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Lebensrisiko oder allgemeines Lebensrisiko ist ein unbestimmter Rechtsbegriff der alle Gefahren beschreibt die zu rechtlich relevanten Nachteilen fur Menschen fuhren konnen und nicht durch gesetzliche oder vertragliche Haftungsnormen geschutzt werden Der Begriff wird auch in der sozialpolitischen Diskussion verwendet Inhaltsverzeichnis 1 Allgemeines 2 Entstehung 3 Kasuistik der Lebensrisiken 4 Arten 4 1 Reiserecht 4 2 Sozialversicherung 5 Abgrenzung zur hoheren Gewalt 6 EinzelnachweiseAllgemeines BearbeitenDer Mensch ist im gesellschaftlichen Zusammenwirken aber auch bei Einwirkungen von Umwelt und Natur einer Vielzahl von Risiken ausgesetzt denen er sich selbst bei grossten eigenen und fremden Anstrengungen nicht vollstandig entziehen kann Diese Gefahren konnen und sollen nicht durch das allgemeine Haftungsrecht auf andere uberwalzt werden so dass hieraus resultierende Schaden vom Einzelnen zu verantworten und zu tragen sind Ein grosser Teil dieser Schadensrisiken ist noch nicht einmal versicherbar lediglich ein geringer Teil hiervon wird durch Sozial Versicherungssysteme abgedeckt wodurch die sozialpolitische Komponente des Lebensrisikos in den Vordergrund ruckt Schaden aus dem Lebensrisiko sind ein Teil der Selbstvorsorge 1 Vom Grundsatz her ist die individuelle Schadigung in bestimmten Fallen auszugleichen das wird von entsprechenden Haftungsnormen sichergestellt Das allgemeine Lebensrisiko indes weist die Haftung anderer Personen zuruck und uberlasst sie dem Geschadigten Beim Lebensrisiko liegt zwar ein haftungsbegrundendes Handeln des Schadigers vor seine Schadenshaftung wird jedoch verneint 2 Das allgemeine Lebensrisiko ist somit ausnahmsweise ein Rechtsgebiet bei dem jemand haftungsverursachend handelt aber dennoch nicht dafur einstehen muss Entstehung BearbeitenDer Bundesgerichtshof hat erstmals in seinem Urteil vom 22 April 1958 das allgemeine Lebensrisiko behandelt ohne jedoch den Begriff zu erwahnen Hierin ging es um die Gefahr in ein Strafverfahren hineingezogen zu werden 3 Der Unfallgeschadigte wurde schuldlos in einen Verkehrsunfall verwickelt und wollte seine Anwaltskosten vom Schadiger wegen unerlaubter Handlung zuruckverlangen 823 Abs 1 BGB Dieses jedermann treffende Risiko in ein Strafverfahren verwickelt zu werden und deshalb Kosten fur die Verteidigung aufbringen zu mussen gehore dem BGH zufolge nicht zu den Gefahren die dieses Schutzgesetz abwenden will In die rechtswissenschaftliche Literatur wurde der Begriff des allgemeinen Lebensrisikos ersichtlich von Hermann Lange erst im Jahre 1960 in einem Gutachten fur den 43 Deutschen Juristentag eingefuhrt 4 Matthias Madrich hat das allgemeine Lebensrisiko schliesslich dogmatisch erfasst 5 Erwin Deutsch 6 hat den Sachstand zum Thema im Zusammenhang mit dem Risikobegriff untersucht Diesen rechtswissenschaftlichen Werken zum allgemeinen Lebensrisiko ist gemeinsam dass weite Bereiche des Alltags erfasst werden in denen der Zufall eine Rolle spielt Kasuistik der Lebensrisiken BearbeitenZum Kernbereich des Lebensrisikos gehoren die Teilnahme am allgemeinen Verkehr Schadigungen durch Umweltbelastungen und Gegebenheiten der Natur das Auftreten von Mangeln in der Privatsphare aber auch die Verwicklung in rechtsstaatliche Verfahren Diese Verfahren sind sozialadaquat also praktisch unvermeidlich und zumutbar 7 In einer Vielzahl von weiteren Entscheidungen haben der BGH und unterinstanzliche Gerichte auch andere Lebenssituationen wie etwa die Gefahr mit unberechtigten Anspruchen konfrontiert zu werden zu den allgemeinen Lebensrisiken gerechnet 8 Beispielhafte Urteile Die Unsicherheiten der Natur spielten eine Rolle als ein Polizist einen