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Hungerkunstler waren Schausteller die Ende des 19 und Anfang des 20 Jahrhunderts in Europa als offentliche Attraktion uber einen langeren Zeitraum fasteten das Eintrittsgeld der Besucher war die Gage des Hungernden Die bekanntesten dieser Schausteller veranstalteten regelrechte Tourneen quer durch Europa und erlangten auf Grund der Berichterstattung in den Zeitungen grossere Popularitat Ende der 1920er Jahre liess das Interesse am Schauhungern jedoch deutlich nach Hungerkunstlerin Hella Latonia 1910 Einige dieser Schausteller gaben an uber ubernaturliche Krafte zu verfugen und so den Hunger und das Bedurfnis nach Nahrung uberwinden zu konnen was das starke offentliche Interesse an ihnen erklart Bis ins 20 Jahrhundert hinein war nicht bekannt dass jeder Mensch der freiwillig fastet nach einigen Tagen weniger Hungergefuhle spurt und der Korper Hormone ausschuttet die einen leichten Rauschzustand Hungereuphorie erzeugen so dass Fastende im Gegensatz zu unfreiwillig Hungernden psychisch deutlich weniger leiden auch wenn die korperlichen Krafte kontinuierlich nachlassen 1 Inhaltsverzeichnis 1 Geschichte 2 Betrugsfalle 3 Sonstiges 4 Zitat 5 Literatur 6 Weblinks 7 EinzelnachweiseGeschichte BearbeitenDer Beginn dieses Phanomens lasst sich den Quellen zufolge exakt auf das Jahr 1880 datieren als der amerikanische Arzt Henry Tanner eine Wette abschloss dass er es schaffen werde 40 Tage lang vollig auf Nahrung zu verzichten und lediglich Wasser zu trinken Er war davon uberzeugt dass es moglich sei durch Fasten verschiedene Krankheiten zu heilen Ausserdem wollte Tanner die Kraft des menschlichen Willens demonstrieren der in der Lage sei naturliche Triebe zu uberwinden Sein Experiment fand in der Clarendon Hall in New York City statt wo er Tag und Nacht uberwacht wurde Im Laufe der 40 Tage kamen tausende von zahlenden Besuchern um den so genannten Hungerdoktor zu sehen Nach diesem publikumswirksamen und auch finanziellen Erfolg wiederholte Tanner die freiwillige Hungerkur noch mehrere Male 2 Die Nachricht vom Schauhungern Tanners wurde auch in Europa verbreitet und nicht zuletzt die Verdienstmoglichkeit fuhrte dazu dass sich einige Jahre spater erste Nachahmer fanden deren Hungern zunachst auch auf reges Interesse von Medizinern stiess In den ortlichen Zeitungen erschienen wahrend der festgelegten Zeit des Hungerns tagliche Berichte uber den Zustand des Hungerkunstlers Die bekanntesten Vertreter dieser Kunst waren im 19 Jahrhundert Giovanni Succi und Wilhelm Bode alias Ricardo Sacco Succi trat im Sommer 1886 in Mailand auf und es kamen sogar Schaulustige aus dem Ausland um ihn zu sehen 3 1888 hungerte er in Florenz quasi auch fur wissenschaftliche Zwecke unter Beobachtung eines Arzteteams einen Monat lang Die gewonnenen Erkenntnisse wurden in Buchform veroffentlicht und auch ins Deutsche ubersetzt Luigi Luciani Das Hungern Studien und Experimente am Menschen 3 Im Jahr 1905 trat in Wien die erste Hungerkunstlerin auf die Schauspielerin Auguste Victoria Schenk Sie wollte Riccardo Sacco der kurz zuvor 21 Tage lang in einem Kaffeehaus im Wiener Prater gefastet hatte ubertreffen und hielt 23 Tage lang durch In einer Wiener Zeitung wurde der Einbruch einer Frau in eine Mannerdomane spottisch kommentiert Der Concurrenzkampf tobt auf allen Gebieten menschlichen Lebens die Frau ist in vielen Berufsclassen zur gefurchteten Rivalin des Mannes geworden und nun haben die weiblichen Emancipations Geluste sogar die brotloseste aller Kunste die Hungerkunst die bisher von Mannern allein ausgeubt wurde streitig gemacht Frau