren des 18 Jahrhunderts die Familie bzw das Haus Czartoryski und die Potocki gegenuber Der Aufstieg der Czartoryski erfolgte durch die Forderung des sachsischen Hofes der sich davon eine leichtere Durchsetzung seiner Politik insbesondere die Sicherung der polnischen Krone fur das Haus Wettin erhoffte Ihre Gegner und die in der Gunst des Hofes ubergangenen Magnaten scharten sich dann um die Potocki und bildeten eine etwa gleich starke Gegenpartei Patrioten Republikaner Beide Parteien unterhielten eigene Kontakte ins Ausland wobei sich die Czartoryski auf die Unterstutzung durch Russland 7 und die Potocki auf die Frankreichs orientierten Das gesteigerte Bewusstsein des Adels fur die massiven innen und aussenpolitischen Probleme Polens fuhrte dann zur Zeit von August III zu einer Fulle von Reformvorschlagen beider Parteien die allesamt scheiterten 8 Trotz der anhaltenden Kritik an der Behinderung der Reichstage riet aber seit der ersten Halfte des 17 Jahrhunderts kaum einer der Verfassungstheoretiker zur Einschrankung des liberum veto geschweige denn zu seiner Abschaffung Stanislaw Konarski 1700 1773 war in den 1740er Jahren der erste Kritiker mit dem Ziel einer grundlegenden Verfassungsreform Grundsatzlich war es auch trotz aller Rivalitaten schwer einen Reichstag zu zerreissen Der Unruhestifter wurde stets bedroht und es wurde versucht ihn zur Diskussion und zur Aufgabe seiner Blockadehaltung zu zwingen so dass er nach der Registrierung seines Protestes z B den Beratungen einfach fernblieb Das entsprechende Vorgehen bedurfte der Ruckendeckung durch eine Magnatenpartei und andere Landboten so dass hierbei verschiedene Taktiken zur Anwendung kamen Haufig verzogerte man die Verhandlungen durch polemische Attacken oder fadenscheinige Zusatzantrage zu Belanglosigkeiten wahrend die Gegenpartei einfach mit der sofortigen Annahme oder Entkraftung dieser Antrage konterte und so ein direktes Zerreissen des Reichstages im Sinne des Prazedenzfalles zu verhindern suchte Aber letztlich wurden durch neue eingeschrankte Vetos 9 immer neue Hemmnisse geschaffen so dass die Verhandlungen ergebnislos endeten ohne dass man allzu offenen Rechtsbruch beging oder die Schuld bei Einzelpersonen suchen konnte Selbst bei einem gunstigen Reichstagsverlauf entfachte man spatestens zum Abschluss der Beratungen unter Wahrnehmung des Rechts der freien Stimme eine unkontrollierte Diskussion bei der es dann zu keiner Unterschriftsleistung der Deputierten kam In der Folge stagnierte der politische Verkehr im Land bzw drehte sich um hochst rudimentare und wenig durchdachte Reformvorschlage oder wurde von einer Atmosphare der Gewalt z B auf den Landtagen nach dem Scheitern des Krontribunals in Petrikau 1749 begleitet Das Scheitern der Reichstage forderte auch den Amtsmissbrauch da die Minister keine Rechenschaft ablegen mussten Nach 1764 wurde das liberum veto angesichts der zunehmenden Auflosung des Staates nicht mehr angewendet Die Wahl des Konigs Stanislaus II erfolgte uber einen Konfoderationsreichstag bei dem die Stimmenmehrheit ausreichte und das liberum veto umgangen wurde 10 Versuche zur Beschneidung der Adelsmacht bzw zur Abschaffung des liberum veto zogen aber diplomatische und militarische Interventionen durch die Nachbarlander nach sich Mitunter wurden in diesem Zusammenhang auch Redeverbote im Reichstag verhangt was dann als Stummer Sejm bezeichnet wurde Die Einfuhrung des Mehrheitsprinzips durch die Verfassung vom 3 Mai 1791 fuhrte direkt zu einem Russisch Polnischen Krieg Wertung BearbeitenDas Liberum Veto ist unterschiedlich gewertet worden Der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel sah einen nicht vernunftigen Gebrauch der Freiheit die wilde bzw negative Freiheit wie sie sich im Liberum Veto zeige eine Hauptursache fur den Verfall Polens im 18 Jahrhundert 11 Der britische Historiker Norman Davies nennt den haufigen Gebrauch des Liberum Veto seit der Regierungszeit Johanns III Sobieski als einen Grund warum sich Polen von seinen diversen Ruckschlagen und Niederlagen nicht erholte 12 Der australische Politikwissenschaftler John Keane bezeichnet das Liberum Veto als Revolte gegen die Prinzipien der reprasentativen Demokratie die mit einem Pyrrhussieg geendet habe Die Handlungsunfahigkeit der aristokratischen Demokratie die das Liberum Veto mit sich brachte rief die benachbarten Grossmachte auf den Plan die die polnische Freiheit in den polnischen Teilungen zunichtemachten 13 Die deutschen Historiker Jorg K Hoensch und Alfons Bruning sehen es positiver Sie bezeichnen das LiberumVeto als Werkzeug gegen eine Diktatur der Mehrheit 14 bzw als Mittel zur Wiederherstellung der Machtbalance und insbesondere gegen die Tyrannei einer machtigen Mehrheit 15 Der Schweizer Philosoph Jean Jacques Rousseau 1712 1778 kam in seinen Considerations sur le gouvernement de Pologne 1772 zu einer differenzierten Bewertung Ausgehend von seiner Identitaren