Straftater verfolgt dabei auf feuchtem Rasen ausrutscht und sich einen Muskelriss zuzieht Hierin sah der BGH keine Kausalitat und ordnete den Fall als allgemeines Lebensrisiko ein 9 Losen Tiere bei Menschen panisches Verhalten aus so fallen daraus resultierende Schaden ebenfalls in den Bereich des Lebensrisikos Das Oberlandesgericht Karlsruhe wies die schockbedingten Sturzverletzungen einer Frau durch den plotzlichen Anblick einer grossen Spinne dem allgemeinen Lebensrisiko zu 10 Das Landgericht Aachen geht davon aus dass im Fruhjahr und Sommer die Gefahr von Bienen oder Wespenstichen allgegenwartig ist und deshalb zum allgemeinen Lebensrisiko gehort 11 Verletzt sich jemand durch Sturz in einer Hoteldusche so tragt er den Schaden im Rahmen des Lebensrisikos selbst allgemein sei schliesslich bekannt dass Duschraume die mehreren Personen zuganglich seien erhohte Rutschgefahren aufwiesen 12 Fallt ein alterer Mensch nachts im Krankenhaus aus dem Bett und verletzt sich dabei haftet der Krankenhaustrager nur dann wenn das Pflegepersonal seine Aufsichtspflichten verletzt hat wurden die Aufsichtspflichten nicht verletzt und fallt dennoch jemand aus dem Bett liegt ein allgemeines Lebensrisiko vor 13 Die Eltern und deren sozio okonomische Verhaltnisse gehoren grundsatzlich zum Schicksal und Lebensrisiko eines Kindes 14 Arten BearbeitenNach Madrich sind zwei allgemeine Fallgruppen zu systematisieren 15 Gefahrdungen die als solche eine bestimmte gerade vom haftungsbegrundenden Ereignis veranlasste Verhaltensweise des Geschadigten einschliessen und die Moglichkeit rechtlich relevante Nachteile zu erleiden die allgemein im Leben von jedermann in den jeweiligen Sozialisations und Zivilisationsformen auftreten konnen Umstritten ist ob das allgemeine Lebensrisiko ein negatives Zurechnungsmoment darstellt oder ein Bestandteil der Theorie vom Schutzbereich der Norm ist 16 Fehlt es am Schutzbereich haftungsbegrundender Normen ist Raum fur das allgemeine Lebensrisiko das im menschlichen Zusammenleben eine grundlegende Risikozumessung zur Folge hat Der aus einem Lebensrisiko entstandene Schaden kann folglich nie in den Schutzbereich irgendeiner Haftungsnorm fallen Reiserecht Bearbeiten Wichtiges Anwendungsgebiet ist das Reiserecht Hier soll das allgemeine Lebensrisiko die Haftung des Reiseveranstalters ausschliessen Drei Hauptfalle konnen unterschieden werden Reiseunfalle die der privaten Risikosphare des Reisenden zuzurechnen sind unterliegen dem allgemeinen Lebensrisiko Der Reiseveranstalter haftet dementsprechend nur dann bei Reiseunfallen wenn diesen ein eigenes Organisationsverschulden trifft 17 Wetter oder Witterungsbedingungen losen keine Haftung des Reiseveranstalters aus Sie gehoren als unplanbare Naturentwicklungen zu den Lebensrisiken Der Reiseveranstalter haftet ebenso nicht bei Diebstahl und Uberfallen allerdings weist der BGH bei Vorliegen erheblicher Gefahren fur den Reisenden auf die Informationspflicht des Veranstalters hin Fur Schaden die aufgrund des allgemeinen Lebensrisikos wahrend einer Urlaubsreise eintreten wird deshalb auch selbst dann nicht gehaftet wenn sie im Zusammenhang mit einem haftungsbegrundenden Ereignis eintreten 18 Verwirklicht sich die Unfallgefahr indem sich auf einem unbekannten Weg durch die Dunkelheit ein Sturz auf einem Wiesengelande ereignet gehort dies zum privaten Unfall und Verletzungsrisiko des Reisenden und stellt ein naturliches Lebensrisiko dar das Falle umfasst mit deren Auftreten auch im privaten Alltag gerechnet werden muss und die nicht reisespezifisch sind 19 Die Grenzen im Rahmen der Witterungsbedingungen liegen fur das Lebensrisiko dort wo bei einem Hurrikan schon eine Eintreffwahrscheinlichkeit von 1 4 eine erhohte