Auguste Victoria Schenk eine ehemalige Tragodin ist die kuhne Dame die es unternommen hat zu beweisen dass auch das schwache Geschlecht unter Umstanden einen starken Magen hat 3 Tatsachlich waren uber einen langeren Zeitraum fastende Frauen nichts Neues uber solche Falle war seit der fruhen Neuzeit immer wieder berichtet worden allerdings traten sie nicht als Schaustellerinnen auf sondern wurden mit religiosen Wundererscheinungen verglichen Der Erste Weltkrieg bedeutete ein vorlaufiges Ende der Hungerkunst in Europa die in den 1920er Jahren aber erneut belebt wurde Im Jahr 1926 loste der deutsche Hungerkunstler Jolly mit seinem Auftritt in Berlin einen wahren Boom aus nachdem er im Fruhjahr mit 44 Tagen einen Hungerrekord aufgestellt rund 350 000 Besucher angelockt und etwa 130 000 Reichsmark entspricht in heutiger Kaufkraft ca 560 000 kassiert hatte 3 Vor allem in Berlin und in Wien versuchten sich fast gleichzeitig mehrere Nachahmer von denen einige ihre Versuche vorzeitig abbrachen Max Michelly stellte in diesem Jahr einen neuen Rekord mit 54 Tagen Fasten auf Danach ebbte das offentliche Interesse etwas ab der Zweite Weltkrieg bedeutete im Prinzip das Ende dieser Form der Schaustellerei Ein Deutscher namens Heros hungerte jedoch noch 1950 53 Tage lang offentlich im Frankfurter Zoo 4 Betrugsfalle BearbeitenDer prominente Hungerkunstler Giovanni Succi logierte auf seinen ersten Schautourneen noch komfortabel in einem Hotelzimmer wo er auch die zahlenden Besucher empfing und nahm sogar an offentlichen Veranstaltungen teil Er wurde taglich von Arzten untersucht und sein Zimmer wurde angeblich standig bewacht in erster Linie aber wohl von Hotelpersonal Und so gab es von Anfang an auch offentliche Spekulationen daruber ob bei der Hungerkunst auch alles mit rechten Dingen zugehe oder ob dabei Betrug und Tauschung im Spiel sei die Kunstler also gar nicht wirklich hungerten sondern es nur vorgaben Tatsachlich wurden mehrere Falle von Betrug bekannt auch bei den prominenten Vertretern So kam es nach dem 30 tagigen Schaufasten von Succi im April 1896 in Wien zu einem kleinen Skandal als nach der offentlichen Erklarung des arztlichen Uberwachungskomitees die den Versuch als erfolgreich bezeichnete bekannt wurde dass Succi am 25 Tag in seinem Hotelzimmer beim Verzehr eines Beefsteaks uberrascht worden war Um sein Ansehen zu wahren korrigierte das Komitee die offizielle Angabe der Fastenzeit auf 25 Tage 3 Ob Succi in dieser Zeit tatsachlich durchgangig gefastet hatte blieb offen Der wiederholt auch in den Zeitungen geausserte Verdacht es werde betrogen fuhrte zu einer Standardisierung des offentlichen Schauhungerns Nachdem der Schausteller offentlich zum letzten Mal vor dem Fasten eine Mahlzeit eingenommen hatte wurde er in einem komplett durchsichtigen Glaskasten eingeschlossen der vorher offentlich besichtigt worden war was als Einmauerung bezeichnet wurde In dem Kasten befanden sich einige Mobel darunter ein Sofa ein Bett und ein Sessel 3 Doch auch diese Verscharfung der Bedingungen liess noch Moglichkeiten die Offentlichkeit zu tauschen vor allem in der Nacht Auch der angebliche Hungerrekordler Jolly wurde im Nachhinein als Scharlatan entlarvt der von Aufsehern heimlich Schokolade zugesteckt bekommen hatte Andere Schausteller wurden nachts mit Huhnerbruhe oder mit Malzzucker versorgt 3 Das Bekanntwerden dieser Betrugereien trug zur nachlassenden Popularitat des Schauhungerns bei Sonstiges BearbeitenIm Jahr 2003 trat der Aktionskunstler David Blaine als Hungerkunstler auf und verbrachte 44 Tage ohne feste Nahrung in einem Glaskasten der in London uber der Themse