Demokratietheorie lobte er grundsatzlich das Einstimmigkeitsprinzip wenn es um die Grundlagen des Staates ging Dadurch wird man die Verfassung so solide und diese Gesetze so unabanderlich machen wie es nur moglich ist Gleichzeitig kritisierte er den Sejm dass er nicht zwischen Souveranitats und Regierungshandeln unterschied Fur letzteres hatte man besser die einfache oder eine qualifizierte Mehrheit zulassen sollen da Polen von Feinden umgeben und daher entschiedenes Regierungshandeln notwendig sei 16 Literatur BearbeitenManfred Alexander Kleine Geschichte Polens Bundeszentrale fur Politische Bildung Schriftenreihe Bd 537 Bundeszentrale fur politische Bildung Bonn 2005 ISBN 3 89331 662 0 Hans Roos Standewesen und parlamentarische Verfassung in Polen 1505 1772 In Dietrich Gerhard Hrsg Standische Vertretungen in Europa im 17 und 18 Jahrhundert Veroffentlichungen des Max Planck Instituts fur Geschichte Bd 27 Studies presented to the International Commission for the History of Representative and Parliamentary Institutions Bd 37 2 unveranderte Aufl Vandenhoeck amp Ruprecht Gottingen 1974 ISBN 3 525 35332 4 S 310 366 hier S 363 ff Michael G Muller Polen zwischen Preussen und Russland Souveranitatskrise und Reformpolitik 1736 1752 Einzelveroffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin Bd 40 Publikationen zur Geschichte der deutsch polnischen Beziehungen Bd 3 Colloquium Verlag Berlin 1983 ISBN 3 7678 0603 7 Zugleich Frankfurt am Main Universitat Dissertation 1977 Carmen Thiele Regeln und Verfahren der Entscheidungsfindung innerhalb von Staaten und Staatenverbindungen Staats und kommunalrechtliche sowie europa und volkerrechtliche Untersuchungen Springer Berlin u a 2008 ISBN 978 3 540 78994 9 Zugleich Frankfurt Oder Europa Universitat Habilitations Schrift 2007 Einzelnachweise Bearbeiten Manfred Alexander Kleine Geschichte Polens 2005 S 128 Michael G Muller Polen zwischen Preussen und Russland Souveranitatskrise und Reformpolitik 1736 1752 Colloquium verlag Berlin 1983 S 130 Carmen Thiele Regeln und Verfahren der Entscheidungsfindung innerhalb von Staaten und Staatenverbindungen 2008 S 40 Vgl Michael G Muller Polen zwischen Preussen und Russland Souveranitatskrise und Reformpolitik 1736 1752 Colloquium Verlag Berlin 1983 S 141 a b Jerzy Lukowski Hubert Zawadzki A concise history of Poland 2nd edition Cambridge University Press Cambridge u a 2006 ISBN 0 521 85332 X S 90 f Michael G Muller Polen zwischen Preussen und Russland Souveranitatskrise und Reformpolitik 1736 1752 Colloquium Verlag Berlin 1983 S 37 Dem innenpolitischen Ansehen der Familie und des Hofes schadete dabei der wiederholte Durchmarsch russischer Truppen ohne Genehmigung des Reichstages speziell wenn sie z B 1738 in den sudostlichen Provinzen Schaden anrichteten Siehe zum Weiteren Michael G Muller Polen zwischen Preussen und Russland Souveranitatskrise und Reformpolitik 1736 1752 Colloquium Verlag Berlin 1983 Wirkungsvolle Vetos betrafen z B die Absetzung eines angeblich widerrechtlich ernannten Deputierten 1740 und 1748 Selbstbezichtigung der Bestechlichkeit durch Preussen bei gleichzeitiger Beschuldigung anderer Deputierter 1744 Neufestsetzung regionaler Tarife und das Verbot der Tagung bei Kerzenlicht 1746 Die Vetos zwangen die Landbotenkammer nicht zur sofortigen Auflosung sondern unterbrachen nur die Verhandlungen und verurteilten zur Passivitat bis der Einspruch beseitigt werden konnte Hinter den Vetos stand auch nicht immer eine der konkurrierenden Parteien 1752 ging die Initiative von dem Schatzkanzler aus der furchtete fur Amtsmissbrauch zur Verantwortung gezogen zu werden Vgl Die Werke Friedrichs des Grossen In deutscher Ubersetzung hrsg von Gustav Berthold Volz 10 Bde Hobbing Berlin 1913 f 5 Band Altersgeschichte Staats und Flugschriften S 9 Roman Kozlowski Hegel uber Polen und die Polen In Hegel Jahrbuch 2000 S 215 218 Norman Davies Im Herzen Europas Geschichte Polens Vierte durchgesehene Auflage Beck Munchen 2006 S 276 John Keane The Life and Death of Democracy Simon and Schuster London 2009 S 257 263 Jorg Konrad Hoensch Sozialverfassung und politische Reform Polen im vorrevolutionaren Zeitalter Bohlau Wien Koln Weimar 1973 Seitenzahl fehlt Alfons Bruning Unio non est unitas Polen Litauens Weg im konfessionellen Zeitalter 1569 1648 Harrassowitz Verlag Wiesbaden 2008 S 87 f De cette maniere on rendra la constitution solide amp ces loix irrevocables autant qu elles peuvent l etre Jean Jacques Rousseau Considerations sur le gouvernement de Pologne In Derselbe Collection complete des œuvres de J J Rousseau s n 1782 Tome premier Contenant les ouvrages de Politique Kap 2 online auf Wikisource Zugriff am 16 August 2020 zitiert nach Melissa Schwartzberg Voting the General Will Rousseau on Decision Rules In Political Theory 36 No 3 2008 S 403 423 hier S 415 ff Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Liberum Veto amp oldid 234202404