Gefahrdung der Reisenden darstellt und deshalb nicht mehr unter das allgemeine Lebensrisiko fallt jedenfalls wenn sie sich bereits zu einer Vorwarnung konkretisiert habe Ein Kundigungsrecht der Reisenden und dementsprechend eine Hinweispflicht des Veranstalters bestehe deshalb schon dann wenn mit dem Eintritt des schadigenden Ereignisses mit erheblicher und nicht erst mit uberwiegender Wahrscheinlichkeit zu rechnen sei 20 Kriminelle Handlungen im Urlaubsgebiet stellen grundsatzlich keinen Reisemangel dar sondern gehoren zum allgemeinen Lebensrisiko jedes Reisenden Dementsprechend mussen bestohlene Urlauber die wirtschaftlichen Folgen eines Diebstahls selbst tragen Reisende die in ihrem Urlaubshotel von Raubern uberfallen werden haben in der Regel keinen Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld gegen den Reiseveranstalter wenn das Hotel dem allgemeinen Sicherheitsstandard entspricht 21 Sozialversicherung Bearbeiten Im Sozialstaat soll die Gesamtheit staatlicher Einrichtungen Steuerungsmassnahmen und Normen dazu eingesetzt werden um das Ziel zu erreichen Lebensrisiken und negative soziale Folgewirkungen abzufedern 22 Grund fur das Haftungsrecht im Rahmen der Sozialversicherung ist der Rechtsgrundsatz des casum sentit dominus wonach jeder sein allgemeines Lebensrisiko selbst zu tragen hat Fur die gesetzliche Anordnung einer Pflichtversicherung ist Voraussetzung dass es den potenziell Geschadigten nicht auf zumutbare Weise moglich ist sich der drohenden Gefahr zu entziehen und sie zudem als besonders schutzbedurftig und wurdig einzustufen sind 23 Mit einer Pflichtversicherung wird letztlich eine Staatshaftung vermieden dabei ist zwingend der Bedarf zu versichern den das allgemeine Lebensrisiko letztlich hervorruft 24 Die Pflichtversicherung ist dann dort gesetzlich anzuordnen 25 wo eine Gefahr besteht die das allgemeine Lebensrisiko erheblich ubersteigt bei einem erheblichen Teil der Schadensfalle die Gefahr besteht dass der Haftpflichtige wirtschaftlich nicht in der Lage ist die Schaden ohne Versicherung zu tragen der Kreis der moglichen Geschadigten wegen seiner sozialen Schutzbedurftigkeit gesetzliche Schutzmassnahmen rechtfertigt Die Abdeckung eines Teils der der Selbstvorsorge unterliegenden Lebensrisiken wird deshalb durch bestimmte Pflichtversicherungen gewahrleistet Zu den elementarsten sozialen Lebensrisiken gehoren Krankheit Unfalle und Altersvorsorge Deshalb gibt es entsprechende Pflicht Eigenversicherungen Sozialversicherung gesetzliche Krankenversicherung Unfallversicherungen Pflegeversicherungen und Altersvorsorge Der Versicherungszwang der Sozialversicherung legt nicht nur fest welche Lebensrisiken in welcher Form abgesichert werden mussen sondern auch bei wem die Versicherung erfolgen muss 26 Im Unfallversicherungsrecht wird auf diese Weise insbesondere die Absicherung von allgemeinen Lebensrisiken erreicht die keinem anderen Versicherungsschutz unterstehen wurden Das Risiko der Pflegebedurftigkeit wurde aufgrund des Alterungsprozesses der Bevolkerung von einem Einzelschicksal zu einem allgemeinen Lebensrisiko welches aufgrund der veranderten familiaren Strukturen anders als fruher im Regelfall nicht mehr in der Familie bewaltigt werden kann Die offentliche Diskussion uber eine bessere soziale Absicherung bei Pflegebedurftigkeit begann 1974 mit einem Gutachten des Kuratoriums Deutsche Altershilfe uber die stationare Behandlung von Krankheiten im Alter dem 1976 die ersten Vorschlage des Deutschen Vereins fur offentliche und private Fursorge sowie ein Vorschlag der Arbeiterwohlfahrt folgten 27 Die Gefahr dass ein Geschadigter einen Schadensersatzanspruch gegen eine andere Person hat deren Vermogen jedoch zum Ausgleich des Schadens