aufgehangt wurde Das offentliche Interesse war mit dem an den fruheren Hungerkunstlern vergleichbar jedoch waren die Reaktionen weit kritischer Blaine nahm in dieser Zeit rund 25 Kilogramm ab und wurde danach im Krankenhaus behandelt Der Schriftsteller Franz Kafka schrieb 1922 seine sarkastische Erzahlung Ein Hungerkunstler in der sein Protagonist am Ende in seinem Kafig im Zirkus vergessen wird und stirbt Kafka litt selbst zumindest zeitweise unter Essstorungen und war uberdies an vielen Phanomenen des Varietes und der Schaustellerei interessiert In der Literaturwissenschaft hat man deshalb Vermutungen angestellt dass Giovanni Succi ein Modell fur Kafkas Hungerkunstler gewesen sein konnte 5 Viel eher jedoch kommt der Fastenlehrer Arnold Ehret 1856 1922 in Frage der am 26 Juni 1909 sich in Koln zu einem 51 tagigen Fastenversuch einschliessen liess In einer Glaszelle zur offentlichen Besichtigung ausgestellt verbrachte er 49 Tage ohne Nahrung und stellte damit einen neuen Weltrekord auf Er kam vom Monte Verita wo er 1912 eine Schule fur leibliche und geistige Diatetik eroffnete Kafka war an lebensreformerischen Praktiken sehr interessiert besuchte zwischen 1903 und 1915 eine Reihe von einschlagigen Kuranstalten und hatte gern einen eigenen Naturheilverein gegrundet Berichte von der Aufsehen erregenden Schaustellung Ehrets in einem Glashaus werden ihm nicht entgangen sein Zitat Bearbeiten In Deutschland ist man gegen Hungerkunstler die nicht durchhalten wollen weit unerbittlicher als gegen Fursten die wahrend des Weltkriegs noch ganz anderes zu sich genommen haben als Biomalz und die Zuschauer noch ganz anders betrogen haben Karl Kraus Schriftsteller Literatur BearbeitenPeter Payer Hungerkunstler in Wien Eine verschwundene Attraktion Verlag Sonderzahl Wien 2002 Walter Vandereycken Ron van Deth Hungerkunstler Fastenwunder Magersucht Eine Kulturgeschichte der Essstorungen Bearbeitet und ubersetzt von Rolf Meermann Zulpich 1990 und Munchen 1992 Walter Bauer Wabgnegg Monster und Maschinen Artisten und Technik in Franz Kafkas Werk In Wolf Kittler Gerhard Neumann Hrsg Franz Kafka Schriftverkehr Freiburg 1990 S 316 382 Ausfuhrliche Darstellung der Hungerkunst im Jahrmarkt und Variete Milieu auf S 372 380 Gottfried Fischborn Hungerstreikende und Hungerkunstler als Akteure neuzeitlicher Theatralitat In G F Politische Kultur und Theatralitat Aufsatze Essays Publizistik Peter Lang Verlag Frankfurt am Main 2012 ISBN 978 3 631 63251 2 Thorsten Carstensen und Marcel Schmid Hg Die Literatur der Lebensreform Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900 Bielefeld 2016 Weblinks BearbeitenPeter Payer Die brotloseste aller Kunste Jurgen Braunlein Reinigung von Korper und Geist Geschichte des Fastens Foto von Giovanni Succi Ich will so leiden wie ich bin Artikel von Katja Iken auf Der Spiegel Online Eines TagesEinzelnachweise Bearbeiten Gerald Huether Neurobiologische Effekte und psychische Auswirkungen des Fastens Enrico Danieli Fasten als Freakshow Memento vom 28 September 2007 im Internet Archive a b c d e f g Wiener Zeitung Peter Payer Die brotloseste aller Kunste Memento vom 9 Dezember 2010 im Internet Archive 16150g Krondorfer In Berliner Zeitung 13 Mai 2002 abgerufen am 15 Juni 2015 Astrid Lange Kirchheim Nachrichten vom italienischen Hungerkunstler Giovanni Succi Neue Materialien zu Kafkas Hungerkunstler In Freiburger literaturpsychologische Gesprache Jahrbuch fur Literatur und Psychoanalyse Band 18 Grossenphantasien Wurzburg Konigshausen amp Neumann 1999 S 315 340 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Hungerkunstler amp oldid 239076839