nicht ausreicht stellt ihrerseits ein Lebensrisiko des Geschadigten dar Abgrenzung zur hoheren Gewalt BearbeitenDie Abgrenzung zur hoheren Gewalt fallt manchmal schwer Im Reiserecht kann die Abgrenzung anschaulich verdeutlicht werden Beginnt kurz nach Reisebuchung oder gar wahrend der Reise ein Burgerkrieg im Reisegebiet Sri Lanka 28 so liegt ein Fall der hoheren Gewalt vor weil er als nicht vorhersehbares Ereignis einzustufen ist Fur hohere Gewalt gibt es Schadensteilung denn kundigungsbedingte Mehrkosten sind jeweils zur Halfte vom Reisenden und Reiseveranstalter zu tragen 651j BGB sodass der Veranstalter eine positive Haftungsbegrenzung erfahrt Dauert der Burgerkrieg jedoch bereits seit geraumer Zeit an kann nicht mehr von einem unvorhersehbaren Ereignis gesprochen werden so dass sich der Reiseveranstalter durch eindeutige Informationen vor Gewahrleistungsanspruchen schutzen kann 29 Reist jemand in Kenntnis des Krieges in derartige Zielgebiete verwirklicht er ein allgemeines Lebensrisiko und tragt die moglicherweise auftretenden Schaden selbst Einzelnachweise Bearbeiten BGH Urteil vom 7 Juni 1988 Az VI ZR 91 87 Volltext BGHZ 104 323 328 Thomas M J Mollers Rechtsguterschutz im Umwelt und Haftungsrecht 1996 S 79 BGH Urteil vom 22 April 1958 Az VI ZR 65 57 NJW 1958 1041 f im Verkehrslexikon Hermann Lange Begrenzung der Haftung fur schuldhaft verursachte Schaden A53 1960 S 148 f Matthias Madrich Das allgemeine Lebensrisiko 1980 S 22 ff Erwin Deutsch in Festschrift fur Gunther Jahr 1993 S 251 ff Stefan Witschen Schadensverteilung im allgemeinen Haftungsrecht 2010 S 45 BGH Urteil vom 12 Dezember 2006 Az VI ZR 224 05 Volltext BGH Urteil vom 13 Juli 1971 Memento des Originals vom 7 Juli 2014 im Internet Archive nbsp Info Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht gepruft Bitte prufe Original und Archivlink gemass Anleitung und entferne dann diesen Hinweis 1 2 Vorlage Webachiv IABot eventlaw com Az VI ZR 165 69 Leitsatz NJW 1971 1982 OLG Karlsruhe Urteil vom 24 Juni 2009 Az 7 U 58 09 Volltext Spinne in Tiefgarage gehort zum Lebensrisiko Westfalische Nachrichten vom 21 Juli 2009 abgerufen am 14 August 2019 LG Aachen Urteil vom 8 Juli 2005 Az 5 S 24 05 Volltext LG Koblenz Urteil vom 26 September 2007 Az 12 S 83 07 V Pressemitteilung OLG Schleswig Holstein Urteil vom 6 Juni 2003 Az 4 U 70 02 Bericht BVerfG Beschluss vom 29 Januar 2010 Az 1 BvR 374 09 Volltext Matthias Madrich Das allgemeine Lebensrisiko 1980 S 38 40 Stefan Witschen Schadensverteilung im allgemeinen Haftungsrecht 2010 S 44 Klaus Tonner Der Reisevertrag 2000 S 110 111 s o BGH Urteil vom 13 Juli 1971 Az VI ZR 165 69 NJW 1971 1982 1983 LG Koln Urteil vom 20 November 2007 Az 37 O 157 07 Volltext BGH Urteil vom 15 Oktober 2002 Az X ZR 147 01 Volltext OLG Munchen Urteil vom 8 Juli 2004 Az 8 U 2174 04 Kurzdarstellung Frank Nullmeier Handworterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Herausgeber Bundeszentrale fur politische Bildung Katharina Hedderich Pflichtversicherung 2011 S 198 Katharina Hedderich Pflichtversicherung 2011 S 419 Hamburger Gesellschaft zur Forderung des Versicherungswesens mbH Pflichtversicherung Segnung oder Sundenfall 2004 S 7 Katharina Hedderich Pflichtversicherung 2011 S 118 BVerfG Beschluss vom 3 April 2001 Az 1 BvR 2014 95 in BVerfGE 103 197 ff OLG Dusseldorf Urteil vom 15 Februar 1990 Az 18 U 225 89 NJW RR 1990 573 1 2 Vorlage Toter Link ftp fh heilbronn de Fachhochschule Heilbronn Nadja Nettingsmeier Juliana Walther Das allgemeine Lebensrisiko im Reisevertragsrecht 2003 S 22 Seite nicht mehr abrufbar Suche in Webarchiven Bitte den Hinweis zu Rechtsthemen beachten Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Lebensrisiko amp oldid 228851026